Titelgeschichte mit großem Photo von Fritz Rahn
Der Spiegel 4/1956 Mittwoch, 25.1.1956
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25.01.1956
SPRACHE / RECHTSCHREIBUNG
Meer ist mehr als mer
(s. Titel)
Die bundesdeutschen Abiturienten werden _ in diesem Jahr zum letztenmal einigermaßen ungerüstet, mit dem für Reifeprüflinge typischen Gefühl des Wissens-Chaos, vor das Lehrertribunal treten. Schon ihre Nachfolger vom nächsten Winter können sich – so steht zu hoffen – bei ihrem Gang vor die Prüfungskommission auf eine Gedächtnisstütze modernster Konstruktion verlassen.
Die Patentmarke bürgt für beste Qualität. Hersteller des neuen Lerngerätes ist der Stuttgarter Verlag Ernst Klett, als Schulbuch-Verlag dem Lehramt wohlbekannt. Auch der Name des Konstrukteurs dieser Verstandes-Kletterstange, eines Wissensregisters in ausgeklügelter Tabellenform, ist Lehrern wie höheren Schülern wohlvertraut: Dr. Fritz Rahn. Der Große Herder verzeichnet den pensionierten Oberstudienrat aus Schorndorf in Württemberg als „Pädagogen und Spracherzieher“. Er hat gemeinsam mit dem Philologen Wolfgang Pfleiderer das in den meisten höheren Schulen eingeführte Unterrichtswerk „Deutsche Spracherziehung“ verfaßt und zehn Jahre Arbeit in sein synchronoptisches Tafelwerk zur deutschen Kulturgeschichte investiert.
Dieser neue Versuch einer synchronoptischen Geschichtsdarstellung – ein ähnliches Unternehmen des Ehepaares Peters erlitt aus politischen Gründen Schiffbruch (SPIEGEL 47/1952) rundet das reformerische Lebenswerk des 64jährigen Schulpraktikers Fritz Rahn vorläufig ab. Es hat ihm nicht nur Lehr-Erfolge und hohe Auflagen eingetragen, sondern auch den Vorwurf der Inkonsequenz, zum Beispiel wegen seiner Haltung zur vieldiskutierten Rechtschreibreform. Rahn steht heute in der Auseinandersetzung um eine Reform der Rechtschreibung (etwa „rüttmus“ statt „Rhythmus“, „rükker“ statt „Rückkehr“ oder „kwal“ statt „Qual“) auf der Seite der scheinbar Konservativen.
Die Diskussion über das Rechtschreibproblem, über die Frage, ob in Deutschland und im gesamten Gebiet der deutschen Sprache, also auch in Österreich, in der Schweiz und in Luxemburg, etwa „ee“ statt „Ehe“, „kan“ statt „Kahn“ oder „kann“ und – ausgenommen die Satzanfänge – alles klein geschrieben werden soll, ist bald nach dem letzten Kriege wieder aufgelebt. Ihren Höhepunkt erreichte die Auseinandersetzung in den vergangenen beiden Jahren.
Beide Seiten – die Fürsprecher einer von allen „Willkürlichkeiten“ der deutschen Rechtschreibung rigoros gereinigten „Stromlinien“-Schreibung und die Verteidiger der oft verwirrend schwierigen Rechtschreibregeln – haben sich in diesem Streitgespräch hoffnungslos ineinander verkrallt und führen es mit auffallender Gereiztheit, die sich in unsachlichen Argumenten und persönlichen Verunglimpfungen widerspiegelt.
Der Streitfall ist nicht neu. Ihm liegt zugrunde, daß sich die Sprache fortwährend verändert, daß aber ihr „Sprachbild“, die Schrift, hinter dieser Entwicklung zurückbleibt und mitunter eigene Wege geht. Die starr beibehaltenen Schreibregeln führen von der sich wandelnden Sprache immer weiter weg und schließlich zur „Versteinerung“ der Schrift, die – vom natürlichen Sprachleben getrennt – praktisch abgestorben ist und damit nicht mehr die gesprochene Sprache abbildet, sondern einen ganz anderen Sachverhalt. Dies scheint das Schicksal der Buchstabenschrift zu sein, die feste Buchstabenkombinationen für wandelbare Sprachformen setzt.
Die Rechtschreibreformer bemühen sich nun um eine engere Verbindung von Laut-Erscheinung und Sprachbild, also um eine Angleichung der Schrift an die lebendige Sprache, sie zielen letztlich – „Schreibe, wie Du richtig sprichst!“ – auf eine mehr phonetisch begründete „Laut“-Schrift, nach Klopstocks Schreib-„Regel der Sparsamkeit“: „Kein Laut darf mehr als ein Zeichen, kein Zeichen mehr als einen Laut haben.“
Wie sich eine von der natürlichen Sprachbewegung abgelöste Buchstabenschrift entwickelt, zeigt die Situation im Englischen und Französischen. Lauterscheinung und Sprachbild, Sprech-Sprache und Schrift also, haben sich offenbar endgültig voneinander getrennt, die Schrift als das abgeleitete Phänomen ist dabei auf einem früheren Stande stehengeblieben und „versteinert“.
So hat heute das Französische für ein und denselben Laut ganz verschiedene Schreibweisen, zum Beispiel in „sans“ – „cent“ – „sens“ – „sent“. Das englisch gesprochene „i“ wird gar auf sechsfach verschiedene Art geschrieben: „ea“ – „i“ – „ee“ – „e“ – „ey“ – „ei“, ganz abgesehen von den Absonderlichkeiten der englischen Lautlehre, zum Beispiel „gh“ wie „f“ zu sprechen und so fort. Das Englische, Französische und das Deutsche sind die einzigen lebenden Sprachen, in denen der f-Laut in Wörtern griechischer Herkunft noch mit dem Lateinischen „ph“ bezeichnet wird.
Andere Sprachgemeinschaften dagegen haben ihre Schrift laufend „auf Stromlinie“ gebracht, etwa die Türken, die 1928 die arabische durch die lateinische Schrift ersetzten, oder die Holländer, die 1947 ihre Schrift vereinfachten, und selbstverständlich die Amerikaner, die bereits „favor“, „judgment“, „meter“ oder „traveled“ schreiben statt „favour“, „judgement, „metre“ oder „travelled“, wie es das konservative Englisch im Widerspruch zur modernen Sprech-Sprache vorschreibt.
Vor diesem „Veralten“, einem Auseinanderfallen von Sprechen und Schreiben, möchten die Rechtschreibreformer das Deutsche bewahren. So jedenfalls lautet ein Hauptargument der Universitätsprofessoren an der Spitze der Reformpartei. Ihren stärksten Antrieb erhält die rechtschreib-revolutionäre Bewegung jedoch von unten her, von den Volksschullehrern und ihren Verbänden. Deren Argumente stützen sich auf die tatsächlich großen Zeitverluste beim Eintrichtern widersinniger „Recht“schreibungen wie etwa:
ernst nehmen – Ernst machen
in bezug auf – mit Bezug auf
heute mittag – diesen Mittag.
Diese Beispiele beziehen sich nur auf willkürlich anmutende Groß- und Kleinschreibung, die allerdings ein Hauptproblem des Deutschunterrichts wie der Rechtschreibung in allen Lebenslagen ist. Tatsächlich stammen 30 Prozent aller Schreibfehler im Deutschaufsatz aus diesem Zwist zwischen Logik und Rechtschreibregel.
Der verhaßte Duden
Eine noch größere Fehlerquelle aber ist die im Deutschen verwirrend schwierige „Rechtschreibung der Vokaldauer“, der verschiedenartigen Kennzeichnung von Längen und Kürzen. 40 Prozent aller Rechtschreibfehler in der Schule entfallen auf dieses Problem, das durch Beispiele leicht zu belegen ist:
kühn – grün
man – Mann
nahm -Name
malen – mahlen
Uhrzeit – Urzeit
Maschine – Schiene
Beere – Schere
Nur etwa 32 Prozent aller langen Vokale sind im Deutschen durch ein besonderes Dehnungszeichen hervorgehoben. Nur etwa sechs Prozent aller kurzen Vokale sind durch Konsonantenverdoppelung gekennzeichnet. Der „f“-Laut wird außer mit „ph“ (Philologe) auch mit „v“ bezeichnet (Vers, verfehlt), das in anderen Wörtern wieder wie „w“ gesprochen wird (Viktor, Violine). „D“, „edt“ und „th“ werden wie „t“ gesprochen (Land, Thron, wandte), „ks“ und „chs“ wie „x“ (lax, Knacks, Lachs). „Tz“, „ts“, „zz“ klingen wie „z“ (Dezember, Katze, Bootsdeck, Razzia), und ebenso sind „eu“, „äu“ und „oi“ gesprochen nicht voneinander zu unterscheiden (Eule, Mäuler, Boiler).
Gänzlich verwirrend schließlich erscheint die deutsche Kommataregelung („Ich habe keine Lust zu schreiben“, aber: „Ich habe keine Lust, ihm zu schreiben“) und die Silbentrennung („ge-stern“, aber „gestrig“; „Par-odie“, aber „Rhap-sodie“). Alle diese Unregelmäßigkeiten tragen nicht dazu bei, Ausländern und Schülern das Deutschlernen zu erleichtern. Im übrigen ist durch Versuchsdiktate festgestellt worden, daß offenbar kein Deutscher, auch kein Sprachprofessor, völlig fehlerfrei schreiben kann.
Die Lehrer plädieren nun für den Abbau dieser Unregelmäßigkeiten und für eine „Normierung“ der Schriftsprache mit dem Argument, der Unterricht müsse entlastet werden, damit man Zeit für wesentlichere Dinge gewinne. Darüber hinaus verweist die Reformpartei auf die Möglichkeit, der oft schon beim Kinde spürbaren Abneigung gegen die Grammatik und insbesondere gegen die Rechtschreibung entgegenzuwirken.
Dieses psychologische Moment ist eine der stärksten Waffen im Kampf gegen das überkommene Schriftbild. Der mit dem Schreiben-Lernen beginnende Deutschunterricht überfordert den Abc-Schützen beträchtlich: Nicht einmal ein Professor der Sprachwissenschaften kann definieren, was ein „Hauptwort“ ist. Diese erste und in den meisten Fällen trübe Erfahrung mit der geschriebenen Muttersprache schafft alsbald eine instinktive Abneigung gegen Deutschunterricht und Grammatik, dann oft einen ausgewachsenen Minderwertigkeitskomplex.
Jedem Bürochef ist der Typ der anscheinend intelligenten, aber orthographisch wenig sattelfesten Sekretärin vertraut, die unter ihrem „Bildungsmangel“ regelrecht leidet; der Arzt und Psychologe weiß davon mehr. Quell allen Unglücks ist die leidige Tatsache, daß im Personalbüro wie in der Gesellschaft als Maßstab für Intelligenz das in Deutschland wohl meistgehaßte Buch gilt: der Duden. An diesem Pegel mißt jeder den eigenen oder fremden Bildungsstand, die Duden-Regeln gelten als codifiziertes Rechtschreibrecht.
Dabei ist „der Duden“ und mit ihm eine offizielle deutsche Rechtschreibung erst einige Jahrzehnte alt. Als der Soester Gymnasialdirektor Konrad Duden 1880 sein „Orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache“ mit Unterstützung staatlicher Stellen erscheinen ließ, wurden zum ersten Male die etwa seit Luthers Bibel-Übersetzung währenden Bemühungen um eine einheitliche Schriftsprache zusammengefaßt. 1876 hatte eine in Berlin tagende „Konferenz zur Herstellung größerer Einigung in der Rechtschreibung“ die Orthographie wenigstens innerstaatlich, das heißt in den Grenzen des kleindeutschen Reiches geregelt.
Die erste Duden-Ausgabe fixierte diese Konferenz-Ergebnisse: Das altertümliche th (Rath, Wirth) wurde nur noch im Anlaut vor einfachen Vokalen gebraucht (thun, Thor, Thal); die Infinitiv-Endung -iren wurde zu -ieren; die Vokalverdoppelung (gaab, queer) wurde auf bestimmte Wörter wie Staat, Paar, Waage, eingeschränkt; die Endung -niss wurde zu -nis (Gleichnis, Kenntnis).
Aber eine für das gesamte deutsche Sprachgebiet verbindliche Konvention war noch nicht in Sicht, solange etwa Fürst Bismarck seinen Beamten „bei steigenden Ordnungsstrafen“ die Anwendung der zum ersten Male offiziell formulierten Rechtschreibregeln untersagte. Der konservative Kanzler teilte offenbar die Ansicht, die schon Schopenhauer seinem Leipziger Verlag Brockhaus und dessen Haus-Orthographie gegenüber vertreten hatte: „Daß ein Ladenmensch, ein Buchdrucker und seine schwarzen Myrmidonen aus dem Schmierloch die deutsche Sprache regieren wollen, ist nicht nur ein Übelstand, sondern eine Infamie.“ (Ähnlich hatte Wilhelm Raabe der Rechtschreibung wegen einem Bonner Reform-Professor „eine Feindschaft geschworen, an die nur Hannibals Haß gegen die Stadt Rom annähernd heranreichte“.)
Erst kurz nach der Jahrhundertwende, 1901, kam nach langem Verhandeln eine gesamtdeutsche Konvention zustande. Damals fiel auch das th in „Thür“, „Thor“ oder „Thal“. Mit der Neuauflage von 1903 wurde der Duden zu dem im gesamten deutschen Sprachgebiet anerkannten Rechtschreib-Codex – obgleich seine Jurisdiktion in keinem Gesetz, keinem Paragraphen des öffentlichen Rechts verankert ist. Es gibt daher außerhalb der Kanzleien, der Korrektoren-Räume und der Schulzimmer noch immer einige Individualisten, die dem Duden zum Trotz und nur ihrem Sprachgefühl gehorchend „Albtraum“ statt dudengerecht „Alptraum“ schreiben, die gleichsam „Kopf“ (und nicht, wie der Duden vorschreibt: „kopf“) stehen über viele Rechtschreibregeln, die wissen, daß sie im Grunde „recht haben“, obwohl sie – des Duden wegen – deshalb bisweilen „Unrecht leiden“, die es also mit Schopenhauer halten, der seinen Setzer anfuhr, „das Letzte, das er, der Setzer, denken möge, sey, daß er, Schopenhauer, sich in der Orthographie etwa geirrt habe“.
NS-Deutsch und Sowjet-Deutsch
Dabei ist der Duden, der von einer ständigen Redaktion – sie ist gegenwärtig zweigeteilt in Sitz Leipzig und Sitz Wiesbaden – fortlaufend überarbeitet wird, in anderen Fällen allzu fortschrittlich. Er verzeichnet seit etwa fünfzehn Jahren zum Beispiel „Kolumbus“ oder „Kolorado“, wobei er „Colorado“ als „engl. Schreibung von: Kolorado“ erklärt. Er dekretiert ähnlich „Chikago“, während er die originale Schreibweise „Chicago“ wider alle Vernunft als „engl. Schreibung von: Chikago“ definiert.
Dieses Rechtschreib-Unrecht wird auch noch in der neuesten Auflage des Duden vom Vorjahr konserviert. Es handelt sich um ein fatales Erbe, um Regeln des NS-Erziehungsministers Rust aus dem Jahre 1940. Sie sind nach wie vor Duden-gültiges Rechtschreibrecht, wie die Ständige Konferenz der Kultusminister in ihrer letzten Tagung kurz vor Weihnachten noch einmal ausdrücklich festgestellt hat.
Etwa zu der Zeit, als die Rust-Regeln Duden-Recht wurden, im Jahre 1941, veröffentlichte die Wochenzeitung „Das Reich“ einen Aufsatz unter dem Titel „Die Reform der deutschen Rechtschreibung“. Der Verfasser argumentierte temperamentvoll für eine weitgehende Änderung des gewohnten Schriftbildes, unter anderem trat er für generelle Kleinschreibung ein. Der Vorschlag fand ein kräftiges Echo in zahlreichen Leserzuschriften an den Verfasser des Artikels: Fritz Rahn.
Daß sein Name heute mit ganz entgegengesetzten Überlegungen und Vorschlägen zur Reform-Frage verbunden ist, bezeichnet Rahn selbst als das Resultat jenes Pro-Reform-Aufsatzes. Die sich rege entwickelnde, auf Goebbels-Befehl sofort abgestoppte Diskussion im „Reich“ habe ihn „veranlaßt, erst eigentlich in die ganze Problematik der Sache einzudringen… (Ich) gewann in stürmischen Auseinandersetzungen die Einsicht, daß Reformen der gedachten Art in dem Augenblick ein völlig verändertes Gesicht bekommen, wo sie sich vor der Wirklichkeit bewähren sollen. Die schwere Sorge um den erschütterten Bau der geistigen und wirtschaftlichen Kultur ist es, die den Verfasser veranlaßt, sich zu einer Überzeugung zu bekennen, die so weit von seiner früheren abweicht.“
Diese Überzeugung, nämlich daß eine abrupte und radikale Reform der Rechtschreibung keinesfalls wünschenswert sei, hat Fritz Rahn zum erstenmal 1952 in einer Denkschrift für eine Konferenz der „Arbeitsgemeinschaft für Sprachpflege“ niedergelegt, die vom Leiter des Stuttgarter „Instituts für Auslandsbeziehungen“, Dr. Franz Thierfelder, gegründet worden ist.
Rahn verfaßte diese Denkschrift in der Nacht vor dem Reformertreffen. Er warnte vor den Gefahren einer rationalisierten und dadurch ideologisch nivellierten Sprache – ohne zu wissen, daß unter den Teilnehmern der Thierfelderschen Rechtschreib-Konferenz fünf Delegierte aus der Ostzone saßen, darunter der schon 1946 mit einem offenkundig sowjetamtlich inspirierten Reform-Vorschlag vorgeprellte Abteilungsleiter für deutsche Sprache und Literatur an der (Ostberliner) Deutschen Akademie der Wissenschaften, Professor Dr. Wolfgang Steinitz, weiter der Präsident der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Professor Dr. Theodor Frings, sowie der Leiter der Leipziger Duden-Redaktion, Dr. Wolfgang Ebert.
Das Aufgebot an Sachsen lokalisiert den Schwerpunkt der Reform-Bewegung. Auch die besonders reformfreudigen Niedersächsischen Lehrerverbände werden – wenn es um die Rechtschreibreform geht – von echten Sachsen repräsentiert, und der Leiter der reformfreudigen Arbeitsgemeinschaft, Dr. Thierfelder, ist seiner Herkunft nach ebenfalls Ober-Sachse. Er glaubt, „daß zwischen Leipzig und Dresden von jeher ein gutes Deutsch geschrieben und ein schlechtes Deutsch gesprochen wurde“.
Die Unruhe über Rahns reformfeindliche Argumentation war in diesem Kreis groß. Rahn weigerte sich auch, die „Empfehlungen zur Erneuerung der deutschen Rechtschreibung“ zu unterzeichnen, die 1954 von der Thierfelderschen „Arbeitsgemeinschaft für Sprachpflege“ herausgegeben wurden.
Die Zusammensetzung dieser Arbeitsgemeinschaft ist annähernd repräsentativ für die Situation und für die Elemente der stärksten Aktivität in Sachen Rechtschreibreform nach dem letzten Kriege. Drei Stützpunkte heben sich heraus: einmal Ost-Berlin, wo schon bald nach Errichtung der Militärregierung die Deutsch lernenden Russen offenbar aus rein egoistischem Interesse zur Vereinfachung der deutschen Grammatik drängten; dann Wien, das in den Verantwortlichen eines „Österreichischen Wörterbuches“ seine Aktivisten hat, und endlich Sachsen; der Reformeifer dieses linguistisch so bedauernswert gebrandmarkten Volksstamms mag nicht nur mit seiner querulantischen Mentalität, sondern wohl auch mit einem – aus jener Brandmarkung gespeisten abgründigen Ressentiment gegen die Sprachnorm zu erklären sein.
Alle diese Reform-Aktivisten unter einen Hut zu bringen, ist auch dem rührigen Generalsekretär Dr. Thierfelder nicht so ganz gelungen. In gesonderten Aufsätzen zu einer deutschen Rechtschreibreform machten einige Unterzeichner der „Empfehlungen“ aus ihren von diesen Empfehlungen abweichenden Ansichten kein Hehl. Gesprächsweise bekennt sich sogar Dr. Thierfelder zu einer Meinung, die mit seinen „Empfehlungen“ recht wenig übereinstimmt. Diese sehen im einzelnen vor:
* „Gemäßigte Kleinschreibung“ (grundsätzliche Kleinschreibung aller Wortarten; große Anfangsbuchstaben nur für den Satzanfang, für Eigennamen und Anrede).
* „Vereinheitlichung der Buchstabenverbindungen“ (z statt tz: „spitzen – spizen“; ss in Antiqua statt sz/ß: „er schloss“).
* „Beseitigung rechtschreiblicher Doppelformen“ (Quarg – Quark; so daß – sodaß; Zwetschge – Zwetschke).
* „Angleichung der Fremdwörter an die deutsche Schreibweise“ (Fotograf, Teater, Katarr, Zilinder, Mütus).
Darüber hinaus handelt es sich um Empfehlungen zur Getrennt- oder Zusammenschreibung, zur Silbentrennung am Zeilenende, zur Vereinfachung der Zeichensetzung sowie zur Kennzeichnung langer und kurzer Vokale, wobei zum Beispiel „ie“ zu „i“, das lange „i“ also nicht gekennzeichnet werden soll (di libe).
Man hat versucht, diese Stuttgarter „Empfehlungen“ durch „Schreck-Beispiele“ zu ironisieren. Aber Sätze wie „forsicht, der kan kan lek sein“ oder „hir kan man weise reden hören“ geben kein objektives Bild. Die Textprobe muß zumindest größer sein (s. Kasten).
Dagegen hat nun Fritz Rahn „Betrachtungen und Vorschläge“ zur Diskussion gestellt, die von der Feststellung ausgehen: „Die Rede von den Willkürlichkeiten und Widersprüchlichkeiten der Regeln ist sachlich unbegründet.“
Rahn opponiert aggressiv gegen die angeblich „unwiderleglichen“ Argumente der Reformer: „Es war immer, ein besonderes Anliegen der Reformer, ihren Gegnern wenigstens das eine Zugeständnis abzuringen, die heutige Rechtschreibung sei aufs „schimpflichste“ verunziert durch zahllose alte Zöpfe, durch Widersprüche, Willkürlichkeiten und Spitzfindigkeiten. Bei gewissenhaftem Zusehen zeigt sich, daß von Widersprüchlichkeiten gar keine Rede sein kann, – ja daß eher der furchtbare Schulmeisterernst Tadel verdient, mit dem hinter gewissen Schreibgewohnheiten eherne Gesetze vermutet wurden, und die eiserne Konsequenz, mit welcher dann hinterher diese vermeintlichen Gesetzlichkeiten vom Duden in ein unerbittlich starres Regelsystem gepreßt wurden.“
Diese Absage des Spracherziehers an die Logistik des Duden und der Sprach-Professoren, diese Kampfansage des alten Pädagogen an die Pedanterie seiner Schulmeister-Kollegen ist bei Rahn gewiß sachlich begründet, sie ist aber ebensosehr auch emotionell unterbaut. Wer ihm begegnet, weiß sofort, woher diese Einstellung stammt, dieses Plädoyer für einen „Naturschutzpark Sprache und Schrift“, dieser gezielte Ausfall gegen die mit Heckenschere und Bandmaß manipulierenden Sprach- und Schreib-Gärtner. Der hochgewachsene weißhaarige Herr von 64 mit dem Aussehen eines 45jährigen schließt zwar den Schillerkragen gern mit einem hals-engen Pullover ab, aber der geistige Habitus des alten „Freideutschen“ und Wandervogels quillt doch sozusagen aus allen Knopflöchern.
Rahn stammt aus dem Bannkreis des jetzt 80jährigen Gustav Wyneken, des Schulreformers und Begründers der Freien Schulgemeinde Wickersdorf. Wyneken war einer der Väter jener gegen den Spießbürgergeist der Vätergeneration opponierenden „Jugendbewegung“ der Jahre vor und nach dem ersten Weltkrieg. Selbstverantwortlichkeit und Bündische Jugend, vaterländische Gesinnung und Hoher Meißner, Naturverbundenheit und Klampfe – das sind Schlagworte, die das Erscheinungsbild dieser neuromantischen, äußerlich bald ins Modische umschlagenden Gesinnungswelle blitzartig erhellen.
Mit der Natur wurde der 1891 in Tettnang „am Bodensee“ – Entfernung zum Wasser: eineinhalb Wegstunden – geborene Fritz Rahn, Ältester unter sechs Geschwistern, bereits durch die -Erziehungspraktiken des vom Wandertrieb besessenen Vaters vertraut. Rahn senior übergoß den nervösen Knaben samstags nach dem Heißbad mit kaltem Wasser; er härtete seinen Ältesten ab durch ebenso panoramagesegnete wie strapazenreiche Gepäckmarsch-Wandlerungen über die Schwäbische Alb – aber er legte mit solchen Gewaltkuren doch den Grund für die gewissermaßen gut durchlüftete Lebenseinstellung seines Sohnes.
Dessen Wanderlust hält in seinem siebten Lebensjahrzehnt unvermindert an, nur reagiert er sie seit langem mit Motorenkraft ab., „Es war nur natürlich, daß ich mir einen Kraftwagen kaufte, sobald ich das Geld dazu hatte“, bemerkt Rahn in seinen „Vita“ von 1947. „Ich möchte … das Auto, das mich sieben Jahre in ganz Deutschland herumtrug, als den reichsten Freudenquell und dazu als das wichtigste Bildungsmittel bezeichnen, das mir das Leben beschert hat. … Es ermöglichte mir, aus einer Landschaft genau das herauszuholen, was ich davon haben wollte.“
Das Auto nennt der leidenschaftliche Auto-Wanderer Rahn auch als seinen wichtigsten, weil zeitsparenden Helfer, wenn er erklärt, wie sich ein schriftstellerisches Lebenswerk von elf Büchern und etwa viermal soviel Aufsätzen neben seiner Gymnasiallehrertätigkeit – vor allem am Stuttgarter Eberhard-Ludwig-Gymnasium – bewerkstelligen ließ., „Gedichte meiner Buben“ lautet der merkwürdig anmutende erste Buchtitel, den die Unterzeile erklärt: „Versuche dichterischer Gestaltung in der Schule.“
Der glänzend rezensierte Erstling von Anfang 1927 ließ den Erlanger Ordinarius für Philosophie, Paul Hensel, aufhorchen. Ein halbes Jahr später war der Altphilologe Fritz Rahn, der sein Abitur einst mit „Ungenügend“ in Griechisch bestanden hatte, Doktor der Philosophie. Seine Dissertation behandelte das Thema „Die Ästhetik des Wortes“.
Dieser Titel der Doktor-Arbeit des 36jährigen kann als Schlagzeile über Rahns gesamter Lebensarbeit stehen. Ob es sich um seine „Schule des Schreibens – Ein Lehrgang der Stilbildung“ für höhere Schulen von 1931/33 oder um seine „Stilkunde deutscher Prosa“ für Hochschulen (1937) handelt, um seine vielteilige „Deutsche Spracherziehung“, die 1933 zum erstenmal herauskam, oder um seine „Neue Satzlehre“ von 1940 – immer geht es Rahn um eine tiefere, nicht nur rein rationale und logistische Behandlung der Sprachmaterie, eben um die „Ästhetik des Wortes“.
Leben und Lehre stimmen daher bei ihm überein. Der Mann, der „Sprachbildung als Politikum“ und als „Teil der rechtesten Erziehung des Menschen“ auffaßt, ist scheinbar universal. Er ist ein gesuchter Feuilletonist und nebenbei ein passionierter Geiger. (Während der Arbeit an seiner „Spracherziehung“ schloß er das Instrument allerdings für sechs Jahre ein.)
Siebzehn große Schaukästen in seinem Schorndorfer Heim zeugen für ein Hobby des Hausherrn: die Schmetterlingssammlung. Sein Buch von 1943 „Schmetterlinge“ ist eine Rarität, die Auflage ging im Kriege fast völlig verloren. Rahns Vielseitigkeit beweisen Arbeiten über die gegenstandslose Malerei, über die Theorie der Violintechnik und über literarischen Kitsch. In einem angriffsfreudigen Aufsatz erörterte er die gewiß aktuelle „Frage der künstlerischen Sittlichkeit im Spätwerk Thomas Manns“ und in einer Feuilleton-Folge die Heilwirkungen der Wildbader Warmquellen.
Zwischen all diesen Themen, so verschiedenartig sie auch scheinen, besteht dennoch eine Verbindung. Mit seiner Musizierpraxis und auch mit seiner subtilen Jagd auf Schmetterlinge glaubt Rahn, sein Empfinden für Nuancen der Sprache, für die Interpretation des von ihm höchstverehrten Lyrikers Mörike entscheidend gefördert zu haben. Naturanschauung und Sprachgefühl stehen nach Rahn ebenso in stetiger Wechselwirkung zueinander wie Sprache und Schrift.
Immer verbindet sich bei ihm das Methodische mit der Intuition. Der „Philologe vom alten Schlag und entschiedene Parteigänger eines modernen Humanismus, der den Typus des Pädagogen mit dem des leiderfahrenen Musikanten, des Naturphilosophen und des so leidenschaftlichen wie besonnenen Autowanderers verbindet“, der Schulmann und Ästhet legt zum Beispiel auch seine Landschaftseindrücke in seinem Erinnerungsvorrat säuberlich ab, zweifach registriert als „Landschaften der geschlossenen Weite“ und solche der „heroischen Intimität“. Er sortiert also auch optische Eindrücke nach ästhetischen Kategorien.
Pä-da-go-gik oder Päd-ago-gik?
Aus der Ästhetik, der alten Lehre von den Sinneswahrnehmungen und späteren „Wissenschaft vom Schönen“, sind darum auch seine Hauptargumente gegen eine Rechtschreib-Revolution hergeleitet. Rahn sieht seine Aufgabe wie Karl Kraus im Kampf „gegen Massenjargon und Sprachverderbnis“, nennt die Schreib- und Druckschrift ein „Bildungsgut von hoher Strukturtiefe“ und wendet sich daher gegen alle Rationalisierung der deutschen Rechtschreibung. Der überzeugte Demokrat schwäbischer Färbung – „Der 20. Juli war unsere geschichtliche Stunde!“ – sieht sich als „Widerstandskämpfer gegen die Tyrannei der Fachgelehrsamkeit“.
Deren Ansicht formuliert der Dekan der Bonner philosophischen Fakultät, der Sprachhistoriker und -philosoph, Professor Dr. Weisgerber: „Die Schrift ist … Dienerin, Hilfe, Verstärkung … der Sprache.“ Dagegen steht der Standpunkt Rahns: „Die Schrift ist nicht bloß ein technisches Instrument, sondern ein Teil der Sprache selbst. Ihre „Willkürlichkeiten“ sind darum durchaus – wenn auch nicht rein rational – zu begründende Phänomene.
Professor Weisgerbers Meinung ist, „daß Fragen der Schrift kein Tummelplatz für Gefühle und keine Zufluchtstätte für romantische Vorlieben sind“. Rahn argumentiert: „An die Schrift rühren heißt immer zugleich an eine Sprache selbst rühren.“
Kronzeuge der Rechtschreibreformer ist seit alters her, zumal wenn es um die Kleinschreibung oder das Dehnungs-h geht, der große Germanist Jakob Grimm. In der Einleitung zu seinem „Deutschen Wörterbuch“ (beg. 1852) findet sich der Satz: „Die unnütze festhaltung der (deutschen) vulgarschrift … ist es, die den albernen gebrauch groszer buchstaben für alle substantiva veranlaszt hat .. .“ Und das Dehnungs-h betreffend: „Wenn kam, Rat, Schwan – warum dann nicht lam, Nat, Zan?“
Dagegen Rahn: „Jakob Grimms grimmiges Schelten auf die Barbarei der deutschen Schreibung war selbst eine romantische Barbarei … Der große Sprachforscher verkennt eine wichtige Seite der Schrift … bemerkt vor allem nicht, daß auch die Schreibung auf ihre Weise dem expressiven Charakter der Sprachzeichen zu dienen hat: ‚Meer‘ glänzt weiter hinaus als ‚mer‘, ‚See‘ ist glatter als ‚se‘, ‚Lahm‘ lahmer als ‚lam‘, ‚Ahn‘ ehrwürdiger als ‚an‘, ‚Liebe‘ sehnsüchtiger als ‚libe‘, ‚Gier‘ gieriger als ‚gir‘, ‚Riese‘ größer als ‚rise‘ …“
Rahn will damit sagen: Ein Wort ist nicht nur eine willkürliche Buchstabenkombination, mehr oder weniger tote Schriftmaterie, an der man ohne Scheu herumoperieren darf, sondern immer auch optisches Signal an das Gehirnmagazin der Begriffe so gut wie an das Gefühl, ein Bildzeichen also, das an eine ganz bestimmte Objekt„gestalt“ gebunden ist. In dieser „Gestalt“ hat jedes Glied seine Funktion, und dasselbe gilt von seinen Schriftzeichen. Das verleiht dem angeblich so willkürlich gebrauchten Dehnungs-h oder -e hohe Bedeutung: nämlich die eines Blickfangs oder eines Mittels zur Wortverbreiterung, das dem „Ansehen“ der Wortgestalt in doppelter Hinsicht dient.
Rahn definiert auch den tieferen Sinn der scheinbar sprunghaften Groß- und Kleinschreibung im Deutschen. Er interpretiert den Schreibvorgang nicht als mechanischen Prozeß, sondern als „Durchordnen des Weltbildes“: Durch Großschreibung verleiht der Schreiber dem Objekt eine höchste Würde, er gibt ihm Personalcharakter. Damit besitzt unsere Schriftnorm, die auf dem „augenhaften Gliederungs- und Sinndeutungsprinzip“ beruht, ebenso Symbolcharakter wie die individuelle Handschrift.
Daraus erklärt sich aber auch der Beginn der Großschreibung beim Übergang vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen (um 1500). Damals vollzog sich im Gebrauch der Schrift eine kopernikanische Wende. Der schreibende Mensch unterschied fortan zwischen Substanz und Akzidens, zwischen Hauptsache und Nebensache in einer Aussage und damit in seinem „Weltbild“. Rahn ist geneigt, in diesem sinnvollen Durchordnen ein konstituierendes Merkmal der deutschen Kultur zu sehen.
Dieser Gedankengang erklärt aber endlich auch die Tatsache, daß nur das Deutsche noch an der Groß- und Kleinschreibung festhält, nachdem Norwegen 1907 und Dänemark 1949 die Großschreibung offiziell abgeschafft haben. Die übrigen Sprachen kennen diese Durchgliederung nicht, weil sie ihrem Wesen nach anders strukturiert sind. Dazu kommt die grammatikalische Besonderheit des Deutschen, deren „Schachtelbau“ („allerlei seltsam gestaltete angebissene Äpfel und Birnen“) ,das Erfassen des Substantivs hinauszögert. In der Erziehung zu diesem sinnvollen „Durchgliedern“ des Satzes aber sieht der alte Schulmann Rahn die besondere Aufgabe des Deutschunterrichts.
Fritz Rahn versucht außerdem, die starren Rechtschreibregeln an bestimmten Stellen aufzuweichen und so dem Schreibenden gewisse Freiheiten zu geben. Daß nicht alles einem noch ungefestigten Sprachgefühl überlassen werden darf, daß Leitregeln notwendig sind, weiß der pensionierte Oberstudienrat aus dreißigjähriger Praxis. Nur vom Duden als einer rein logisch begründenden, angeblich unfehlbaren Auskunftsquelle hält er nicht viel.
„Man hat erlebt, zu welch unerträglichen Spitzfindigkeiten gerade im Duden das heroische Bemühen geführt hat, wenigstens in der Schreibung den logischen Gesichtspunkt durchzupeitschen. In der Zwischenzeit haben wir gelernt, daß die Sprache lückenhaft ist, Behelfscharakter trägt und sich notwendig jeder durchgreifenden Systematisierung entzieht, und sollten endlich bereit sein, die Folgerungen daraus zu ziehen. Kein Reformplan der Welt wird in der Schreibung den Grundsatz konsequenter Logik durchführen können.“
Rahns eigene „Vorschläge zur Vereinfachung der Regeln“ sind knapp und klar formuliert:
* „Alle ungefühlten Substantivierungen von Adjektiven und Verben werden grundsätzlich klein geschrieben. -Leitregel: Nur wo der unverschleierte bestimmte oder unbestimmte Artikel steht, werden abgeleitete Hauptwörter
… groß geschrieben.“ (Zum Beispiel: das Neue – aber: etwas neues. Das Rudern – aber: er ist beim rudern.)
* Es wird eine Liste derjenigen Fremdwörter aufgestellt, die als Lehnwörter betrachtet und eingedeutscht werden.“ (Zum Beispiel: Foto, Frisör, Montör, Büro, Turist, fär und andere. Alle übrigen wie bisher .)
* In strittigen Fällen werden zusammengehörige Wörter getrennt geschrieben. (Zum Beispiel: nebenher gehen, hinterher laufen, Rad fahren).
* „Die Silben werden einheitlich nach Sprechsilben getrennt.“ („Kasten“, „Locken“, „-sten“, „Locken“, „Pä-da-go-gik“ statt bisher „Päd-ago-gik“).
Der Schulmann Fritz Rahn macht zugleich „Vorschläge zur schulischen Handhabung“, die jene Toleranzen des Regelsystems betreffen. „Um den Schwierigkeiten des Rechtschreibunterrichts in den Schulen gerecht zu werden, könnte eine Reihe von Fällen unfruchtbaren Schwierigkeitsgrades für die Schule freigegeben werden, dergestalt, daß zwar die gültige Regel gezeigt wird, daß aber Verstöße gegen diese gültigen Regeln nicht als Fehler angestrichen und gewertet werden dürfen. Diese Fälle sind die folgenden:
* „Die Schreibung aller substantivierten Adjektive, Pronomina, Zahlwörter und Verbalformen, soweit sie von einem ungelernten Sprachempfinden nicht ohne weiteres als Substantive zu fühlen und zu erkennen sind, wird freigegeben.“ (Zum Beispiel: er hält haus, tut not, fährt rad, gibt preis. – Die Dreizehn ist eine seltsame Zahl – aber: wenn auch dreizehn eine seltsame Zahl ist …; das Für und Wider …, aber: abgesehen von allem für und wider…) .
* „In strittigen Fällen dürfen zusammengesetzte Wörter getrennt geschrieben werden.“
* „Alle in der Umgangssprache gebräuchlichen Fremdwörter dürfen phonetisch geschrieben werden.“
Und der ergraute Lehrer kann sich die Anweisung nicht versagen:
* „Oberstufenschüler der höheren Schulen haben den Nachweis zu erbringen, daß die geltenden Regeln von ihnen beherrscht- werden.“
Diese Rahnschen „Vorschläge“ hat sich, wie es den Anschein hat, eine Institution zu eigen gemacht, die nach Namen und Anspruch eigentlich ernst genommen werden müßte: die Darmstädter „Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung“. Ihr eigenes Gutachten, das als Gegenvorschlag zu den von ihr abgelehnten Stuttgarter „Empfehlungen“ an die Ständige Konferenz der Kultusminister gerichtet wurde, enthält Gedanken und Vorschläge, die deutlich denen Fritz Rahns gleichen.
Rahn weiß, daß seine Gegner geneigt sind, in diesen Vorschlägen „einen faulen und lahmen Kompromiß zu sehen“, in deren Reformschrift ausgedrückt also einen „ferfelten forschlag“. Er glaubt aber, und steht damit nicht allein, daß seine Vorschläge: „vielleicht den rettenden Weg weisen, der die ständige Selbstkorrektur der deutschen Rechtschreibung verbürgt“.
Textprobe in Stuttgarter Reformschrift
Gesang der Geister über den Wassern
(Goethe)
Des menschen sele
gleicht dem wasser:
vom himmel kommt es,
zum himmel steigt es
und wider nider
zur erde muss es,
ewig wechselnd.
Strömt von der hohen,
steilen felswand
der reine stral,
dann staubt er liblich
in wolkenwellen
zum glatten fels,
und leicht empfangen,
wallt er verschleiernd,
leisrauschend,
zur tife nider.
Der Spiegel-Artikel von 1956 wird als PDF im Originalaussehen angeboten. Viele Bilder. 3,2 MB
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Norbert Lindenthal
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