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Reformer I: Nerius
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Theodor Ickler
17.10.2003 15.23
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Kommentar zu Nerius

(Der folgende Text wurde seinerzeit dem Landtag von Mecklenburg-Vorpommern zugesandt.)


Kommentar
zur Stellungnahme von Prof. Nerius zum Antrag der Volksinitiative „Wir stoppen die Rechtschreibreform“ (11.10.1999)

von Theodor Ickler




„Es wäre gewiß unzweckmäßig, eine Orthographiereform gegen die Auffassung breiter Teile des Volkes durchführen zu wollen.“ (Dieter Nerius 1980)


In seiner nachträglich vorgelegten Stellungnahme versucht Prof. Nerius zunächst, den Widerstand gegen die sogenannte Rechtschreibreform als eine Art Wiederholung der Diskussion vom Beginn des Jahrhunderts und als normale Begleiterscheinung solcher Reformversuche darzustellen. Mit seiner Formulierung, die Reform von 1901 sei "ähnlich umstritten“ gewesen, verwischt er jedoch entscheidende Unterschiede:
1. Es ist unbestrittener Konsens aller Kundigen, gerade auch der Reformer selbst, daß die II. Orthographische Konferenz 1901 keinerlei substantielle Neuerungen einführte, sondern lediglich ein paar noch verbliebene Schreibvarianten zurückdrängte, so das th in einer Handvoll deutscher Wörter. Demgegenüber führt die Reform von 1996 unerhörte Neuschreibungen ein, distanziert sich also – und das ist der fundamentale Unterschied – ganz bewußt vom Schreibgebrauch und der (zum Teil auch gegen den Duden eingetretenen) Entwicklung. All dies kann bis in die Einzelheiten in den Schriften von Prof. Nerius selbst nachgelesen werden, ebenso in meinen Schriften (s. Literaturverzeichnis). Übrigens war Deutschland 1901 eine Monarchie und die Bildungsschicht wesentlich dünner als heute, zwei Tatsachen, die die Vergleichbarkeit öffentlicher Diskussionen über solche Fragen auch ein wenig mindern.
2. Obwohl es für die gegenwärtige Diskussion irrelevant ist, möchte ich daran erinnern, daß die Regelung vom Anfang des Jahrhunderts ebenso wie frühere Rechtschreibwörterbücher sehr wohl Auskunft über die Getrennt- und Zusammenschreibung gab, und zwar im Wörterverzeichnis. Die doppelte Kodifizierung auch im Regelwerk ist dazu nicht unbedingt erforderlich, doch kam der Duden mit der Entwicklung einer solchen einem offenkundigen Bedürfnis der Schulen wie des Druckgewerbes entgegen. Die Neuregelung von 1996 hat zwar eine umfangreiche Regelung der Getrennt- und Zusammenschreibung versucht, dabei aber so schwere Fehler begangen, daß die Rechtschreibkommission, der Prof. Nerius angehört, in ihrem ersten Bericht vom Dezember 1997 zu dem Schluß kam, eine Änderung dieses Teils sei „unumgänglich notwendig“. Der für dieses Kapitel hauptverantwortliche Reformer Prof. Schaeder hat inzwischen zahlreiche Arbeiten vorgelegt, in denen er die Richtung der unumgänglich notwendigen Änderungen skizziert. In den nichtöffentlichen Beratungsgesprächen mit ausgewählten Wörterbuchredaktionen hat die Kommission bereits Hinweise zur künftigen, von der amtlichen Regelung kraß abweichenden Darstellung der Getrennt- und Zusammenschreibung gegeben. Die zweite Auflage des Bertelsmannwörterbuchs (Frühjahr 1999) löst sich bereits deutlich vom amtlichen Regelwerk, und der zu erwartende neue Duden wird dies noch deutlicher als bisher schon zeigen. (Schon jetzt sind übrigens alle bisher verkauften umgestellten Rechtschreibwörterbücher ungültig, da sie entweder gegen die amtliche Regelung verstoßen oder nicht die zu erwartende Reform der Reform berücksichtigen.)
3. Die Neuregelung bringt keine Erleichterung des Rechtschreibens, sondern im Gegenteil eine Erschwerung. Es treten völlig neue Fehlerquellen auf. Nachweise in meinen Schriften (s. Verzeichnis). Eine wirkliche Fehlerstatistik ist übrigens weder zur Vorbereitung noch zur nachträglichen Evaluierung von den Reformern oder ihren Auftraggebern erstellt worden. Die vom bayerischen Schulministerium verbreiteten Hinweise auf eine vom Münchner Institut für Schulpädagogik und Bildungsforschung vorgelegte „Untersuchung“ sind so haltlos, ja lächerlich, daß sie in letzter Zeit gar nicht mehr zu hören waren. Übrigens genügt es, einen Blick in die umgestellten Zeitungen zu werfen, um sich ein Urteil über Wert und Unwert der Reform zu bilden. Ich erwähne am Rande die unglaublich schwierige Bestimmung über das neue obligatorische Komma nach hinweisendem „es“ vor Infinitiven (§ 77 [5]). Prof. Nerius hat das stets falsch dargestellt und läßt daher auch in seiner Stellungnahme (S. 3) dieses Komma zu Unrecht weg – eine Kleinigkeit, gewiß, aber doch sehr bezeichnend.
4. Die Kosten der Reform sind nie ernsthaft geprüft worden. Der Verband der Schulbuchverleger spricht realistisch von Milliarden. Die Steuerausfälle durch Absetzbarkeit von Umstellungs- und Nachschulungskosten sind ebenfalls beträchtlich. Die Kosten einer „Rückkehr“ zur bisherigen Rechtschreibung (die ja noch fast die gesamte Herbstproduktion der Verlage beherrscht, ebenso in Betrieben, Anzeigen usw. ganz überwiegend gebräuchlich, darüber hinaus in ungeheuren Bibliotheksbeständen, in fast allen Schulbüchern usw. dokumentiert ist) wäre auf keinen Fall teurer, als es die bevorstehende, tatsächlich unumgängliche Reform der Reform sein wird.
5. Mit der „Rechtschreibinsel“ (ein sehr geschickt gewähltes Schlagwort, das seine Täuschungsfunktion bereits in Schleswig-Hostein vortrefflich erfüllte) verhält es sich in Wirklichkeit so: Alle Schüler in Deutschland befinden sich zur Zeit auf einer solchen Insel, denn die Schulorthographie wird außerhalb der Schule nirgendwo befolgt. Die Nachrichtenagenturen und Zeitungen haben sich in wesentlichen Punkten (Kommasetzung, Groß- und Kleinschreibung) gegen die amtliche Regelung entschieden. Anderes ist so fehlerträchtig oder wird so inkonsequent gehandhabt, daß die amtliche Regelung sich dem nicht entziehen wird.
Es ist erstaunlich, daß Prof. Nerius als Kommissionsmitglied mit keinem Wort erwähnt, wie weit die Kommission mit ihrer Arbeit an der Reform der Reform schon fortgeschritten ist.
Bei ihrer künftigen Arbeit (die entgegen den ursprünglich gehegten Erwartungen der Kultusminister noch auf lange Zeit in Reparaturen am mißglückten Reformwerk bestehen wird), soll die Kommission von einem Beirat beraten oder wohl besser beaufsichtigt werden. Ein Konzept für Besetzung und Funktion dieses Beirates haben die Kultusminister ausgearbeitet. Es liegt zur Zeit beim Bundesminister für Kultur.
Fazit: Die deutschen Schüler insgesamt müssen und werden ihren erzwungenen Aufenthalt auf der Rechtschreibinsel „Schulorthographie“ bald beenden. Je früher man diese nicht sehr erfreuliche Tatsache zur Kenntnis nimmt, desto besser.


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Th. Ickler

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Theodor Ickler
27.04.2001 10.01
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UNIVERSITÄT ROSTOCK
Philosophische Fakultät
Institut für Germanistik
Prof. Dr. Dieter Nerius



Rostock, den 11.10.99







Anhörung vor dem Ausschuss für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landtages Mecklenburg-Vorpommern am 06.10.1999





S t e l l u n g n a h m e



zum Antrag der Volksinitiative „Wir stoppen die Rechtschreibreform“
(Stichpunkte)

Empfehlung an den Landtag, sich gegen die Volksinitiative auszusprechen und die bereits eingeführte Neuregelung der deutschen Orthographie von 1996 beizubehalten.
Zwei Arten von Gründen sind für diese Empfehlung maßgebend:

1. Fachlich-inhaltliche Gründe
2. Politisch-rechtliche Gründe


Zu 1.
Die 1996 mit der gemeinsamen Absichtserklärung von Deutschland, Österreich, der Schweiz und einer Reihe weiterer Länder vereinbarte Neuregelung der deutschen Rechtschreibung löst die zum großen Teil 1901 festgelegte bisherige Rechtschreibregelung ab, die seinerzeit ähnlich umstritten war, wie das teilweise bei der heutigen Regelung der Fall ist (Beispiele). Diese Regelung von 1901 war wie die heutige ein Kompromiss, der zwar bestimmte Veränderungen gegenüber dem vorherigen Gebrauch vornahm, aber viele rechtschreibliche Probleme beibehielt und festschrieb, die sich im Laufe der Entwicklung ergeben hatten. Außerdem hatte das offizielle Regelwerk von 1901 erhebliche Lücken und enthielt beispielsweise keine Regelungen für die Getrennt- und Zusammenschreibung und die Interpunktion. Im Laufe der Zeit wurde die orthographische Regelung durch die Orthographiewörterbücher (Duden) ohne eine offizielle Legitimation nicht nur ergänzt um Regeln für diese Gebiete, sondern insgesamt immer weiter perfektioniert und
verkompliziert, was vielen Menschen die Beherrschung der geschriebenen Sprache sehr erschwerte (Hinweis Fehlerstatistiken).
Da es sich bei der Orthographie im Unterschied zu anderen sprachlichen Normen um eine Norm handelt, die von Menschen bewusst gestaltet und verändert werden kann, hat man mehrmals in diesem Jahrhundert versucht, die rechtschreiblichen Schwierigkeiten durch eine Änderung der Orthographie zu mindern und damit den Menschen den Zugang zur geschriebenen Sprache zu erleichtern sowie die negativen Auswirkungen einer vielfach unzureichenden Beherrschung der Orthographie zu verringern.
Aus mannigfachen Gründen gelang das bis zur Neuregelung von 1996 nicht. Diese ist der erste erfolgreiche Versuch einer partiellen Weiterentwicklung der deutschen Orthographie in unserem Jahrhundert, und zwar über Staatsgrenzen hinweg. Es ist ein insgesamt recht bescheidener Schritt, denn er ist das Ergebnis langer Verhandlungen und vielfacher Kompromisse unter den beteiligten Sprachwissenschaftlern und Politikern.
Das Ziel der Neuregelung besteht darin, durch einzelne inhaltliche Änderungen die Systemhaftigkeit unserer Rechtschreibung und den Generalisierungsgrad ihrer Regeln zu erhöhen, und zwar mittels Reduzierung von Ausnahmen und Sonderfällen, die sich im Laufe der Entwicklung ergeben haben. Damit wird die Erlernung und Beherrschung der Orthographie für den Sprachbenutzer in gewissem Umfang erleichtert, ohne dass die Kontinuität der Schrifttradition beeinträchtigt würde.
Diesem Ziel sind alle Änderungen der bisherigen Regelung verpflichtet, was sich in allen 6 Bereichen des Regelwerkes zeigen lässt.




Erläuterung an Beispielen aus den Bereichen: Laut-Buchstaben-Beziehungen
Groß- und Kleinschreibung
Getrennt- und Zusammenschreibung
Worttrennung
Interpunktion




Natürlich kann man über einzelne Änderungen unterschiedlicher Meinung sein und auch unter den Sprachwissenschaftlern gibt es darüber Differenzen, denn die Entscheidungskriterien verlagern sich von den stärker semantisch basierten der bisherigen Regelung in der Neuregelung häufig zu stärker formal grammatisch basierten, die eine leichtere Lehr- und Lernbarkeit ermöglichen. Bei objektiver Bewertung und ohne vorgefassten Unwillen erweist es sich, dass die eingeführte Neuregelung durchaus einen deutlichen Schritt in Richtung auf Systematisierung und Vereinfachung der Orthographie darstellt, der vor allem für die Schule erhebliche Vorteile bringt. Die Neuregelung ist in dieser Hinsicht nicht nur der bisherigen überlegen, sie ist auch deutlich besser als der Ruf, in den sie durch die starken und weit überzogenen Vorwürfe ihrer Gegner geraten ist. Starke Worte aber ersetzen keine Argumente, was sich auch an der Präsentation der Antragsteller zeigen lässt, die nicht nur die Kritik überzieht, sondern auch fehlerhaft ist.











Zu 2.
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juli 1998 in Sachen Orthographiereform kann die Strategie der Gegner der Neuregelung, diese von einem sich nicht anschließenden Bundesland her auszuhebeln, als gescheitert angesehen werden. Da nun auch das dafür ausersehene Bundesland Schleswig-Holstein den durch die seinerzeitige Volksbefragung verursachten Sonderweg wieder aufgibt und die neue Rechtschreibung ebenso praktiziert wie alle anderen Bundesländer, ergibt sich die Frage:



Was soll eigentlich mit der Volksinitiative gegen die orthographische Neuregelung für unser Bundesland MV erreicht werden? Im Falle des Erfolges wäre das Ergebnis doch, dass unser Land eine Rechtschreibinsel in Deutschland mit allen daraus erwachsenden negativen Konsequenzen würde, deren Abzeichnung gerade Schleswig-Holstein zur Aufgabe eines solchen Sonderstatus veranlasst hat. So würde sich auch das von den Reformgegnern weit überzogene Kostenargument geradezu ins Gegenteil verkehren, denn auf Dauer wäre es natürlich viel teurer einen orthographischen Sonderstatus aufrecht zu erhalten (eigene Schulbücher usw.). Wollen wir, um noch eine weitere Konsequenz zu nennen, unseren Kindern die Ausbildungs- und Berufschancen in Deutschland durch eine mecklenburg-vorpommersche Rechtschreibung erschweren? Das kann doch wohl das Ziel nicht sein! Also, was dann? Da man darauf eine akzeptable Antwort schuldig bleiben muss und die Konsequenzen eines solchen Schrittes nicht bedacht hat oder nicht sehen will, kann dem Landtag nur dringend empfohlen werden, dem Antrag der Volksinitiative nicht zuzustimmen.

Prof. Dr. D. Nerius
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Th. Ickler

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