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Zur Historie der Reform
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Fritz Koch
07.01.2005 16.02
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Sind "Genie", "Garage", "Manege" usw. wirklich noch Fremdwörter?

Meiner Meinung nach sind es deutsche Wörter geworden.
Das bedeutet, daß ein zusätzliches Zeichen für das „deutsche weiche [sch]" benötigt wird.
(Für das weiche [dsch] braucht man dann kein eigenes Zeichen.)

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Theodor Ickler
07.01.2005 10.01
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Titel neu

Mein Originaltitel war allerdings, wie gesagt, „Orthographie als Entdeckungsverfahren“.
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Th. Ickler

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Fritz Koch
07.01.2005 08.21
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Ich möchte auf den Vortrag von Prof. Ickler hinweisen,

den er unter dem Titel

„Der diskrete Charme der Orthographie“

dem SWR gegeben hat und der bei

http://www.fds-sprachforschung.de

nachlesbar ist.

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Theodor Ickler
07.01.2005 06.37
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Nichts Wichtigeres

Wir kennen das Argument: „Gibt es nichts Wichtigeres, als sich über die RSR aufzuregen?“ Solange die Reformer noch um ihr Projekt bangen mußten, gab es nichts Wichtigeres als die Rechtschreibreform. Die Stuttgarter Empfehlungen von 1954 schlossen mit den Worten:
„Eine weitere Verschiebung der Reform – das haben die Tagungen in Konstanz, Salzburg, Schaffhausen und Stuttgart klar ergeben – ist nicht mehr möglich; es könnte sonst der Augenblick kommen, in dem Teile der deutschen Sprachgemeinschaft ihre eigenen Wege gehen müßten, und dadurch könnte die geistige Stellung Mitteleuropas ernstlich erschüttert werden.“
Es hat dann doch noch 40 Jahre gedauert, und Mitteleuropa ist nicht untergegangen. Man sollte ab und zu an diese Rhetorik erinnern.
__________________
Th. Ickler

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Reinhard Markner
17.09.2004 09.38
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In historisch-kritischen Ausgaben wird die Originalschreibung respektiert, sonst nicht.

Erfolgreich war der Widerstand gegen die dänische Reform von 1948 nur auf dem Gebiet der Städtenamen, „Aabenraa“, „Aalborg“, „Aarhus“ sind mittlerweile auch offiziell wieder zugelassen.

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Rolf Genzmann
17.09.2004 00.28
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Stöcklein, Kleinschreibung in der Hand der Großplaner

Stöcklein und Dänemark
Seit der Einführung der Kleinschreibung lesen die Dänen insgesamt also langsamer als vorher;
die stärkste Tempoverminderung ist bei den Bildungsbenachteiligten und Ungebildeten eingetreten, schrieb Stöcklein 1974 in dieser Dokumentation.
„Es herrscht dort ein Kompromiß. Zwar wird dort seit langem sehr viel klein gedruckt, natürlich die Zeitung und das Schulbuch, aber es denkt dort im Ernst fast niemand daran, Andersens „Gesammelte Märchen“ oder Kierkegaards „Werke“ klein zu drucken, sie werden normal neu aufgelegt; ....“
Ob das heute, nach dreißig Jahren, auch noch so ist?
Weiß hier jemand zufällig darüber Bescheid?

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Rolf Genzmann

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Fritz Koch
16.09.2004 15.54
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Ein Aspekt, der bei Germanisten zu kurz kommt:

Beim Lesen geht es nicht nur um allgemeine, sondern auch um berufliche Bildung. Jeder Entwickler in der Industrie weiß, daß in möglichst kurzer Arbeits- oder Freizeit möglichst viel Fachliteratur überflogen werden muß, um aus deren Masse wichtige Fachaufsätze herauszufiltern. Der Umfang der Fachliteratur wird immer größer, und die zu ihrem Lesen zu Verfügung stehende Zeit immer geringer. In der Industrie muß ganz bedeutend mehr Fachliteratur gelesen als geschrieben werden.
Auch bei der beruflichen Aus- und Weiterbildung muß ganz bedeutend viel mehr Fachliteratur gelesen als geschrieben werden und das in möglichst kurzer Zeit.
Den Politikern muß daher ganz drastisch gesagt werden:
Jede Leseerschwerung der Fachliteratur durch eine Rechtschreibreform schädigt den Entwicklungs- und Wirtschaftsstandort Deutschland und das berufliche Ausbildungsniveau.

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Fritz Koch
16.09.2004 15.40
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Wichtige Sätze aus Paul Stöcklein, Kleinschreibung:

„Der Kampf gilt dem Leser.“
„Seit fast 100 Jahren ist das Schnell-und-gut-lesen-Können Voraussetzung.“
„Jede Leseerschwerung, jede geringste Senkung des Lesetempos ist Informationsminderung.“
„Die Bedeutung des Schnellesenkönnens nimmt seit langem stetig zu.“
„Rechtschreibreformen sind nichts anderes als die modernen Scheiterhaufen der Literatur.“

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Karin Pfeiffer-Stolz
16.09.2004 14.38
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Kleinschreibung in der Hand der Großplaner
(dritter und letzter Teil)

Dänemark

Man wird mir erwidern, daß ich ständig voraussetze, daß sich in der Lesepraxis beträchtliche Veränderungen nach der Einführung des Kleindrucks vollziehen würden. aber wird man denn nicht, so sagt man, in der Zeitung durch unwillkürliche Vereinfachung, durch Vermeidung von Schachtelsätzen, durch entsprechendes Layout dafür sorgen, daß die kleine Leseerschwerung sich wieder voll aufhebt? Und wie war es denn in Dänemark, wo die Kleinschreibung nach dem letzten Krieg stufenweise eingeführt wurde? Ich beginne mit Dänemark.
Es herrscht dort ein Kompromiß. Zwar wird dort seit langem sehr viel klein gedruckt, natürlich die Zeitung und das Schulbuch, aber es denkt dort im Ernst fast niemand daran, Andersens „Gesammelte Märchen“ oder Kierkegaards „Werke“ klein zu drucken, sie werden normal neu aufgelegt; genauer: Heute denkt niemand mehr im Ernst daran, weil zum Beispiel der Philosoph unverständlich, jedenfalls leseschwierig würde an unzähligen Stellen; man hat das ausprobiert.

Der Gebildete ist also auf zwei Systeme eingespielt. Das geht in den meisten Föllen gut. Aber bei bestimmten psychischen Verfassungen, bei Modeanfälligkeit, treten Aversionen und kleine Fixierungen auf. „Es sind Erfahrungen“, so erzählt mir in diesen Tagen ein dänischer Kollege, „wie Sie sie wohl selbst aus jener Zeit kennen, da in Deutschland die Fraktur abgeschafft und die Antiqua eingeführt wurde. Es gibt Leute, die kaufen dann partout kein altmodisches Buch mehr.“ Es entstehe manchmal eine kleine irrationale Schwellenangst vor dem „abgestandenen Alten“. Und wie steht es mit dem Zeitungslesen, wollte ich wissen, ist die Geschwindigkeit nicht herabgesetzt? „Sicher, es geht nicht mehr ganz so schnell, trotz so langjähriger Übung, trotz Einspielung von Zeitung und Leser aufeinander, ist eine Tempoverminderung eingetreten, und zwar bei jung und alt, gebildet und ungebildet, stärker natürlich bei den Ungebildeten oder Bildungsbenachteiligten.“ Er bestritt natürlich nicht die Schreiberleichterung im Ganzen, die ihm aber mit der Leseerschwerung etwas zu teuer bezahlt scheint; erst recht gälte dies fürs Deutsche! Er ist Germanist, er meint, daß das immer noch abstrakter werdende Deutsch mit seinen Nominalisierungen, mit seinen Schachtelsätzen und vor allem mit der freien Wortstellung im Satz ein ungünstigeres Objekt für die Kleinschreibung darstelle als andere Sprachen. Wie es fast alle Ausländer tun, begrüßte er die Großschreibung (Leseerleichterung); ich darf mir dieses allgemeinere Urteil erlauben, da ich mehr als zehn Jahre die Ausländerferienkurse der Universität Frankfurt gleitet habe.

Aus Menschenfreundlichkeit

Ich höre fragen (kleingedruckt könnten es sogar „Fragen“ sein): „Nun gut, aus Menschenfreundlichkeit haben es die Dänen gewagt. Wir müssen es wieder und besser wagen. Sind wir nicht, nach den letzten Jahrzehnten, im Besitz besonderer didaktischer Errungenschaften?“
Antwortend darf ich zunächst korrigieren: Die Dänen haben aus politischen Gründen den Schritt getan. Zwecks stärkerer Eingemeindung in die nordische Sprachwelt, stärkerer Abgrenzung vom Deutschen. Aber es steckt die richtige Frage darin: Was würden Schule und Presse tun, um dem Publikum die Leseerschwerung womöglich zu löschen? Was könnten überhaupt die Auswirkungen sein?

Zunächst die Presse. Ich beginne mit einer harmlosen Veranschaulichung. Nehmen wir an, daß ein zu Schachtelsätzen neigender Leitartikler plötzlich Schachtelsätze von Marx zitieren muß, die zudem die recht deutschen substantivierten philosophischen Adjektiva enthalten (das Wirkliche, das Vernünftige usw.) Dem Leser und dem Marx zuliebe wird der Redakteur den Marx-Satz wohl altmodisch setzen. Oder?
Es ist natürlich nicht nur der Periodenbau. Günter Herburger hat auf eine Umfrage in der „SZ“ am 17. November 1973 geantwortet: „ ... Ich zögere. Plötzlich bilde ich mir ein, daß dann mein Handwerkszeug, die Sprache, ein wenig stumpfer geworden wäre ... Kleingeschrieben würden sich zum Beispiel die „Bezüge“ zwischen Haupt- und Eigenschaftswörtern ändern. Man müßte dann die deutschen Sätze ein wenig anders bauen, um sie verständlich zu halten.“ Ich bedaure, die überraschungsreiche Glosse Herburgers nicht in toto bringen zu können und möchte nur darauf aufmerksam machen, wie Herburger hier die Sprache ebenso im Hör- wie im Sehraum lokalisiert und die Schrift eben nicht nur für so eine Art Notenschrift hält, sonst könnte er es nicht für möglich halten, daß durch Schriftänderung die Sprache selbst, sein „Handwerkszeug“, vielleicht stumpfer werden könnte. (Rundfrageantworten von Schriftstellern stehen in der „SZ“ am 13. Oktober und 17. November 1973, in der „Welt“ mehrmals kurz. – Wer übrigens Thomas Manns, Hesses und Dürrenmatts Ansichten zur Kleinschreibung, das heißt zu dem vom heutigen nur leise abweichenden Projekt von 1954, kennenlernen will, schlage die „Weltwoche“, Jahrgang 1954, auf: drei scharfe Ablehnungen. Sie sind allerdings durch L. Weisgeber etwas relativiert worden in: Die Verantwortung für die Schrift. 1964. Ganz ohne Änderung der Syntaxgewohnheiten und der Wortwahl wird es nicht abgehen. Aber man kann das alles vielleicht in der Schwebe lassen. Die wirkliche und unvermeidbare Gefahr taucht erst noch auf.

Sie ist vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels angedeutet worden. Ich muß weiter ausholen und folge zunächst dem Bericht über die Resolution dieses Vereins („Frankfurter Neue Presse“ vom 7. Juni 1973): „Änderungen der Schriftsprache sollen erst dann eingeführt werden, wenn stichhaltige Untersuchungen über das Verhältnis von Schreiben und Lesen sowie über die Bedeutung der Differenzierungshilfen in gedruckten und geschriebenen Texten überzeugende Ergebnisse erbracht hätten ... Dieser Resolution haben sich die Vorstände des Hauptverbandes des österreichischen Buchhandels und des Schweizerischen Buchhändler- und Verleger-Vereins angeschlossen.“ Diesem Bericht hat in eben dieser Zeitung Dieter Hoffmann folgenden Kommentar angefügt: „Die Buchhändler ahnen, daß eine radikale Veränderung der Rechtschreibung bei möglichen künftigen Lesern eine Schwellenangst vor jener Literatur aufbauen würde, die bis zum Zeitpunkt der Reform gedruckt wurde ... Soll lebendige Literatur als tote Literatur in Magazinen vergraben werden? ... Schließlich sollten auch die Schriftsteller ihre Stimme erheben; denn die politisch oder sektiererisch angeheizten Rechtschreibreformen sind nichts anderes als die modernen Scheiterhaufen der Literatur.“ Es sind Gedanken, die ich bei fast allen erfahrenen Büchermachern ähnlich gefunden habe. ... Öfter wird auf die Erfahrungen hingewiesen, die man mit der unerwartet aufgetauchten Schwellenangst vor der Fraktur gemacht habe, als die Mehrzahl der Leser die kürzlich verordnete Antiqua schick und „auf der Höhe der Zeit“, sachlicher, einfacher und schließlich „eben üblich“ und somit „richtig“ gefunden und sich an sie gewöhnt hatte. [Eine Parallele zur heutigen Heysesche s-Laut-Schreibung!] Nichts gegen die Antiqua! Ich meine halt die winzige Testerfahrung. Ich nenne sie winzig, weil ich sie mit der großen sanften Aberziehung der Leselust überhaupt vergleiche, die heute bevorstehen könnte: Das Alte wird archaisch werden und das Neue fad, weil sich eben das Lesetempo reduziert.

Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung (Darmstadt) hat dreimal recht, wenn sie an die Kultusminister schreibt: „ ... Eine verläßliche Untersuchung über die Leserichtigkeit und Leseleichtigkeit steht noch aus“ und wenn sie vor jedem schnellen Schritt warnt. Das „Verläßliche“ ist übrigens nicht so leicht zu erreichen. Es wird viele Untersuchungen geben, und viele Ergebnisse werden uns verwirrend bedrängen. Augen- und Ohrenmenschen erleben ja so verschieden, natürlich auch hier – um nur zwei Gruppen zu nennen. Um zwei faszinierende Nebengruppen anzufügen: Die Legastheniker, die immer zahlreicher werden – würden sie so furchtbar getroffen werden, wie man sagte? Wie gut, daß ausgesprochene Musikernaturen zwar auch „getroffen“ werden könnten, aber in einem Punkte „modern“ ohnedem sind: verständnisvoll nämlich für Georges (und anderer Lyriker) Kleindruck, weil sie ihn, mit Recht, als etwas der Melodielinie Dienliches verstehen. Kleine Nebenprobleme, wie gesagt; denn solche Lyriklektüre ist zehntausendmal seltener als Zeitungslektüre. Am Ende aller Untersuchungen – zum Herbst 1974 sollen die Grundschulen die Kleinschreibung haben, so forderte mit verdächtiger Eile der genannte Kongreß – steht die wichtigste aller Fragen: Wie würde sich die Kleinschreibung in der Hand unserer Lehrer gestalten? Da kann man glücklicherweise (für Hessen, wo ich lebe) schon heute manches sagen: Wir kennen die verständliche Neigung der Lehrer zu der Unterrichtserleichterung, die die Kleinschreibung bedeutet (das Schnellesen spielt ja an der Schule eine unvergleichlich geringere Rolle); wir kennen die weitgehende Radikalisierung vieler Lehrer. Man kann wohl voraussagen, daß all die vielen mehr oder minder progressistischen Lehrer Opas Zeiten schrecklich schön schildern werden, wo es ein aufstiegshemmender Makel war, die schikanöse Großschreibung und überhaupt „die Sprache der Herrschenden“, das heißt Hochsprache, nicht perfekt zu beherrschen (Rahmenrichtlinien). Die unausgesprochene Verachtung für alle großgedruckten Bücher aus der Zeit der Unterdrückung wird das Kind leicht übernehmen, besonders, wenn man ihm recht klarmacht, wie „sinnlos schwer“ damals das Schreiben gewesen sei. [Man beachte wiederum die Parallelen zur heutigen Pseudoerleichterung durch die ss-Schreibung!] Wenn es die Kinder dann, spätestens in der Pubertät, zu durchschauen beginnen, wird es zu spät sein; die Leselust wird noch bei einem Teil der Jugendlichen geweckt werden können.
Mein Fazit ist dasselbe wie das der genannten Akademie: Experimente, deren Risiko nicht abzusehen ist, darf man nicht beginnen!

Die hinderliche Literatur

Rückblick und Schlußfolgerung: Hinderlich ist der „Leser“. Schon der Zeitungsleser. Hier wird vermutlich eine Strategie entwickelt: Wenn es gelänge – es ist eine praxisanregende Utopie –, jeden Text zu einem Augenpulver und jedes Lesen zu einem Rätsellösen, einem Lesepuzzle zu machen, dann würde jede Zeitung ungelesen den Händen entsinken. Und wenn die Lust, die identifikatorische Lust an der Hochsprache richtliniengetreu sänke, so stürzte die Leserei bald nach.

In der Bundesrepublik hat sich neuerdings gezeigt, daß die Presse minder leicht zu unterwandern war als das Fernsehen. [Seit 1999 stimmt das leider nicht mehr ...] Und das Jahr 1973 hat eine nie vorhergesehene Entfremdung zwischen zahlreichen Zeitungsredakteuren und der Partei des Kanzlers gebracht (dazu etwa Bucerius in der „Zeit“ vom 14. Dezember). Eine breite pädagogische Front sucht nun den „Leser“, der so hindurch werden wird, zu schwächen. Nicht so den Fernseher. Auf verschiedenen Wegen. Ein Weg ist die Kleinschreibung.

Hinderlich ist die Literatur. Das ist das zweite strategische Feld. Ich bitte zu glauben, daß Golo Mann recht hat, wenn er sagt: „Die Literatur, versichert man uns, erhalte in den Rahmenrichtlinien nur einen neuen Stellenwert. Den erhält sie: im Mülleimer“ (SZ, 2. Juni 1973). Von den Planern wird klar gesehen, wie gefährlich heute Literatur für jedwedes eingleisig Sozialistische auf dem ganzen Erdboden wird. Die „Gefährlichkeit“ liegt in der vielleicht entsolidarisierenden, individuierenden, erotisierenden und gewissenerweckenden Wirkung auf den Leser; fast hätte ich gesagt: noch ganz abgesehen vom Inhalt – der übrigens auch so selten mit dem offiziellen Denken und seiner Amtsstuben- oder Kasernenluft in Einklang steht. Literatur ist eben entweder gute oder offizielle. „Die Dichter versuchen es, dem Menschen andere Augen einzusetzen ... Darum sind sie eigentlich staatsgefährliche Elemente, denn sie wollen ändern ...“ So Kafka zu Janouch (Taschenbuchausgabe S. 98). Ein klassisches Wort, man mag über Janouchs Zuverlässigkeit urteilen, wie man will.

Vielleicht gelingt einmal die ganz zeitgemäße, die perfekte, geruchlose Bücherverbrennung, die niemand merkt, weil es nicht einmal eine Zensur gegeben hat. Die Bücher bleiben. Der Inhalt ist herausgezaubert. Alle Literatur erlischt dem, dessen geistiges Leseorgan ertaubt.
Lesen verlangt Konzentration, Stille, fast Einsamkeit. In Hessen entstehen Schulhäuser mit einem „Großraum“, in dem soundso viele Klassen, nur durch Stellwände (schalldurchlässig) getrennt, sich befinden, ein großer Fortschritt, wie wir im Fernsehen erfahren. Der Bremer Universitätsrektor weist (rechtsverbindlich) Professoren aus ihren Dienstzimmern in einen paritätischen Großraum mit 760 Plätzen, der ein paar Binnenwände hat, die aber für Licht und Laut keine Schranke aufrichten, die der Transparenz widerspräche.

In den hellen Räumen solch milder Wohlfahrts- und „Erziehungsdemokratur“ (wie der spottlustige Wiener das ihm zugedachte Schwedische Modell manchmal nennt) gedeihen Mächte, die uns der erwähnten Ertaubung und Entpersönlichung näherführen können.
Auch wer die Kleinschreibung für gefahrlos hält sollte bedenken, daß sie von solchen Mächten gefährlich in Dienst genommen werden kann. Die historische Stunde ist aber anders als damals, als die Wiesbadener Empfehlungen das Licht der Welt der fünfziger Jahre erblickten, jene Empfehlungen, deren Verwirklichung heute zu etwas ganz anderem führen würde, als damals denkbar war.

-ENDE-
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Karin Pfeiffer-Stolz

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Karin Pfeiffer-Stolz
16.09.2004 13.27
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Kleinschreibung in der Hand der Großplaner
(Teil 2)

Argumente und Vorwände

Eine Regierung, die so hilflos begründet und sogar die Gastarbeiter bemüht, muß etwas anderes vorhaben. Hilflos ja auch der Dudenvertreter; denn wenn Kinder sinnloserweise nicht aufrücken können, dann sollte doch der Staat die Schulordnung eher als die Druckordnung zu ändern beginnen, die uns alle betrifft. Ich habe eine Vermutung geäußert. Ich kann mich nur verdeutlichen, indem ich zunächst auf jene ernst zu nehmende „Erwägung“ zugunsten der Kleinschreibung zurückgreife – weil nur wirkliche Argumente in die Sache führen und die Vorwände enthüllen.

Meine Antwort beginnt mehr historisch. Gewiß ist man auch im Biedermeier recht lesefreudig gewesen, aber seit etwa hundert Jahren gibt es dazu noch ein neues Lesen. Seit der Jahrhundertwende oder kurz vorher gibt es die große Presse; sie wurde zu einer Informationsgrundlage für den politisch Verantwortungsbewußten, der seine Nase in mehrere Zeitungen steckte. Politisch mündig wird man selbst heute nicht ohne Zeitunglesen – so unentbehrlich auch der Bildschirm wird. Das heißt: Seit fast hundert Jahren ist das Schnell-und-gut-lesen-Können Voraussetzung, erst recht in einer Demokratie, und seien es noch so wenige Sekunden täglich, die der Citoyen der Zeitung widmet. Jede Leseerschwerung, jede geringste Senkung des Lesetempos ist Informationsminderung, muß politische Folgen, meist zugunsten der Regierung haben, und bestünden diese etwa nur darin, daß man, bequem wie man ist, etwas mehr zum Fernsehen überginge.

Man will beim Lesen immer auch etwas Vergnügen haben. Ein Grundprinzip der modernen Zeitung liegt hier. Sie darf nicht fad sein, sie darf nicht gelehrt bohren, wir sind es so gewohnt, wir können es nicht ändern. – Nichts ist störbarer als ein regelvolles Vergnügen als Gewohnheit. Die geringste Störung senkt den Absatz. Wir haben es vor gut dreißig Jahren erlebt: Der Durchschnittsleser und Bücherkäufer ist so seltsam konstruiert, daß er einmal an Antiqua gewöhnt, das heißt vor kurzem drauf eingewöhnt, Fraktur nicht mehr kauft. – Nun die geplante ungeheure Störung!
Ich kenne Studenten, welche dem Kleingedruckten ästhetisch geneigt sind, sei es aus visuellen Gründen oder aus musikalischen (worauf ich noch zu sprechen komme), und ich kenne Studenten, welche, allergisch und angeekelt nahezu, Kleingedrucktes als „Augenpulver“ bezeichnen. Der Eingriff ist eben tiefer und komplizierter, als man ahnt, es ist leichtfertig – und noch keine wissenschaftliche Untersuchung hat’s erwiesen –, zu sagen, daß man „sich schon gewöhnen“ werde.

... Die Bedeutung des Schreibenkönnens nimmt heute ab. Die Bedeutung des Lesenkönnens, des Schnellesenkönnens, nimmt seit langem stetig zu. Bei Eingaben und Steuererklärungen lassen wir uns ja helfen. Der Freund hilft dem Freunde bei der Seminararbeit (Orthographie!). Leserbrief, Bürgerinitiative: überall Zusammenarbeit! [Heute kommt noch dazu, daß die Korrekturprogramme der Computer dem Schreiber das Korrigieren erleichtern.] Mit dem Schreibproblem kann eine Gesellschaft immer fertig werden, an der Ertaubung des Leseorgans kann sie sterben. (Natürlich wird man heute die Rechtschreibnote bagatellisieren, wieder bagatellisieren, wenn man vernünftig ist.)

Von einer anderen Seite her formuliert: Spätestens seit den Tagen, da es die große Presse aus der Rotationsmaschine gibt, hat sich das Sprachleben, das vorher – außer vielleicht in Ostasien – ein hörbares Leben in seinen besten Bekundungen gewesen ist, zu einem Teil visualisiert. Jeder, der in der Zeitung schreibt, weiß, daß er heute an das Leserauge fast mehr denkt als daran, wie er das Ohr des Lesers mit seiner „Melodie“ erreichen könnte, was noch Thomas Manns Bestreben war. – Nun ein Blick auf soziale deutsche Entwicklungen.

„Bildungsaufsteiger“

In Friedberg in Hessen, aus welcher Gegend auch der alte Liebknecht, der Mitkämpfer Bebels, kam, wurde „1874 die erste deutsche Lesehalle eingerichtet, ein Unternehmen, das aus den Arbeiterbildungsvereinen hervorgegangen war. In Preußen wurden die Bildungsvereine bis 1866 von der Reaktion unterdrückt, der gebildete Arbeiter galt als gefährlicher Arbeiter ... Liebknecht, mit Bebel an der Spitze der alten sozialdemokratischen Partei, wollte Arbeitern mit seinem Fremdwörterbuch eine Waffe in die Hand geben, die sie verteidigen sollte gegen die verschleiernde Sprache ... der Salons und ihrer Helfer in den Amtsstuben“ (Dieter Hoffmann in der „Frankfurter Neuen Presse“, 18.1.1973). Der hessische Minister und Soziologieprofessor von Friedeburg kennt natürlich diese hessischen Entwicklungen und entwirft, gerade als Sozialdemokrat, nicht unbedacht ein so konträres Schul- und Bildungsprogramm. Dasselbe gilt von den anderen sozialdemokratischen Kultusministern. Soweit sie dozieren, haben sie es auch angedeutet, daß sie jene alte sozialdemokratische Politik für ebenso edel wie falsch halten, schon weil sie die Arbeiterschaft zuwenig solidarisiere und dynamisiere, weil sie im Banne der Individuumsförderung bleibe; der Bildungsaufsteiger entfremde sich bekanntlich seiner Klasse usw., schon der „Leser“ tue es so manches Mal.

Was von Oertzen genau in dem Augenblick selbstbewußt sagte, als er Minister wurde, das war auf phantastisch genaue Weise die Sprache jener militanten nördlichen Junker, welche gewußt haben, wie man „seine Leute führe“, einen „Stoßtrupp“ (FAZ 22.6.97) bilde usw. Es konnte schon psychologisch nicht erwartet werden, daß von Friedeburg und von Oertzen die Intentionen des alten Liebknecht fortführen würden. Das braucht noch gar nicht bewußt zu sein. Jedenfalls konnte man schon alles prophezeien: Bevor noch die Unterrichtsplanentwürfe erschienen waren, welche die Hochsprache und Rechtschreibung dem Kinde, besonders dem armen Kinde, mehr oder minder vermiesen und Leserei und Literatur abgewöhnen sollten, habe ich es vorausgesagt: „Der mutmaßliche Plan: Wenn man den Menschen die Leserei abgewöhnen, ja von Kindesbeinen an aberziehen wird, dann wird natürlich die Bücherwelt, die Literatur, als Macht sinken ... Auch durch eventuelle Abschaffung der Hochsprache an Schulen könnte ein solcher Weg vielleicht gangbar werden“ („Münchner Merkur“, 18. 11. 1972). Ein rotes Junkerideal.

Publikationen wie das „Kursbuch“ haben erweislich eingewirkt auf die Rahmenrichtlinien und ihre nördlichen Verwandten. Das Kursbuch sagt schließlich in Heft 34 offen: Die jugendliche Lesefreude und deren Objekte (seien diese nun rot oder nicht rot) sind nicht positiv zu beurteilen; Ivo Frenzel schreibt in der Besprechung dieses Heftes (SZ 2.2.74), daß der „Wert des Lesens für die proletarische Erziehung überhaupt bezweifelt“ wird. Also: Der Junker und der Nullpunktdenker – sie finden sich plötzlich für einen Augenblick, angenehm überrascht, zusammen.

Man konnte es auch aus der internationalen Lage heraus prophezeien. Wenn unsere sozialistischen Kultusminister zu ihren sozialistischen Ministerkollegen in Belgrad, Prag oder Moskau hinüberblicken oder sie gar treffen – was liegt denn seit Jahren dabei ungesagt in der Luft? Die Erfahrung des literaturgeborenen Prager Frühlings. Dann Solschenizyn, Djilas! Es greift auf die Wissenschaft über. Ich zweifle nicht, daß von Oertzen mit seinem Bewußtsein auf seiten Sacharows steht, wie er es ja sagt, aber ich zweifle, ob er ein elementares Unbehagen bei sich unterdrücken kann. Wäre ich ein Erzähler, ich gäbe ihm folgenden „inneren Monolog“: „Reichlich ungeschickt haben sie es ja angefangen mit ihrer Literatur, mit ihrer enormen Erweckung der Lesefreudigkeit an allen russischen Volksschulen, so daß ganz Rußland heute wie eine einzige „Lesehalle“ ist. Im Anfang war das ja ganz gut. Wer viel liest, wird mehr aufgeklärt und ist auch mehr beschäftigt. Aber heute! Sie lesen jetzt alle zu viel. Wogegen auch die dumme Zensur nicht helfen kann, schon weil sie Dostojewski nicht treffen kann. Man muß es doch an der Wurzel, in der Schule und Vorschule, anpacken. Die können noch was von uns lernen.“ Können sie auch. Werden sie auch.

Klein- wie Großschreiben existiert, wie alle Rechtschreibung, nur in der Hochsprache, die sich so regelt. Es ist die Hochsprache, welche die hessischen Rahmenrichtlinien den Kindern etwas „vermiesen“, wenn auch durchaus nicht abgewöhnen wollen. Auch dies wieder die schlaue Umdrehung der alten sozialdemokratischen Politik. Könnte es nicht manchmal besser sein, wenn die Regierten keine gemeinsame Sprache untereinander haben im übertragenen und im wörtlichen Sinne? Die in Rußland gestartete, ja warm empfohlene Pflege der vielen Nationalsprachen und –literaturen wirkt mit, um die Entstehung eines „Frühlings“ zu erschweren, weil sich die Frühlingswellen schon ein wenig an den Kabinenwänden brechen würden, die das Reich einteilen; die Bewohner können ja zum Teil nicht einmal recht miteinander reden! In Böhmen konnten sie es so wunderbar. In Ungarn! Trotz Sympathie der beiden Kultusminister für „Frühlinge“ ist es einfach naiv, anzunehmen, daß ein Politologe-Politiker vom Schlage Oertzens das „divide et impera“ nicht unwillkürlich praktizieren, daß er vielmehr für Homogenisierung sorgen würde. Diese Minister sorgen für „Chancengleichheit“: Das allzusehr Dialekt sprechende Kind darf weder einen Nachteil noch einen kompensatorischen Sprachunterricht erleiden; es bleibe gruppentreu! (Rahmenrichtlinien). Ein in trauten Kabinen lebendes Volk mit seinen Herzhaften Teilsprachen ist regierbarer. Erziehbarer. Beglückbarer.

(Fortsetzung folgt)

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Karin Pfeiffer-Stolz

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Karin Pfeiffer-Stolz
16.09.2004 11.17
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Klassenkampf und Bildungsreform

In einem antiquarischen Buch, Serie „Herderbücherei“, habe ich einen hochinteressanten Beitrag gelesen, der es verdient, der Vergessenheit entrissen zu werden. Ich werde das denkwürdige Dokument nach und nach abtippen und ins Forum stellen. Wenn wir aus der Geschichte lernen wollen, dürfen wir sie nicht vergessen.

Dokumentation
Paul Stöcklein
Kleinschreibung in der Hand der Großplaner
Ein Kapitel Bildungspolitik als Machtpolitik

[„Klassenkampf und Bildungsreform“, Herder Verlag, München 1974, ISBN 3-451-09502-5]

Unsere Rechtschreibung mag reparaturbedürftig sein. Sagen wir: vereinfachungsreif – wenn auch nur in wenigen Punkten. ... Dazu kommt die steigende Rechtschreibschwäche unserer Kinder. Viele Kenner wünschen, daß Dinge wegfielen, die in der Hand kleinlicher Lehrer Qual bereiten – obwohl man doch auch weiß, daß quälsüchtige Lehrer, wenn man ihnen heute das eine Ding nimmt, morgen dafür ein anderes schon finden. Ich weiß, wie es da zugeht, da ich (wenn ich Persönliches einschieben darf) lange Studienrat gewesen bin und mir noch heute Abiturienten begegnen, wenn sie nämlich die Universität beziehen, um Deutsch zu studieren, manche mit erstaunlichem Rechtschreibdefizit bei gleichzeitig guter Fachbegabung und guter Entwicklungsfähigkeit, ein Defizit, das ich immer zunächst bagatellisiere und für dessen Ergründung ich nicht zuständig bin.

Trotzdem wende ich mich gegen jene große Erleichterung, welche die Hauptwörter klein machen will. Wenn ich auf die unvermeidliche Kehrseite: die Erschwerung des Lesens, genauer: des Schnellesens, also des Zeitungslesens – was ist denn wichtiger im Zeitalter des Telephons, schnell schreiben oder schnell lesen zu können? – hinweise, dann stoße ich auf philosophisches Achselzucken auf schöne, aber naive Kinderliebe usw.
Bitte stellen Sie sich den eben gelesenen Satz kleingedruckt, also gleichmäßig eingeebnet, vor! Sie werden dann vielleicht zuerst an „Hinweise“ denken, wenn Sie „hinweise“ lesen. Und das ist leider ein wichtiges Wort: ein Verbum im Schachtelsatz. Oder betrachten Sie am Schluß den Hauptsatz: „dann stoße ich ...“ Parallelismus membrorum: „auf ... Achselzucken, auf ... Kinderliebe. Kleingeschrieben kommt der überblickfördernde Parallelismus nicht mehr so heraus. Ich würde freilich nach Einführung der Kleinschreibung keinen solchen Schachtelsatz mehr bilden aus Mitleid mit dem Leser – was Sie ruhig zugunsten der Einführung buchen mögen; bedenken Sie aber auch, daß manchmal für einen größeren Gedanken der größere Satz das natürliche Gewand ist. (Ein Ergebnis der leider allzu seltenen Experimente lautet: Kleingedrucktes ist, jedenfalls von Schülern mit geringerer Lesefähigkeit oder –übung, minder schnell zu lesen; siehe „aktion kleinschreibung“, hrsg. von W. W. Hiestand, Tuttlingen 1973. Ergo wohl auch minder sozial, möchte ich hinzufügen.)

Ich stoße aber auch auf die ernst zu nehmende Erwägung: „Und die anderen Sprachen? Im Dänischen ist die Kleinschreibung unlängst eingeführt worden. Die Deutschen sind jetzt die einzigen, die aus der Reihe tanzen. Die Fixierung in toten Lettern, allemal unzulänglich, kann doch geändert werden. Es ist, wie wenn man die Notenfixierung der Musik etwas ändern würde.“
Das ist hübsch, aber doch etwas sprachfremd gedacht und vor allem gegenwartsfremd. Ich glaube nämlich: Jeder, der die Hauptwörter heute und hier klein schreiben will – ich sage „heute und hier“ und werde natürlich noch von Dänemark sprechen – , weiß nicht, was er tut. So wie es die deutschen Kultusminister nicht gewußt haben; sie haben sich bekanntlich für die Kleinschreibung erklärt und damit einen ersten Anstoß gegeben für die nunmehr laufenden Verhandlungen der Bundesregierung mit den anderen deutschsprachigen Ländern. Sie wissen nicht, was sie tun, weil sie den politischen Kontext nicht mitsehen, nicht den lesepsychologischen, politischen Faktor.

Der Kongreß

Nein, ich muß mich korrigieren: Der „Vorsitzende der Langzeitkommission der SPD“, es ist der Kultusminister und Politologieprofessor von Oertzen, hat gewußt, was er tat. Auch der Kultusminister und Soziologieprofessor von Friedeburg wittert den Kontext. Sie haben gute Lesepsychologen unter ihren Mitarbeitern, die natürlich um die „Erschwerung“ wissen. Sie tauschen verständnisinnige Blicke mit den Führern der Riesenscharen bewegter, Zukunft witternder Lehrer; der Vorstand der mächtigen Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft hat schon gesagt, die Kleinschreibung sei nur ein Anfang, gleichzeitig mit ihr müßten sofort auch „das“ und „daß“ ununterscheidbar gemacht werden; und der repräsentative Kongreß, im September 1973, hat ihm sofort mächtig beigestimmt. (Ich werde gleich von dem Kongreß erzählen.) Auch die Interpunktion sei sogleich zu lockern; später kämen dann noch die Dehnungs- und vielleicht die Doppelungszeichen dran (so daß wohl „Bahn“ und „Bann“ ununterscheidbar würden!) Gut, dann wird das Lesen bald zu einem Rätsellösen werden! Man kann aus Anzeichen – deren Sammlung mein Thema ist (dessen erste Hälfte der Politik, dessen zweite der Lesepraxis gelten wird) – mit hoher Wahrscheinlichkeit erschließen, daß der Kampf dem Leser gilt.. Auch dem Zeitungsleser.

Ich nehme das Wort „Leser“ prägnant, ich meine den, der viel und sehr gerne liest und ungescheut überall herumliest und sucht und spürt und mit seinen persönlichen Entdeckungen ein großes Glück erlebt. Die Minister sehen klar: Dieser Leser ist schwer zu erziehen, weil er von seinen Büchern erzogen wird. Die genannten Kultusminister sind leidenschaftliche „Erzieher“. Sie herrschen, um zu lehren, und lehren, um zu herrschen. Sie kennen die Macht der Lehrer über den Menschen (haben wohl zuerst an sich selbst sie erfahren in ihrer reichen Biographie), sie kennen den so lernwilligen deutschen Gebildeten, sie kennen die Macht der Werbung; sie kennen das Vakuum, das auf sie wartet. Nicht anders die Führer der Lehrer usw. Fleißigere Lehrpläne hat es nie gegeben, als es zum Beispiel die hessischen Rahmenrichtlinien sind, die samt Materialien eine große Bücherserie darstellen und den neuen Angriff gegen die Rechtschreibung vor fast anderthalb Jahren eröffnet haben.

Ich zitiere die wichtigsten Stücke aus den beiden Berichten, welche über den Kongreß in der „Stuttgarter Zeitung“ am 8. und 9. September zu lesen waren: „Bis zu Beginn des Schuljahres 1974/75 sollen die deutschen Grundschulen die Kleinschreibung haben! Mit dieser hochgradig unrealistischen Verheißung (... bis dahin nicht einmal die Lehrmaterialien!) begann im Bürgerhaus der Frankfurter Nordweststadt ein zweitägiger Kongreß, der von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, vom Verband deutscher Schriftsteller und vom deutschen PEN-Zentrum veranstaltet wurde ... Die Bundesregierung sieht nach den Worten von Staatssekretär Baum das Hauptargument für die gemäßigte Rechtschreibreform in der leichteren Erlernbarkeit. Und mit Hinweis auf die etwa vier Millionen in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Ausländer sagte der Staatssekretär, es sei endlich an der Zeit, daß man von der jetzigen Rechtschreibung abkomme ... Ein Vertreter der Dudenredaktion vertrat die Ansicht, daß ... Rechtschreibung vielfach noch das einzige ausschlaggebende Kriterium sei, ob ein Kind eine weiterführende Schule besuchen könne oder nicht ... der österreichische Rechtschreiberneuerer Ernst Pacolt nannte die Reform kurzweg eine heilige Verpflichtung.“ – Schade, daß ich nur Auszüge geben kann; das in der Luft liegende Feindbild müßte ich noch schildern, das vom Leiter der Frankfurter Stadtbücherei bald darauf so knapp zur Sprache gebracht wurde: „Unsere Feinde sind oft die Eltern“ (FAZ, 16.11.1973); es war bei der Eröffnung einer Kinderbuchausstellung gewesen, er hatte sicher „Gegner“ sagen sollen (oder „Gegenspieler“). „Bei uns sind die Kinder gut aufgehoben, wenn die Eltern in der Stadt ihre Weihnachtseinkäufe machen“ (ebenda). Freud hat das erklärt.

Fortsetzung folgt
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Karin Pfeiffer-Stolz

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Reinhard Markner
06.09.2004 20.46
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Schon im August 1980 wurde der „Internationale Arbeitskreis“ gegründet, in dem sich die vermeintlichen Experten aus den vier Staaten zusammenfanden. Mag sein, daß man Gölter geleimt hat, aber das verpflichtet ja niemanden, heute noch an das zu glauben, was man damals möglicherweise als „Drohkulisse“ aufgebaut hat.

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J.-M. Wagner
06.09.2004 19.10
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von Prof. Jochems

Die Kultuspolitiker in der Bundesrepublik fingen erst an, sich für die Rechtschreibung zu interessieren, als die DDR eine vorbereitende Kommission für eine eigene Rechtschreibreform einsetzte. Drei Mitglieder daraus sitzen heute in der Zwischenstaatlichen Kommission. Zu ihrer Ehre ist zu sagen, daß zwei von ihnen den Westdeutschen einschließlich ihres Vordenkers an Sachverstand weit überlegen sind. Um einen Sonderweg der DDR zu verhindern, wurden 1986 Verhandlungen zwischen den Rechtschreibkommissionen der damals vier deutschsprachigen Staaten aufgenommen und über 1989 hinaus weitergeführt, obwohl dazu eigentlich kein Anlaß mehr bestand. Herr Wulff hat als Oppositionsführer im niedersächsischen Landtag auf diesen merkwürdigen Umstand hingewiesen:

Sie [= die SPD] haben die Rechtschreibreform zu einem Zeitpunkt betrieben, als sie nicht mehr hätte betrieben werden müssen. 1984 hat die damalige DDR einen Spracharbeitskreis eingerichtet. Sie wollte eine eigenständige Sprachentwicklung. Um dies abzuwenden, hat der Kultusminister Georg Gölter aus Rheinland-Pfalz 1986 angeregt, eine Arbeitsgruppe aus Österreich, der Schweiz, der DDR und der Bundesrepublik einzurichten, um eine eigenständige ostdeutsche Sprachentwicklung zu vermeiden. Spätestens als die Einheit da war, hätte man diese Kommissionsarbeit abschließen können, weil der eigentliche Grund der Reform entfallen war, weil nämlich die DDR untergegangen war. (13.11.1997)
––––––––––––
(Auszug aus dem in der Datenbank derzeit nicht verfügbaren Kommentar H. Jochems vom 24.2.2004)

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J.-M. Wagner
05.09.2004 21.55
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Alleingang der DDR

Zitat:
Ursprünglich eingetragen von Reinhard Markner
Zitat:
Alleingang der DDR
Ich kenne keine Belege für einen solchen.
Tja, jetzt müßte ich zitieren, was Prof. Jochems in ſeinem Kommentar auf dem Nachrichtenbrett (vom 24.02.2004) geſchrieben hat, aber leider läuft der Verweis ins Leere; insgeſamt tut ſich dort für Beiträge der erſten Monate des Jahres 2004 eine Lücke auf. – Vielleicht ſind Sie ja ſo freundlich, geehrter Herr Jochems, hier kurz wiederzugeben, was es damit auf ſich hat.
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Jan-Martin Wagner

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Reinhard Markner
05.09.2004 07.54
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Re: Orbis Linguarum

Zitat:
Alleingang der DDR
Ich kenne keine Belege für einen solchen.

Zitat:
Zur Orthographie in der deutschen Sprache am Ende des 19. Jahrhunderts mit besonderer Berücksichtigung der Fremdwortorthographie (am Beispiel der „Allgemeinen Zeitung“, der „Kölnischen Zeitung“ und der „Vossischen Zeitung“)“ von Marta Czyżewska, Warſchau (Orbis Linguarum XXIV/2004)
Dieser Beitrag ist weitgehend unbrauchbar. „Die aus dem Jahre 1896 stammende Gruppe der Zeitungsbelege zeigt zahlreiche Abweichungen von den verbindlichen Rechtschreiberegeln, die von der Ortho­gra­phiekonferenz von 1876 ausgearbeitet wurden“, schreibt die Verfasserin. Kein Wunder, denn die Regeln der Konferenz wurden ja nie „verbindlich“.

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