Hoberg – Reformförderer und Verharmloser
«Goethe wäre froh gewesen um unseren heutigen Wortschatz»
Interview: Markus Collalti.
Anglizismen bereichern das Deutsche: Später werden sie manchmal gar eingedeutscht geschrieben.
Herr Hoberg, können wir kein Deutsch mehr?
Wir können alle sehr gut Deutsch; die Situation des Deutschen ist heute so gut wie nie zuvor.
Aber man hört und liest immer wieder, das Deutsche sei im Niedergang. Sind wir vielleicht miteinander strenger geworden?
Es kann schon sein, dass wir strenger geworden sind. Aber es gab zu allen Zeiten die Verfechter des sogenannten Sprachverfalls, die sagen, es sei alles schlechter geworden. Die frühesten Belege dafür gibt es bei den alten Ägyptern, und es gibt sie durch alle Jahrhunderte.
Und heute?
Man kann vieles an der heutigen Sprache kritisieren. Nur: Wenn man sagt, die Sprache verfalle, dann setzt das voraus, es sei früher besser gewesen. Das bezweifle ich.
War Goethes Orthographie denn nicht besser als die der Maturanden von heute?
Zu Goethes Zeiten gab es keine festgelegte Orthographie. Die gibt es erst seit 1902. Goethe hat geschrieben, wie er wollte, und auch zu unterschiedlichen Lebenszeiten unterschiedlich. Wir haben Untersuchungen zum Sprachverfall gemacht; unter anderem haben wir Maturaufsätze aus den letzten Jahrzehnten verglichen. Pauschal kann man sagen: Bei den Schülern ist alles besser geworden – mit Ausnahme der Rechtschreibung. Man muss aber berücksichtigen, dass die Schüler heute umfangreichere Texte schreiben. Und wer mehr schreibt, der darf mehr Fehler machen. Vergessen darf man auch nicht, dass sich das gesamte Bildungssystem verändert hat. Um 1960 haben etwa 8 Prozent eines Jahrgangs die Matur gemacht, heute sind es fast 40 Prozent.
Welchen Einfluss haben Schriftsteller? Haben etwa die Dadaisten der Sprache Schaden zugefügt?
Das, was in der Literatur passiert, hat normalerweise keine Einwirkungen auf die Alltagssprache. Ich kenne keinen lebenden Schriftsteller, der etwas an der heutigen deutschen Gemeinsprache verändert hat – im positiven wie im negativen Sinne.
Was macht also nun einen Sprachverderber aus?
Die Individualsprache kann natürlich «schlecht» oder «verdorben» sein und das kann man selbstverständlich kritisieren. Was gut oder schlecht ist, ergibt sich aus dem zugrunde gelegten Wertungsmassstab, und der ist bei den meisten Menschen und besonders beim Bildungsbürgertum konservativ: Man hält das für gut, was man immer gemacht hat, und das für schlecht, was neu in eine Sprache tritt. Sprachentwicklung hat sich jedoch seit Karl dem Grossen bis heute dadurch ergeben, dass Menschen etwas anders gemacht haben, also gegen die Normen verstiessen und Fehler begingen. Und diese Fehler haben sich als neue Normen durchgesetzt.
Fehler als Fortschritt?
Das ist der entscheidende Motor der Sprachgeschichte. So findet man etwa immer häufiger für den Konjunktiv von «brauchen» «bräuchte». Richtig ist zwar «brauchte», aber immer mehr Menschen haben das Gefühl, ein Umlaut klinge schön und richtig. Und irgendwann wird dann «bräuchte» richtig. In einer Gesellschaft ist sprachlich richtig, was die Mehrheit tut. Die Schwierigkeit ist nur, zu ermitteln, was die Mehrheit tut.
Haben Grammatiker dann überhaupt Einfluss auf die Entwicklung der Sprache?
Grammatiker und Wörterbuchautoren beschreiben zunächst einmal nur den Ist-Zustand. Aber sie können und sollen selbstverständlich auch Wertungen nach vernünftigen Kriterien vornehmen. Wenn etwa immer mehr der Bedeutungsunterschied zwischen den Wörtern «scheinbar» und «anscheinend» verlorengeht, dann ist das schade, denn es geht eine Differenzierung im Deutschen verloren. Also machen wir darauf aufmerksam, über die Schule und die Medien, sie zu erhalten.
Und damit hat man Erfolg?
Vor allem über die Schule und die Medien. Sie spielen die grösste Rolle bei der Sprachpflege.
Gibt es Anzeichen, dass unsere Sprache nicht verfällt, sondern gedeiht?
Ja, dafür gibt es viele Anzeichen. Ich würde behaupten, es gab noch nie einen so grossen Wortschatz wie heute. Goethe wäre froh gewesen, wenn er unseren heutigen Wortschatz gehabt hätte. Natürlich ist vieles verlorengegangen – das ist zu jeder Zeit passiert, und das kann man beklagen –, aber mehr noch ist hinzugekommen. Auch im grammatischen Bereich ist es nicht schlechter geworden. Es hat sich vieles verändert, wie etwa die Formen des Konjunktivs. Aber zum Beispiel das Schwinden des Genitivs zu beklagen, ist völliger Unsinn. Es hat noch nie eine Zeit gegeben, in der mehr Genitive benutzt wurden als heute.
Als Schuldige für den «Sprachverfall» werden oft Anglizismen ausgemacht. Werden sie zum festen Bestandteil unserer Sprache, oder sind sie nur eine Art Sprachspielzeug, das schnell wieder langweilig werden kann?
Beides. Ich vermute, wir werden auch noch in zwanzig Jahren «Handy» sagen. Das ist ein so guter Anglizismus, dass mir Engländer oder Amerikaner häufiger sagen, man sollte ihn re-importieren und statt «cell phone» oder «mobile phone» verwenden. Das ist ein Wort, das wir vermutlich im Deutschen behalten werden – niemand weiss das genau –, und irgendwann schreiben wir es «Händi» und haben ein neues Wort. Ein Gegenbeispiel ist «cool», da zweifle ich, ob wir das in einigen Jahren noch haben werden. Es ist ein Modewort der Jugend und wird vermutlich aus der deutschen Sprache wieder verschwinden. Sollte es aber im Wortschatz verbleiben, dann haben wir neben «kühl» ein neues Wort, denn «cool» bedeutet ja im Deutschen nicht «kühl»: Kein Mensch sagt, er wolle ein «cooles Bier» haben, sondern Mädchen sagen, jemand sei «ein cooler Typ».
Die deutschen Wörter werden nicht verdrängt?
Ich kenne kein einziges deutsches Wort, das durch ein englisches verdrängt worden wäre. Es werden nur Bedeutungen weiter differenziert. Das häufig gehörte Wort «Kids» verdrängt zum Beispiel nicht das Wort «Kinder». Dreizehn-, Vierzehnjährige werden Kids genannt, meistens von Älteren. Die Kinder selbst nennen sich nicht so, denn es ist eine ironische Bewertung. Niemand würde hingegen im Gespräch fragen: «Wie viele Kids haben Sie?» Solche Differenzierungen könnte man natürlich auch mit deutschen Wörtern vornehmen. Doch das Englische kommt uns zuvor, da mit einer Sichtweise oder einem Sachverhalt aus dem englischsprachigen Kulturraum gleich das Wort mit herüberkommt.
Ist das Englische also doch eine Gefahr?
Man hat ausgerechnet, dass es 15 Prozent Fremdwörter im Deutschen gibt; ein Prozent davon sind Anglizismen. Der Anteil der Fremdwörter ist also relativ gross, der Anteil der Anglizismen dagegen noch relativ gering. Die Anglizismen-Gegner sind immer nur gegen die jüngsten Fremdwörter. Sie sagen aber mit grösster Selbstverständlichkeit «okay», weil wir das schon lange im Deutschen haben. Es gab jedoch noch nie eine Zeit, in der keine Fremdwörter ins Deutsche gelangten; heute kommen sie – wie auch in anderen Sprachen – fast ausschliesslich aus dem Englischen.
Das Englische hat einen ganz besonderen Status, oder?
Englisch ist die dominierende Weltsprache – die erste überhaupt, die es, soweit wir das wissen, seit Beginn der Menschheit gibt. Latein oder Französisch hatten nur in Europa eine dominierende Stellung, andere Länder wie etwa China kamen nicht unter ihren Einfluss. Es ist also eine ganz neue Situation. Das sollten wir berücksichtigen, bevor wir darüber urteilen. Zunächst können wir uns darüber freuen, dass wir, ohne die jeweilige Landessprache zu lernen, die ganze Welt bereisen können. Eine Weltsprache ist heute, im Zeitalter der Globalisierung, unverzichtbar. Die andere Seite ist, dass wir andere Sprachen pflegen und darauf achten müssen, dass sie nicht zurückgedrängt werden oder untergehen.
Muss man sich da um das Deutsche Sorgen machen?
Das betrifft uns weniger; Deutsch wird als Muttersprache in der Europäischen Union bei weitem am häufigsten gesprochen. Das betrifft kleinere Sprachen wie Litauisch, Lettisch oder auch Niederländisch. Doch hier liegt das Grundproblem der augenblicklichen Sprachsituation. Es liegt nicht in den Anglizismen. Die wichtige Frage ist: Was passiert mit den Sprachen ausser Englisch ganz egal, ob mit oder ohne Anglizismen?
Sollten Wissenschaftler auf Deutsch statt auf Englisch publizieren?
Wenn ich Naturwissenschaftler oder Mediziner oder Techniker wäre und hätte etwas Neues zu sagen, würde ich das selbstverständlich auf Englisch tun. Aber ich sage diesen Berufsgruppen immer wieder: Sie müssen auch auf Deutsch publizieren vielleicht in einem anderen Aufsatz, in einer anderen Arbeit , weil sonst die deutsche Wissenschaftssprache verloren geht. Das würde dazu führen, dass wir in zwanzig oder dreissig Jahren Naturwissenschaften gar nicht mehr auf Deutsch studieren können, weil wir die Entwicklung in der Wissenschaftssprache nicht mitgemacht haben. Das ist eine Spagatsituation: Immer mehr Menschen werden Englisch lernen, und es wird immer mehr zur Zweitsprache werden. Das soll und kann man nicht verhindern. Es ist durchaus sinnvoll, dass manchmal in Betrieben Englisch gesprochen wird oder dass es englischsprachige Studiengänge an deutschen Universitäten gibt. Aber man muss selbstverständlich auch das Deutsche und andere Sprachen verwenden, weil sonst die Vielsprachigkeit in der Welt verlorengeht und das wäre ein sehr grosser, ein verheerender Verlust für die Menschheit.
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Rudolf Hoberg (74) ist Professor für Germanistische Sprachwissenschaft an der TU Darmstadt. Seit 1999 ist er Vorsitzender der Gesellschaft für deutsche Sprache. Er war zudem Vorsitzender des Deutschen Sprachrats und gehörte dem Rat für deutsche Rechtschreibung an. Er ist Mitglied in den Jurys für das Wort und das Unwort des Jahres.
tagesanzeiger.ch 29.7.2010
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