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Bundestag, Versuch zur Dateigröße
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J.-M. Wagner
04.12.2004 21.34
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Aus dem Protokoll der 145. Sitzung (02.12.2004)

Ich kopiere hier einen Auszug aus dem Plenarprotokoll, das man von der Seite http://www.bundestag.de/bic/plenarprotokolle/pp/145/index.html abrufen kann („Hier haben Sie die Möglichkeit, die Protokolle der 145. Sitzung des Plenums des Deutschen Bundestages herunter zu laden.“ – Hervorhebung hinzugefügt, JMW); die Leerzeilen stehen so auch in der (entpackten) Datei http://www.bundestag.de/bic/plenarprotokolle/pp/145/15145q.zip:


Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter Nooke, Bernd Neumann (Bremen), Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Klarheit für eine einheitliche Rechtschreibung
- Drucksache 15/4261 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Vera Lengsfeld, Josef Philip Winkler und weiterer Abgeordneter
Die Einheit der deutschen Sprache bewahren
- Drucksache 15/4249 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)
Innenausschuss
Aussschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Günter Nooke, CDU/CSU-Fraktion.
Günter Nooke (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag hat in seiner bisher einzigen Befassung mit der Rechtschreibreform vor sechs Jahren festgestellt: „Die Sprache gehört dem Volk.“ An diesem kurzen Satz zeigt sich das ganze Dilemma, das uns heute beschäftigt. Das Thema Rechtschreibreform ist bekannt. Es dürfte keinen im Land geben, den es nicht betrifft. Ich kann mir also eine Zusammenfassung der Ereignisse ersparen.
(Jörg Tauss [SPD]: Ja, uns allen!)
Mir ist wichtig, festzuhalten – hören Sie zu, Herr Tauss –, dass sich die Unionsfraktion im Deutschen Bundestag mit einem Antrag deshalb zu dem Thema zu Wort meldet, weil die Verunsicherung in der Bevölkerung erschreckend ist.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Weil Sie sie verunsichert haben! – Dr. Uwe Küster [SPD]: Herr Nooke ist die allgemeine Verunsicherung!)
- Hören Sie zu, Herr Kollege Küster, dafür sind Sie zuständig. Die Tatsache, dass es im Bundestag möglich ist, dass zwei Anträge zum gleichen Thema in verschiedener Rechtschreibung erscheinen, ist legislative Schizophrenie. Unser Antrag fordert daher genau das, was der Titel verspricht: Klarheit für eine einheitliche Rechtschreibung; nicht mehr, aber auch nicht weniger.
(Jörg Tauss [SPD]: Das haben wir doch!)
Um es ganz klar zu sagen: Es war ganz sicher keine gute Idee, die Formulierung von Rechtschreibregeln zur Sache der Politik zu machen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Stellen Sie doch keine Anträge! Das ist überflüssig, was Sie machen!)
Was schon im Jahre 1995/96 auf der Konferenz der Kultusminister begann, hat in den vergangenen acht Jahren ein unglaubliches Chaos angerichtet.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Politik darf nicht Verwirrung stiften, sondern muss Verlässlichkeit erzeugen.
(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert)
Der Deutsche Bundestag befasst sich angesichts der jetzigen Situation also zu Recht mit der Rechtschreibreform.
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Nein!)
Der Notfall ist eingetreten.
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Auch nicht!)
Unser Antrag verhindert, dass der Eindruck entstehen könnte, der Deutsche Bundestag sei an Klarheit und Einheitlichkeit der deutschen Orthographie nicht interessiert. Zugleich sage ich aber noch einmal, dass das Aufstellen von Rechtschreibregeln nicht Aufgabe des Staates ist. Die Sprache gehört dem Volk.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Folgerichtig maßt sich unser Antrag nicht an, den Bundestag aufzufordern, Entscheidungen über die Kommasetzung zu treffen; wir bitten vielmehr die Kultusminister der Länder, eine verbindliche Regelung herbeizuführen und das Nebeneinander verschiedener Auffassungen und Schreibweisen zu beenden. Wir richten uns an die Kultusminister, weil wir die Lage realistisch einschätzen,
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Machen Sie es doch direkt und nicht über uns!)
nicht etwa weil wir die Adressaten für die richtigen halten. „Realistisch“ meint: Die Kultusminister sind angesprochen, weil sie sich die Zuständigkeit angeeignet haben. Sie haben sich in politischer Regelungswut am Heiligsten einer Kulturnation vergriffen: der Sprache.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Ach du lieber Gott!)
Sie müssen jetzt die Größe haben, ohne Ansehen der eigenen Person, wieder einen gemeinsamen Sprachnenner zu finden. Das müssen sie ein für allemal tun und dann müssen sie ein für allemal die Finger davon lassen, die Sprache noch einmal durch politische Eingriffe zu regeln.
(Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Mein lieber Schwan!)
Man interpretiert unseren Antrag nicht falsch, wenn man die Erwartung herausliest,
(Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Da steht doch gar nichts drin!)
- hör doch mal zu! – dass der Rat für deutsche Rechtschreibung Kompetenz und Möglichkeit haben muss, das Dilemma zu beenden. Dass dies nur möglich ist, wenn er tatsächlich alle relevanten Stimmen bündeln kann, ist selbstverständlich. Das Ziel kann nicht sein, so weiter zu machen wie bisher, nur mit neuen Gremien. Der designierte Vorsitzende des geplanten Rates für deutsche Rechtschreibung, Hans Zehetmair,
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Der war selber Kultusminister!)
forderte richtigerweise, dass sich die Politik in Zukunft aus der Debatte über die neuen Schreibregeln heraushalten solle.
(Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Was heißt denn „in Zukunft“?)
Nicht mehr die Politik, sondern der Rat wird die Reform begleiten. Das Gremium soll die Einheitlichkeit der Rechtschreibung im deutschen Sprachraum bewahren und das orthographische Regelwerk weiterentwickeln.
Ich habe meine Bemerkungen zu den Länderministern schon gemacht. Es ist wichtig, hinzuzufügen, dass sich die Weiterentwicklung der Orthographie an der guten Lesbarkeit der deutsch geschriebenen Texte orientieren muss und nicht etwa daran, wie es gelingen könnte, dass Schüler weniger Fehler beim Schreiben machen. Dieses falsche Denken, dieses Missverständnis ist mit dafür verantwortlich, dass man die Kultusminister für die Rechtschreibreform zuständig hielt. Wäre damals im Deutschen Bundestag die Frage gestellt worden, ob eine groß angelegte Reform notwendig sei und, wenn ja, ob die Kultusminister sich ihr widmen sollten, wäre die Antwort ein eindeutiges Nein gewesen.
(Beifall des Abg. Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP])
Mit derselben Klarheit, mit der ich diese Frage damals beantwortet hätte, muss ich aber heute sagen: Es ist geradezu absurd, zu denken, der Rechtschreibung in Deutschland und im deutschen Sprachraum sei am besten gedient, wenn es jetzt das Kommando „Zurück zur alten Rechtschreibung!“ gäbe.
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Ich sehe das anders!)
Politik hat die Aufgabe – immer dann, wenn sie am erfolgreichsten ist, macht sie das und nimmt sich die Freiheit –, in jeder neuen Situation neu nachzudenken. Dabei müssen wir uns, ob wir nun betroffen sind oder nicht, ob wir beteiligt waren oder nicht, die Entscheidung der letzten Jahre bewusst machen und diese berücksichtigen. Ich mache keinen Hehl daraus, dass es keine Werbeveranstaltung für Politik wäre, wenn eine alternde Politikergeneration, die vielleicht noch selbst eine ganze Schülergeneration in die neue Rechtschreibung getrieben hat, jetzt sagte: Es gilt wieder alles, was vor zehn Jahren richtig war. – Übrigens müsste man sich auch in Österreich und der Schweiz erst an solche deutsche Sprunghaftigkeit gewöhnen.
(Jörg Tauss [SPD]: Dann hören Sie doch auf mit dem Unfug!)
Als Kultur- und Medienpolitiker muss ich noch auf eines hinweisen, nämlich dass zwar „FAZ“, „Bild“, „Die Welt“ sowie andere Medien des Springer-Verlages die alte Rechtschreibung verwenden, aber – das ist interessant für manchen Abgeordneten – die Nachrichtenagenturen und sämtliche Lokalzeitungen bis auf eine die neue;
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Das stimmt nicht von den Nachrichtenagenturen! Das ist eine alte Meldung! Das hat sich geändert!)
von den Schulen und den staatlichen Einrichtungen, für die die neue Regelung verbindlich ist, ganz zu schweigen.
Also noch einmal zusammenfassend: Wir wollen mit unserem Antrag einfach Druck machen und eine schnelle und tragfähige Lösung einfordern. Wir halten es für unverantwortlich, dass Schüler in Deutschland im Deutschunterricht über Kommentare aus Zeitungen sprechen, für die es seit dem Sommer bezogen auf die Rechtschreibung die Note „ungenügend“ geben würde. Dass sich für die Schüler und Lehrer noch einiges ändern muss und vielleicht zurückgenommen werden kann, halte ich für zumutbar. Für den Erhalt der Vielfalt der schönen deutschen Sprache halte ich das auch für notwendig.
Aber auch manche Zeitungen haben die Kraftprobe mit der Politik vielleicht zu zeitig gesucht. Der „Spiegel“ ist sehr schnell wieder in Deckung gegangen.
(Jörg Tauss [SPD]: Sommertheater!)
Angesichts dieser Situation bin ich der Meinung, dass sich der Deutsche Bundestag der Frage der Rechtschreibung nicht verschließen kann und dass er in dem geschilderten Rahmen auch zuständig ist. Zuständig ist er schon deshalb, weil die Rechtschreibung der Sache nach einheitlich sein muss und nicht in das Belieben einzelner Länder gestellt werden kann. Unzweifelhaft ist auch die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik Sache des Bundes. Fazit: Wer sich dem wichtigen entschiedenen und entscheidenden Appell der CDU/CSU-Bundestagsfraktion verschließt, verkennt die Situation.
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So viele scheinen ja auch bei Ihnen nicht begeistert zu sein!)
Erlauben Sie mir zum Schluss noch eine Anmerkung in eigener parlamentarischer Sache. Herr Tauss, Sie haben sich hier so vehement eingesetzt. Es ist völlig unbegreiflich, warum die Führung Ihrer Fraktion mit großem Ehrgeiz die gewählten Vertreter mündiger Bürger im Deutschen Bundestag entmündigt, indem die Parole ausgegeben wurde, die Anträge der Opposition nicht zu unterstützen. Dieser aufgesetzte und an Künstlichkeit kaum zu überbietende Fraktionszwang in der Frage der Rechtschreibung macht das Parlament als Ganzes unglaubwürdig.
(Jörg Tauss [SPD]: Ach was!)
In dieser Frage, in der die richtungweisende Kraft des Parlaments – nicht der Exekutive – offensichtlich ist, lassen Sie sich Ihre Meinung vorschreiben, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen. Das kann ich nicht glauben.
Sie haben die Chance verpasst, sich mit einem eigenen Antrag zu diesem drängenden Thema zu Wort zu melden. Mit Ihrer vorgeschriebenen Ablehnung unserer Anträge können Sie nichts anderes als Ihr Desinteresse zeigen. Das ist, wie Sie selbst gut wissen, nicht nur unangemessen, sondern auch verantwortungslos.
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ihr Aktionismus ist verantwortungslos!)
Bei einem Thema, das alle interessiert, nichts anderes als Desinteresse zu zeigen, ist sicherlich nicht der richtige Weg. Das werden die Zeitungen in Ihren Wahlkreisen, denen das Thema durchaus nicht gleichgültig ist, zu kommentieren wissen, und zwar – wie es aussieht – in einer Rechtschreibung, zu der Sie offenbar keine Meinung haben.
(Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das war nun wirklich ein völliges Durcheinander!)
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:
Das wird der Kollege Eckhardt Barthel, dem ich nun das Wort für die SPD-Fraktion erteile, vermutlich zu einem großen Teil zurückweisen.
(Jörg Tauss [SPD]: Er wird es schärfstens zurückweisen! – Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Jetzt bin ich aber gespannt!)
Eckhardt Barthel (Berlin) (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der Rede von Herrn Nooke habe ich immer an eine kleine weiße Maus denken müssen, die sich im Laufrad bewegt. Es ist erstaunlich, mit welchem Pathos Sie hier etwas vertreten haben, das es gar nicht gibt.
(Günter Nooke [CDU/CSU]: Der Wille zur Einheit!)
- Ja, der Wille zur Einheit.
Ich möchte erst einmal jemandem viel Erfolg für seine Arbeit wünschen, und zwar Herrn Zehetmair, der höchstwahrscheinlich am 17. Dezember den Vorsitz im Rat für deutsche Rechtschreibung übernehmen wird. Er ist auch unser Kollege in der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“. Ich glaube, er braucht Unterstützung und vor allem Erfolg. Er selbst gehört zu denen, die genauso wie ich vieles kritisch sehen. Wir sollten ihn in dem Versuch unterstützen, die Gegner und die Anhänger der Reform irgendwie zusammenzubringen und das zu erreichen, was auch Sie wollen, nämlich Einigkeit. Das ist nur auf diesem Weg möglich. Alles andere bedeutet ein Vortäuschen falscher Realitäten.
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Grietje Bettin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Sie haben Herrn Zehetmair zitiert, Herr Nooke. In der „Welt“, die Ihnen sicherlich nahe steht, Herr Nooke, lautet die letzte Frage an Herrn Zehetmair: Was halten Sie davon, dass sich der Bundestag der Rechtschreibung noch einmal annehmen will? – Die Antwort ist eindeutig: Das ist ein Irrweg.
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Grietje Bettin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Wenn Sie schon Herrn Zehetmair zitieren, dann bitte richtig!
Wir beraten heute zwei Anträge. Ich kann zusammenfassend feststellen: In dem Antrag der CDU/CSU steht nichts Neues – er enthält nämlich nichts anderes als das, was mit dem Rat bereits umgesetzt worden ist – und in dem anderen Antrag wird zu viel gefordert und das auch noch – das muss ich an dieser Stelle hinzufügen – viel zu spät.
Erlauben Sie mir noch eine kurze Fußnote. In der Presse wurde darüber berichtet, dass der eine Antrag in der alten Rechtschreibung formuliert wurde und der andere in der neuen.
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Hört! Hört!)
Ich habe mich gefragt, welcher das ist. Ich gestehe, dass ich es beim Lesen nicht habe feststellen können. Vielleicht bin ich der Einzige. Erklären Sie es mir!
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Dreimal darfst du raten!)
Ich bin zwar voll gegen den Gruppenantrag, weil sein Inhalt falsch ist. Aber er ist ehrlicher als der Antrag der CDU/CSU; denn im Gruppenantrag wird mit der Forderung nach völliger Rücknahme der Rechtschreibreform klar Position bezogen. Angesichts der aktuellen Föderalismusdebatte finde ich es aber ein bisschen anmaßend, wie Sie auf Bundesebene den einheitlich gefassten Beschluss der Ministerpräsidenten, die dafür zuständig sind, quasi aufheben wollen. Herr Otto, ich finde es ein bisschen happig, wie weit Sie dort gehen. Ich möchte Ihnen folgenden Satz aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Zuständigkeit zitieren: Regelungen über die richtige Schreibung für den Unterricht in den Schulen fallen in die Zuständigkeit der Länder.
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Aber die Sprache ist nicht nur in der Schule!)
Wir wollen doch – genauso wie Sie in Ihrem Antrag – die Einheitlichkeit der Sprache gewährleisten. Wer das will, kann nicht fordern, dass nur der Bund zuständig sein soll.
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Wir reden doch nicht über die Schulen, sondern über die gesamte deutsche Sprache!)
- Eben, Herr Otto, wir wollen aber eine einheitliche deutsche Sprache. Darüber sollten wir uns doch einig sein.
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Aber dafür haben die Kultusminister keine Kompetenz!)
Der Rechtschreibreform einige Zähne zu ziehen – in der Tat gibt es mehrere Stellen, an denen man sich fragt, wie das zustande gekommen ist – wird die Aufgabe des Rates für deutsche Rechtschreibung sein; das ist die einzige Chance. Wenn er es nicht schafft, ist der Zug abgefahren. Deshalb unterstütze ich den Rat und nicht Schauanträge. Wenn die Anträge, die wir heute überweisen, aus den Ausschüssen irgendwann zurückkommen, dann hat der Rat – so hoffe ich jedenfalls – einen großen Teil seiner Arbeit schon erfolgreich erledigt.
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Schauen wir mal!)
Sie wärmen sich die Hände an einem populistischen Feuer. Mehr ist das nicht, was Sie hier machen.
Lassen Sie mich zum Schluss den Deutschen Kulturrat zitieren, der wohl auch etwas mit Sprache zu tun hat:
Man kann nur hoffen, dass die unendliche Geschichte Rechtschreibreform nach der Kultusministerkonferenz jetzt nicht auch noch den Deutschen Bundestag dauerhaft beschäftigen wird.
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Danke schön.
(Beifall bei der SPD)
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Barthel, schon die Redezeitbegrenzung steht der dauerhaften Beschäftigung des Bundestages wirkungsvoll im Wege.
Nun hat der Kollege Hans-Joachim Otto für die FDP-Fraktion das Wort.
Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP):
Der Deutsche Bundestag ist der Überzeugung, dass sich die Sprache im Gebrauch durch die Bürgerinnen und Bürger, die täglich mit ihr und durch sie leben, ständig und behutsam organisch weiterentwickelt. Mit einem Wort: Die Sprache gehört dem Volk.
Dies, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat dieses Hohe Haus im März 1998 mit Mehrheit beschlossen.
(Beifall der Abg. Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] sowie des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Genau hiergegen verstößt die Rechtschreibreform und genau hier liegt der Kardinalfehler.
(Beifall des Abg. Ernst Burgbacher [FDP] sowie der Abg. Vera Lengsfeld [CDU/CSU] und der Abg. Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN] und des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Es war ganz sicher ein Fehler, zu glauben, dass man die sensible, dynamische Struktur einer Sprache in eine staatliche Verordnung zwängen könnte.
Ausgerechnet derjenige, der dies sagte, ist jetzt beauftragt, die deutsche Sprache in eine staatliche Verordnung zu zwängen. Es ist der designierte Vorsitzende des Rates für deutsche Rechtschreibung, Hans Zehetmair. An dem jahrhundertelang in Deutschland, aber auch in den allermeisten anderen europäischen Kulturnationen bewährten Gebot einer behutsamen und organischen Sprach- und Rechtschreibentwicklung durch das Volk haben sich die Bürokraten der zwischenstaatlichen Kommission versündigt.
(Jörg Tauss [SPD]: Sind die Schweiz und Österreich keine Kulturnationen? Da gibt es überhaupt keine Debatte!)
Sie folgten bewusst oder unbewusst der Ideologie eines Initiators der Reform, des SED- und PDS-Mitglieds Dieter Nerius, der die Rechtschreibreform wörtlich bezeichnete als „eine Maßnahme der Sprachlenkung, die nur vom Staat durchgesetzt werden kann“.
(Jörg Tauss [SPD]: Quark!)
Staatliche Sprachlenkung ist genau das, was die Unterzeichner des Gruppenantrags jetzt und für alle Zukunft verhindern möchten.
(Jörg Tauss [SPD]: Die zwischenstaatliche Kommission bestand nur aus Wissenschaftlern, Herr Otto!)
- Lieber Herr Tauss, Sie sollten lieber schweigen.

Es sind weit mehr Kolleginnen und Kollegen, die den Inhalt dieses Gruppenantrags unterstützen. Ich nenne hier die Kollegin Dr. Vollmer und den Kollegen Winkler von den Grünen – ich hoffe, ich schade ihnen nicht –, die diese Position inhaltlich teilen.
(Zuruf des Abg. Jörg Tauss [SPD])
Eine nicht geringe Zahl von Kollegen aus Ihrer Fraktion, lieber Herr Tauss, haben mir gesagt, sie würden diesen Antrag gern unterstützen, sähen sich daran aber durch den Druck Ihrer Fraktionsführung gehindert. Das ist ein Armutszeugnis für die Fraktionsführung.
(Günter Nooke [CDU/CSU] an die SPD gewandt: Doch, doch! Das müsst ihr schon einsehen!)
Es gab in der deutschen Geschichte schon einmal einen Versuch staatlicher Sprachlenkung, nämlich die Rechtschreibreform von 1876. Schon damals scheiterte der Versuch nachhaltig. Auch die jetzige Rechtschreib-reform ist grandios gescheitert. Sie hatte zwei zentrale Ziele:
Erstens: die einfachere Erlernbarkeit. Das Gegenteil ist eingetreten. Nach einer jüngst veröffentlichten Untersuchung hat die Rechtschreibreform das Erlernen der Orthographie nicht etwa vereinfacht, sondern, im Gegenteil, erschwert. Die Anzahl der Regeln hat nicht ab-, sondern zugenommen.
Zweitens: die Einheit der deutschen Sprache. Dieses Ziel ist – das ist nun wirklich unbestreitbar – wirklich völlig verfehlt worden. Das Gros der Schriftsteller, darunter die Nobelpreisgewinner Günter Grass und Elfriede Jelinek, die führenden Buchverlage, die bedeutendsten Zeitungen und Zeitschriften, die gesamte deutsche Schreibkultur, nicht zuletzt zwei Drittel des deutschen Volkes – Sie wollen doch noch immer eine Volkspartei sein – haben sich von der Neuschreibung mit Grausen abgewandt.
(Jörg Tauss [SPD]: Was?)
Wer die Einheit der deutschen Sprache will – wir wollen sie –, der muss von einer staatlich verordneten Schlechtschreibreform konsequent Abstand nehmen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Antje Vollmer [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN] – Günter Nooke [CDU/CSU]: Das heißt aber nicht zur alten zurück!)
Abschließend möchte ich noch auf einige Einwände eingehen:
Der Bundestag ist – Herr Schmidt, das sagen Sie doch immer – unzuständig. Ich frage Sie, warum die Bundesregierung das entscheidende Dokument, nämlich die „Wiener Absichtserklärung“, mit unterzeichnet hat. Die Bundesregierung hat mit verhandelt und mit unterzeichnet. Wir Bundestagsabgeordneten sind in jedem Fall berechtigt, einen Appell an die KMK zu richten.
Abwegig ist auch der Hinweis auf angebliche Mehrkosten: Selbst die glühendsten Verfechter der Reform
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Zum Beispiel die hier nicht anwesenden FDP-Mitglieder!)
wollen nochmals nachbessern. Die Schulbücher müssen also ohnehin umgeschrieben werden.
Nun zum Hinweis auf die Schüler, die die neuen Regeln bereits gelernt haben.
(Jörg Tauss [SPD]: Sehr gut sogar!)
Antje Vollmer hat völlig Recht: Wir müssten uns bei den Schülern entschuldigen,
(Jörg Tauss [SPD]: Warum?)
sie das Falsche gelehrt zu haben. Unsere Bereitschaft, aus Fehlern zu lernen und sie für die Zukunft zu korrigieren, hat im Übrigen Vorbildfunktion, vor allem für Kinder.
Zum Abschluss noch ein Wort zum viel zitierten Rat für deutsche Rechtschreibung. Dass dies eine bloße Alibiveranstaltung ist,
(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])
in der sich die Bürokraten eine satte Mehrheit gesichert haben, belegt der wohl begründete Rückzug des P.E.N.-Zentrums und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Den designierten Vorsitzenden dieses Rates, den von mir wirklich sehr geschätzten Hans Zehetmair, möchte ich an seine eigene Erkenntnis vom vergangenen Jahr erinnern.
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:
Sie müssen sich jetzt aber sehr beeilen. Ich hoffe, das ist Ihnen klar, Herr Kollege.
Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP):
Das tue ich. Ich zitiere noch Herrn Zehetmair und dann bin ich fertig.
Zehetmair sagte:
Wir hätten die Rechtschreibreform nicht machen dürfen. Die Politik darf sich nicht anmaßen, die Sprache zu reglementieren.
Lieber Hans Zehetmair, auch der Rat darf sich nicht anmaßen, die Sprache zu reglementieren. Geben Sie die Sprache dem Volk zurück! Verzichten Sie auf eine staatlich verordnete Rechtschreibreform.
Vielen Dank.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Antje Vollmer [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN] und des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das war völlig daneben!)
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:
Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Winkler das Wort.
(Jörg Tauss [SPD]: Kollege Winkler, nun stellen Sie das mal richtig! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Jetzt wird es auch nicht besser!)
Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Das werden wir ja gleich sehen, Herr Schmidt. – Herr Präsident! Da mich der Kollege Otto hier unerhörterweise angesprochen hat, muss ich jetzt zu meinem Verhalten, was den Antrag betrifft, doch Stellung nehmen.
Zum einen ist es so – auch Sie haben das schon erleben können -: Das Verhalten eines Abgeordneten einer Regierungsfraktion wird manchmal mehr in geordnete Bahnen gelenkt, als man es sich als frei gewählter Abgeordneter wünscht. In diesem Fall war es so, dass die Vorstände beraten und sich darauf geeinigt haben, diese Abstimmung nicht freizugeben. Vermutlich hat man gedacht, Ihrem Antrag, Herr Kollege Otto, werde gefolgt, wenn man die Abstimmung darüber freigibt. Dementsprechend habe ich mich dazu hinreißen lassen, meine Unterschrift zurückzuziehen, obwohl ich Ihren Antrag vollinhaltlich unterstütze. Das will ich hier noch einmal sagen.
(Beifall des Abg. Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP])
Zum anderen sagen die Befürworter, man dürfe es den Kindern nicht antun, die Reform jetzt wieder zurückzunehmen. Das ist, finde ich, eine perfide Argumentation; denn die, die von Anfang dagegen waren, haben gerade der Kinder wegen davor gewarnt, diese komplette Umstellung vorzunehmen. Das ist eine Verdrehung der Tatsachen.
(Beifall der Abg. Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP])
Der Herr Zehetmair gehört auch zu denen, die die Reform gegen die breite Öffentlichkeit in Deutschland durchgepeitscht haben. Es ist ein Treppenwitz der Weltgeschichte, wenn der, der das gegen den Widerstand der breiten Öffentlichkeit durchgesetzt hat, jetzt den Vorsitz übernimmt und sagt, es sei ein Irrweg, wenn sich der Bundestag damit befasse.
(Beifall der Abg. Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] sowie des Abg. Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP] – Günter Nooke [CDU/CSU]: So ist es!)
Das ist überfällig. Es ist eine Schande, dass Herr Zehetmair diesen Vorsitz übernimmt. Die Zusammensetzung des Gremiums ist völlig inakzeptabel. Meiner Meinung nach ist es richtig, dass sich die Reformgegner nicht darauf einlassen, da mitzuarbeiten.
Wenn die Anglizismen, deren Übernahme immer wieder heftig kritisiert worden ist, der GAU waren, dann ist die Rechtschreibreform der Super-GAU der deutschen Sprache.
Herzlichen Dank.
(Beifall der Abg. Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] sowie des Abg. Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP] und der Abg. Vera Lengsfeld [CDU/CSU])
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:
Das war eine bemerkenswerte Kurzintervention, die insbesondere wegen der subtilen Hinweise auf das gelegentliche Spannungsverhältnis zwischen individueller Meinungsbildung und Absichten der eigenen Fraktion keiner Erwiderung des Angesprochenen bedarf,
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Richtig!)
was uns Redezeit spart.
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Es wäre schon interessant, wie er abstimmt! – Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Wo der Präsident Recht hat, hat er Recht! – Gegenruf des Abg. Jörg Tauss [SPD]: Der Präsident hat meist Recht! – Zuruf von der CDU/CSU: Er formuliert das immer so schön!)
- Nach der Geschäftsordnung hat er immer Recht. Damit können wir das abschließen.
Nun hat die Kollegin Grietje Bettin das Wort.
Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine liebe Kolleginnen und Kollegen! Ehrlicherweise muss ich wohl sagen, dass ich an der Rechtschreibreform ebenso wenig Freude hatte, wie ich Freude an der Diskussion habe, die wir heute führen, nämlich an der Diskussion darüber, sie wieder rückgängig zu machen.
(Beifall der Abg. Ekin Deligöz [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN] sowie des Abg. Jörg Tauss [SPD] – Günter Nooke [CDU/CSU]: Das ist humorlos!)
Es war schon damals ein öffentliches Ärgernis. Kaum jemand in Deutschland konnte so richtig verstehen,
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Richtig! So weit ist das richtig!)
warum die Reform überhaupt notwendig war. Entsprechend negativ war dann auch die öffentliche Stimmung.
Doch damit nicht genug: In meinem Heimatland Schleswig-Holstein wurde die Reform der Rechtschreibung durch einen Volksentscheid gestoppt,
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Richtig! Stimmt!)
aber nur für ein Jahr; denn im Sinne der gesamtstaatlichen Verantwortung und der nationalen Identität, die in den heute vorliegenden Anträgen vielfach beschworen werden, musste die Landesregierung ein Jahr später – gemeinsam übrigens mit der CDU-Opposition – diesen Entscheid missachten.
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Das war echte Basisdemokratie!)
Sie erklärte gegen den entschiedenen Willen der Bevölkerungsmehrheit die Rechtschreibreform wieder für verbindlich. Man hatte keine andere Wahl. Der Schaden für die schleswig-holsteinischen Schülerinnen und Schüler, die Schulen und nicht zuletzt auch die Schulbuchverlage wäre einfach zu groß gewesen. Auf die Schlussfolgerungen aus diesem unerfreulichen Beispiel für die föderale Ordnung will ich hier nicht zu sprechen kommen.
Absurd waren allerdings manche Abwehrversuche der Reformgegner. Eltern klagten im Namen ihrer Kinder dagegen, dass ihre Sprösslinge die neue Rechtschreibung in der Schule erlernen – mit dem Ergebnis, dass diese für die Dauer des Deutschunterrichts die Klasse verlassen mussten, um in einem Extraraum ganz allein einen gesonderten Unterricht zu genießen.
(Jörg Tauss [SPD]: Das ist unglaublich!)
Effektiver kann man ein Kind nicht zu einem Außenseiter stempeln.
(Beifall der Abg. Ekin Deligöz [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN] sowie des Abg. Jörg Tauss [SPD])
Eine simple Kehrtwende zur alten Rechtschreibung mehr als ein halbes Jahrzehnt nach der Einführung der neuen Rechtschreibung halte ich politisch für absolut nicht verantwortbar. Diejenigen, die mit der neuen Rechtschreibung Schwierigkeiten haben und am lautesten „Zurück!“ rufen, haben früher in der Schule die alte Rechtschreibung gelernt und haben einfach keine Lust, sich umzustellen. Das ist verständlich; das geht mir zum Teil auch so.
(Beifall der Abg. Ekin Deligöz [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN] sowie des Abg. Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD] und des Abg. Jörg Tauss [SPD])
Völlig unverständlich aber ist, dass nun gerade den betroffenen Schülerinnen und Schülern zugemutet werden soll, nach wenigen Jahren noch einmal umzulernen.
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Die müssen doch sowieso umlernen! Die Regeln werden doch umgeschrieben!)
Wir als Abgeordnete können schreiben, wie wir wollen; aber Schülerinnen und Schüler haben keine Wahl.
(Günter Nooke [CDU/CSU]: Nein! Die Gesetzblätter können nicht erscheinen, wie sie wollen!)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist der entscheidende Punkt, der in diesem Gruppenantrag leider kaum Berücksichtigung findet: Die Leidtragenden – -
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Kollegin Bettin, Ihr Hinweis, dass Abgeordnete schreiben könnten, wie sie wollten, veranlasst den Kollegen Otto zu einer Zwischenfrage.
Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Bitte, Herr Kollege Otto.
(Zuruf des Abg. Jörg Tauss [SPD])
- Wir kontrollieren in Zukunft mal, wie er schreibt.
Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP):
Liebe Frau Kollegin Bettin, nachdem Sie eben gewarnt haben, dass die Schüler noch einmal umlernen müssten, möchte ich Sie fragen, welche Funktion der Rat für deutsche Rechtschreibung überhaupt haben soll, wenn er nicht neue Änderungen einführen soll?
(Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Das ist ein Prozess, Herr Kollege!)
Sind Sie nicht mit mir der Auffassung, dass die Schüler und auch die deutsche Öffentlichkeit ohnedies erneut gezwungen werden sollen, zum fünften Mal mit neuen Änderungen an der Reform, mit einer Reform der Reform umzugehen? Müssen die Schüler nach dieser Murksreform nicht sowieso erneut umlernen?
(Beifall der Abg. Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] sowie des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Es ist so, dass sich Sprache permanent weiterentwickelt und wir auch immer wieder neu dazulernen müssen. Wir haben immer klar gesagt, dass man da in vielen Bereichen keine Vorschriften machen kann. Nichtsdestotrotz ist es jetzt so, dass die Schulbücher gemäß den Vereinbarungen der neuen Rechtschreibung angepasst wurden. Daran müssen wir jetzt festhalten.
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Sie müssen wieder umgeschrieben werden!)
- Sie müssen nicht in der Form umgeschrieben werden, wie es bei Einführung der neuen Rechtschreibung der Fall war. Der Ehrlichkeit halber sollten wir uns schon eingestehen, dass es nicht zu substanziellen Veränderungen durch Vorschläge dieses Rates kommen wird.
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Ob das Herrn Zehetmair gefällt?)
- Das weiß ich nicht. Es geht aber hier nicht darum, Herrn Zehetmair zu gefallen.
Ich möchte noch auf einen entscheidenden Punkt eingehen, der auch im Gruppenantrag nicht berücksichtigt wurde. Die Leidtragenden einer Rechtschreibreform sind nicht „FAZ“-Leserinnen und -Leser und einige große Zeitungsverlage, auch wenn sich diese als besonders gebeutelt hinstellen und vor Selbstmitleid fast zerfließen. Dieses Verhalten der Verlage hat maßgeblichen Anteil an der derzeitigen Verunsicherung der Bevölkerung. Die unabgestimmte und teilweise reißerisch begleitete Rückkehr zur alten Rechtschreibung zeugt nicht gerade von Verantwortungsbewusstsein in den Chefredaktionen.
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Starker Tobak!)
Das muss ich auch als Medienpolitikerin leider feststellen.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN sowie bei der SPD)
Die Betroffenen einer Rücknahme der Reform wären die Schülerinnen und Schüler, vor allem diejenigen, die das Schreiben und Lesen erst noch lernen müssen. Diesen Aspekt in der Argumentation außen vor zu lassen, zeugt von Ignoranz gegenüber der PISA-Erkenntnis,
(Beifall bei der SPD)
gemäß der deutschen Schülerinnen und Schülern das Erlernen von Lesen und Schreiben in der Schule ohnehin nicht besonders leicht fällt. Ich halte deshalb ein Ein-knicken und ein Zurück zur alten Rechtschreibung für bildungspolitisches Abenteurertum, übrigens auch aus Kostengründen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Ernst Burgbacher [FDP])
Allein für neue Schulbücher müssten dreistellige Millionenbeträge ausgegeben werden. Dieses Geld würde an anderer Stelle fehlen.
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Das ist doch Quatsch! Die müssen sowieso geändert werden!)
In Niedersachsen und im Saarland, wo es keine Lehrmittelfreiheit mehr gibt, müssten die Eltern wieder neue Bücher bezahlen.
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Dünne Argumentation!)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben im Bildungsbereich wirklich Wichtigeres zu tun,
(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])
als Geld für eine sich ständig ändernde Orthographie zusammenzukratzen. Wir brauchen das Geld dringend für besseren Unterricht, für mehr Ganztagsschulen und viel frühere Förderung. Die in den letzten Tagen erschienene OECD-Studie zu den Kindergärten sagt uns doch eindeutig, wohin die Reise gehen soll.
Natürlich darf der Bundestag über solch ein Thema von nationaler Bedeutung auch dann beraten, wenn er selbst hierfür keine Gesetzgebungskompetenz hat.
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Ich danke Ihnen! Das ist doch wirklich großzügig!)
Der Antrag der Unionsfraktion mit dem Titel „Klarheit für eine einheitliche Rechtschreibung“ greift durchaus einige wichtige Punkte der Debatte auf. Einige Teile der darin enthaltenen Analyse sind meines Erachtens durchaus treffend formuliert.
(Verena Butalikakis [CDU/CSU]: Danke!)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, meiner Meinung nach steht die KMK hier in der Verantwortung und muss im Interesse der Schülerinnen und Schüler handeln. Ich hoffe, alle Beteiligten und insbesondere die Medien nehmen ihre Verantwortung für die nachfolgende Generation wahr, indem sie zu einer konstruktiven Lösung des Problems beitragen. Auch wir als Abgeordnete haben grundsätzlich diese Verantwortung wahrzunehmen. Ich finde, dass diese Debatte bisher reichlich rückwärts gewandt war.
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Vorwärts gewandt!)
Deshalb hoffe ich, dass wir bei der Diskussion in den Ausschüssen doch gemeinsam zu einer Lösung des Problems kommen.
Danke schön.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN sowie bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Wir beerdigen dort die Anträge!)
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin Steinbach das Wort.
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Nein! Das muss doch nicht sein! Wenn sie keine Redezeit bekommt, ist das doch nicht unser Bier!)
Erika Steinbach (CDU/CSU):
Liebe Kollegin, man muss schon sagen, Ihre Argumente hinken auf beiden Beinen. Sie haben aus Schleswig-Holstein berichtet und wollten damit plausibel machen, warum man eine Rechtschreibreform, die erst einmal probeweise eingeführt worden ist, nach Ende der Probezeit auf keinen Fall mehr rückgängig machen könnte. Sie sagten, das Ganze würde keinen Sinn machen.

Dann darf man die Reform nicht probeweise einführen, sondern muss sie von Anfang an endgültig einführen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Zweitens. Wir können als Politiker natürlich tagtäglich prachtvoll über die Meinung unserer Bürger hinweg-regieren und -agieren. Ob das besonders klug ist, möchte ich mit drei Fragezeichen versehen.
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Und das gerade von den Grünen! Basisdemokratie!)
Es kommt noch eines hinzu: Die gesamte intellektuelle schreibende Zunft hat sich gegen diese Rechtschreibreform gewandt. Gestern Abend erst hat Günter Grass im Nachbargebäude der Dresdner Bank gesagt, er sei empört über diese Rechtschreibreform. Er hat auch seine Gründe dargelegt. Günter Grass ist nun kein Niemand, sondern er hat ein profundes Wissen.
Meine lieben Freunde, es wird immer mit dem, was die Kinder schon gelernt haben, argumentiert. Die übergroße Mehrheit in unserem Lande schreibt nach den alten Rechtschreibregeln oder ist inzwischen so irritiert, dass sie überhaupt nicht mehr richtig schreiben kann. Zu dieser Gruppe gehöre ich inzwischen. Es ist alles sehr kompliziert. Man kann eigentlich nur noch mit Goethe sagen:
Oh glücklich, wer noch hoffen kann, aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen. Was man nicht weiß, das eben brauchte man, und was man weiß, kann man nicht brauchen.
(Beifall bei der CDU/CSU, dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:
In der Zwischenzeit hat der Kollege Schmidt mir mitgeteilt, er fühle sich wie alle anderen Kollegen von dieser Kurzintervention persönlich unmittelbar angesprochen, verzichte aber nach gutem Zureden des Präsidenten auf die Möglichkeit einer Erwiderung. Das möchte ich ausdrücklich lobend festhalten.
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Vielen Dank, Herr Präsident! – Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Selbstlobend festhalten!)
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Heinrich-Wilhelm Ronsöhr für die CDU/CSU-Fraktion.
(Jörg Tauss [SPD]: Goethe hätte jetzt antworten können, aber der hätte Sie verrissen!)
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, auch nach den beiden Kurzinterventionen, dass es Not tut, in dieser Debatte endlich ein Stück weit ehrlicher zu werden. Wenn wir an der Reform überhaupt nicht rütteln dürften, Frau Bettin, gäbe es ja den Rat für deutsche Rechtschreibung mit dem desi-gnierten Vorsitzenden Herrn Zehetmair nicht.
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: So ist es!)
Letztlich sehen doch auch diejenigen, die die Rechtschreibreform eingeführt haben, Reformbedarf, weil sie manches für nicht plausibel halten.
(Jörg Tauss [SPD]: Das ist ein Prozess!)
- Ich habe Frau Bettin angesprochen, weil sie das nachhaltig bestritten hat. – Ich finde es falsch, jetzt damit zu argumentieren, die Schulbücher müssten neu gestaltet werden. Die müssen auch neu gestaltet werden, wenn Herr Zehetmair und seine Kommission ihre Arbeit abgeschlossen haben; denn er hat schon einigen Änderungsbedarf angekündigt.
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: So ist es!)
Wir sollten bitte ehrlich zugeben, dass die Rechtschreibreform viele Verwirrungen hinterlassen hat. Sprache, auch die geschriebene Sprache, soll faszinieren. Nach meinem Eindruck ist das Einzige, was in Deutschland noch fasziniert, die Verwirrung über die Rechtschreibreform.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN] und Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wer erzeugt die denn?)
Insofern hoffe ich wirklich – das hoffe ich gemeinsam mit Ihnen, Herr Barthel –, dass der Rat für deutsche Rechtschreibung erkennt, wie wichtig unsere Aufgabe ist.
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Haben wir keine anderen Themen als solch läppischen Kram?)
Ich lege ja nicht, wie Herr Zehetmair in der „Welt“ unterstellt hat, ein Regelwerk für die Rechtschreibung fest, sondern ich mache meine Sorge deutlich, dass es zu einer uneinheitlichen Rechtschreibung in Deutschland kommt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Dann erzählen Sie das dem „Spiegel“, der „Frankfurter Allgemeinen“ oder sonst wem!)
Natürlich kann man sagen: Die Schüler müssen so schreiben, wie es die Kultusminister festgelegt haben. Das ist richtig. Aber wenn die Schüler die Einzigen sind
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: So ist das!)
und Verlage oder Schriftsteller nach den alten Regeln schreiben – Frau Steinbach hat eben zu Recht darauf hingewiesen –, dann lernen die Schüler nur für die Schule, aber nicht für das Leben. Deshalb gilt es, die Rechtschreibregeln wieder mit mehr Akzeptanz zu versehen. Wir können die Reform nur dann noch erfolgreich gestalten, wenn wir Herrn Zehetmair und seine Kommission befähigen, das Reformwerk so auszugestalten, dass es zu einer größeren Akzeptanz der Regeln kommt. Ich denke zum Beispiel an die verwirrenden Regeln bei Trennungen oder bei eingedeutschten Anglizismen, auf die Sie zu Recht hingewiesen haben und aus denen manche Fehler herrührt. Oft weiß man wirklich nicht, weshalb ein Begriff so und nicht anders geschrieben wird.
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie sollten eine Quotenregelung einführen!)
In der Rechtschreibreform fehlt es an einer Plausibilitätskontrolle. Das zu verbessern und zu verändern, aber andererseits eine Einheitlichkeit bei der Rechtschreibung zu erhalten, ist, glaube ich, ungemein wichtig. Von daher ist unser Antrag sinnvoll.
Meine Damen und Herren, wenn der Bundestag sich bei der Sprache nicht einmal dieses Themas annehmen darf, dann verstehe ich unsere Aufgabe nicht richtig.
(Beifall des Abg. Günter Nooke [CDU/CSU])
Dann können wir auch den Kulturausschuss gleich wieder einstampfen. Denn ich glaube, dass Sprache ein ganz wichtiges Anliegen des Kulturausschusses und damit auch des Deutschen Bundestages ist. Ich finde es von daher richtig, dass der Bundestag sich heute dieser Diskussion annimmt, vielleicht auch mit unterschiedlichen Akzenten.
Hoffentlich gelingt es wirklich, die unterschiedlichen Stränge wieder zusammenzuführen. Für mich ist es ungemein wichtig, dass wir das Sinnvolle an der Reform erhalten, aber das Sinnlose beseitigen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie bei der FDP und der Abg. Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Dass es Sinnloses gibt, geben doch inzwischen alle zu. Tun wir doch nicht so, als wenn wir das noch bestreiten müssten! Dass es manches Sinnlose zu beseitigen gibt, ist auch in der Rede von Herrn Barthel deutlich geworden. Das hier zu bestreiten ist doch falsch. Wenn wir das kritisch hinterfragen, stellen wir fest, dass wir da gar nicht so weit voneinander entfernt sind.
(Jörg Tauss [SPD]: Doch, ziemlich!)
Betonen wir auch einmal die Gemeinsamkeiten!
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie müssen nicht solch einen Popanz aufbauen!)
- Wir bauen keinen Popanz auf. Ich glaube, dass es kein Popanz ist, über Sprache, Sprachentwicklung und Rechtschreibung zu sprechen. Wenn Rechtschreibung nur noch etwas mit Recht-haben-Wollen zu tun hat – -
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Wer will denn Recht haben?)
- Dann kann ich nicht verstehen, was die Kultusminister gemacht haben.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Meine Damen und Herren, ich hoffe, dass es zu einigen Korrekturen kommt und dass Herr Zehetmair die eigene Reform so korrigieren kann, dass sie eine größere Akzeptanz in der deutschen Bevölkerung und im deutschen Sprachraum findet. Diese Akzeptanz anzustreben ist ungemein wichtig. Wenn uns das durch diese Debatte gelingt, dann tragen alle dazu bei, auch diejenigen, die sich von der neuen Rechtschreibung wieder entfernt haben und zur alten zurückgekehrt sind. Dann haben auch sie etwas Sinnvolles für unser ganzes deutsches Volk geleistet.
Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:
Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Jörg Tauss für die SPD-Fraktion.
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Drei Minuten von seiner Redezeit hat er schon durch Zwischenrufe verbraucht! – Heiterkeit)
Jörg Tauss (SPD):
Nein, lieber Kollege Otto, diesen Gefallen tue ich Ihnen heute nicht.
Lieber Herr Präsident! Frau Landesvorsitzende! Heute beenden wir das Sommertheater, das hier begonnen worden ist.
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:
Sie fangen aber so an, als wollten Sie es fortsetzen.
Jörg Tauss (SPD):
Wir reden hier übrigens über 0,5 Prozent des Wortschatzes, um einmal die Dimension klar zu machen.
Es ist interessant, einmal aufzurollen, wie das Sommertheater begonnen hat. Ausgangspunkt waren zwei Unionsleute: ein Ministerpräsident, ein Möchtegern-Ministerpräsident. Beide sind mit ihrem Anliegen als Bettvorleger gelandet.
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zur Sache, bitte!)
Von Tigern ist nicht die Rede.
Interessant ist aber die Historie. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von FDP und CDU/CSU, 1988 wurde die Debatte in Gang gesetzt, zu Ihrer Regierungszeit. Der KMK-Beschluss erfolgte 1996, zu Ihrer Regierungszeit. Damals war übrigens Herr Rüttgers Bildungsminister. In dieser Zeit hat man von ihm überhaupt nichts zu diesem Thema gehört.
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Das ist aber eine sehr kleine parteipolitische Münze!)
Erst als er Oppositionsführer in NRW war, hat er sich gedacht, er müsse zu diesem Thema reden.
Er war übrigens nicht einmal zuständig. Interessanterweise war das damals Herr Kanther. Warum ausgerechnet Herr Kanther für die Rechtschreibreform zuständig war, weiß ich nicht. Vielleicht hat er sich mehr mit schwarzen Koffern beschäftigt, als die Probleme, die Sie alle beklagen, aufgetaucht sind.
(Günter Nooke [CDU/CSU]: Das war eine so schöne Debatte, Herr Tauss! Das wird jetzt nichts mehr!)
Aber er veranstaltete eine Anhörung, zu der ich übrigens noch komme.
Die zweite illustre Gruppe waren die Chefredakteure von „Spiegel“, „FAZ“ und „Bild“, die einmal Politik machen wollten. Dass ausgerechnet das Gaga-Blatt „Bild“ als Hüterin der deutschen Sprache auftritt, ist eigentlich eine Peinlichkeit.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Frau Kollegin Vollmer, Sie wissen, dass ich Sie sehr schätze. Aber dass Sie sich heute von der „Bild“-Zeitung für Ihren Beitritt zu diesem Antrag haben feiern lassen, finde ich schade.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die dritte Gruppe nehme ich ernst: Die Schriftsteller äußern sich in großer Sorge um die deutsche Sprache.
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Wenigstens das!)
Aber diese Schriftstellerinnen und Schriftsteller sind überhaupt nicht betroffen; denn sie haben die künstlerische Freiheit, zu schreiben, wie sie wollen. Wenn sie wollen, können sie Schifffahrt und den Pfiff des Schiffes oder eines Zuges mit fünf „f“ schreiben.
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Das zum Stichwort „Einheit der deutschen Sprache“!)
- So weit zur Einheit der deutschen Sprache.
Lieber Kollege Ronsöhr, zu dem Minnesang möchte ich Folgendes sagen.
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Tauss, sind Sie bereit – wenn ja, in welcher Reihenfolge –, Zwischenfragen der Kollegin Lengsfeld und des Kollegen Bergner zu beantworten?
Jörg Tauss (SPD):
Ich würde die Fragen in dieser mir sympathischen Reihenfolge zulassen.
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Lengsfeld, bitte schön.
Jörg Tauss (SPD):
Erinnern Sie mich bitte daran, dass ich mit dem Minnesang fortfahre.
Vera Lengsfeld (CDU/CSU):
Herr Kollege Tauss, Sie haben sicherlich Recht, wenn Sie sagen, dass die Schriftsteller nach wie vor schreiben können, wie sie wollen. Ist Ihnen aber bewusst, dass es eine Verordnung gibt, nach der nur Texte in Schulbüchern abgedruckt werden dürfen, die in der neuen Rechtschreibung verfasst sind? Beispielsweise würden Texte des Schriftstellers Reiner Kunze, der in der DDR verfolgt wurde und der seit Jahren ein sehr engagierter Kämpfer für die alte Rechtschreibung ist, aus den Schulbüchern verschwinden, nur weil sie in der alten Rechtschreibung verfasst wurden. Finden Sie das wirklich angemessen?
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Gute Frage!)
Jörg Tauss (SPD):
Liebe Frau Kollegin, Sie irren sich.
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Nein, sie irrt sich nicht!)
Sowohl der Minnesang, über den ich vorhin sprechen wollte, als auch die Stücke von Goethe – denken Sie beispielsweise an den Urfaust – sind selbstverständlich in der damaligen Rechtschreibung abgedruckt. Probleme tauchen nur auf, wenn im Unterricht Texte aus Zeitungen behandelt werden. Da würde ich den Schulen empfehlen, nur die Zeitungen für den Unterricht heranzuziehen, die sich vernünftigerweise der neuen Rechtschreibung bedienen.
(Renate Blank [CDU/CSU]: Das war jetzt eine Ausrede, Herr Tauss!)
Jetzt ist der Kollege Bergner an der Reihe.
Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU):
Herr Kollege Tauss, ich möchte an die Frage von Frau Lengsfeld anschließen. Wir sind nun beide Mitglieder des Bildungsausschusses. Halten Sie es tatsächlich für pädagogisch sinnvoll, wenn wir Schülern in den Schulbüchern eine andere Rechtschreibung vermitteln, als sie in der Literatur zu finden ist?
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Auch eine gute Frage! Es wird immer besser!)
Jörg Tauss (SPD):
Lieber Kollege Bergner, auch diese Frage zielt ein bisschen am Problem vorbei,
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Jetzt eine Antwort!)
weil im Unterricht Literatur verwendet wird, die in der Tat die unterschiedlichsten Formen der Rechtschreibung aufweist. Es kommt darauf an, zu welcher Zeit die Literatur verfasst worden ist.
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ich lese auch die Bibel mit alter Rechtschreibung! Wo ist das Problem?)
Das gilt übrigens auch für Theaterstücke.
Eine Hauptschullehrerin aus meinem Wahlkreis sagte mir heute – ich musste wegen einer Beerdigung heute Mittag dorthin fahren –, dass die Schülerinnen und Schüler mit der neuen Rechtschreibung bestens zurechtkommen. Diese Lehrerin hat mich gebeten, heute Abend meinen Kolleginnen und Kollegen auszurichten, dass es im Unterricht mit der neuen Rechtschreibung weniger Probleme gibt als mit der von Ihnen so geschätzten alten Rechtschreibung.
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Deswegen haben die Schüler so viele Fehler in den Diktaten!)
Ich möchte noch eine Bemerkung zu den Journalistinnen und Journalisten sowie zu den Schriftstellerinnen und Schriftstellern machen.
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Zum Minnesang!)
Herr Kanther hatte 1996 zu einer Anhörung eingeladen und um eine Stellungnahme zur Rechtschreibreform gebeten. Keine der Gruppen der Schriftsteller und Publizisten, die um eine Stellungnahme gebeten wurden, hat sich geäußert: weder die beiden PEN-Zentren in Ost und West noch der Deutsche Journalisten-Verband oder die Deutsche Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Ich halte es zum Teil für heuchlerisch, wenn sich heute diese Gruppen zum Wortführer aufschwingen. Sie haben in den vergangenen Jahren „gepennt“. Erst als die Entscheidung gefallen war, haben sie sich gemeldet.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich sage noch einmal, dass wir uns über nur 0,5 Prozent des Wortschatzes aufregen.
Herr Kollege Otto, ich weise Ihren Vorwurf, der nicht fair ist, zurück. Was müssen Sie für ein Politikverständnis haben, dass Sie hier die Politik rügen? Politik darf und muss Entscheidungen fällen. Wir sollten uns deswegen nicht gegenseitig beschimpfen. Hier ist aber zu sagen, dass das Regelwerk nicht von der Politik erarbeitet worden ist.
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Was ist mit der Kulturministerkonferenz?)
Das Regelwerk ist von der zwischenstaatlichen Kommission erarbeitet worden, die aus fachlich ausgewiesenen Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftlern aus Deutschland, Österreich und der Schweiz bestand und die ab 1988 im Auftrag der KMK und des BMI gearbeitet hat.
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Halten Sie das Zustandekommen für demokratisch?)
In dem Antrag der Unionsfraktion werden die Kultusminister der Länder aufgefordert, schnellstmöglich dafür zu sorgen, dass der unbefriedigende und verunsichernde Zustand durch eine klare Entscheidung beendet wird. Ich bleibe dabei – mit meinem Zwischenruf habe ich es vorhin schon zum Ausdruck gebracht –, dass die Verunsicherung allein durch diejenigen verursacht wird, die seit dem Sommer diese Debatte über die Rechtschreibreform führen.
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Lachhaft!)
Sie war im Grunde genommen nahezu abgeschlossen.
(Beifall bei der SPD)
Wenn Sie, Herr Kollege Otto, sagen, dass Sie sich von Bürokraten nicht vorschreiben lassen, wie Sie zu schreiben haben, dann kann ich nur sagen: Dieses Argument hätte mir früher als Schüler einfallen müssen. Was wäre wohl passiert, wenn ich das meiner Lehrerin entgegengeschmettert hätte? Wo sind wir denn überhaupt?

(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]:
Im Bundestag!)
Selbstverständlich brauchen wir Regeln im Unterricht, nach denen gearbeitet werden kann.
Die Kollegin Bettin hat die Frage der Kosten angesprochen. Ich kann daher darauf verzichten, dies ausführlich darzustellen.
Eines tröstet mich: Die „FAZ“, die sich mit an die Spitze der Bewegung gegen die Rechtschreibreform gestellt hat, titelte, wie ich kürzlich gelesen habe, über einen Beitrag – ich glaube, es ging um Fußball – nur ein Wort: „Albtraum“. Sie schrieb Albtraum mit „b“.
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]:
Das ist richtig!)
Das heißt, selbst die Gegner der Reform haben die Reform schon so verinnerlicht, dass sie auf die bewährten neuen Reformvorschriften zugreifen. Das tröstet mich.
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]:
Das ist doch Unsinn!)
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD – Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Das ist doch völlig falsch!)
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, bevor wir nun – -
(Jörg Tauss [SPD]: Albtraum schreibt sich mit „b“, Herr Kollege Otto! Der alte Alptraum schrieb sich mit „p“! – Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Sie sind kein Deutschlehrer, oder? – Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Das ist sächsisch, Herr Otto!)
- Kann ich denn nun die Aussprache schließen?
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]:
Vorübergehend!)
Dann erlaube ich mir drei knappe Bemerkungen, bevor wir die diskutierten Vorlagen vermutlich an die vorgesehenen Ausschüsse überweisen.
Erstens. Dass der Deutsche Bundestag ein Thema auf seine Tagesordnung setzt, das die deutsche Öffentlichkeit ganz offensichtlich intensiv beschäftigt und das von deutschen Klassenzimmern bis zu deutschen Akademien manche Aufregungen erzeugt hat, ist gewiss nicht zu beanstanden, auch wenn es für solche Initiativen neben freundlichen auch unfreundliche Kommentare gegeben hat.
(Günter Nooke [CDU/CSU]: Es wäre besser gewesen, wir hätten früher darüber debattiert und nicht erst um 21.45 Uhr!)
Zweitens. Ich finde im Angesicht vieler Aufregungen um die Rechtschreibreform die Erfahrung eher tröstlich, dass es in diesem Lande offenkundig noch Dinge gibt, die sich politischen Gestaltungsabsichten entziehen, völlig gleichgültig, ob es sich um exekutive oder legislative Versuchungen handelt.
Drittens. Es wäre schön, wenn die Vorlagen, die wir gleich überweisen, anschließend das Plenum mit einer Beschlussempfehlung des federführenden Ausschusses wiedersehen würden, die diesen Einsichten Rechnung trägt.
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Sehr schön! Schauen wir mal! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Welchen?)
Nun frage ich, ob Einvernehmen besteht, die Vorlagen auf den Drucksachen 15/4261 und 15/4249 zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Kultur und Medien und zur Mitberatung an den Innenausschuss sowie an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikabfolgenschätzung zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? –
(Jörg Tauss [SPD]: Am liebsten würde ich es ablehnen!)
Möchte jemand den Haushaltsausschuss beteiligen? – Auch das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.


(Diesen Text als PDF: http://www.oreos.de/pdf/btrf.pdf.)

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Matthias Dräger
20.07.2001 14.17
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Was geschah nach dem 26. 3. 1998?

Zum Votum des Deutschen Bundestages vom 26. 3. 1998 stellte Prof. Ickler an anderer Stelle folgende Frage:

Und dann das fast ebenso entschiedene, allerdings wirkungslose Wort des Bundestages vom 26.3.1998. Warum war dies wirkungslos, warum bestanden Thierse und seine Kumpane nicht auf Beachtung dieses Votums? Das würde mich interessieren, aber die Erklärung dürfte nicht in theoretischen Betrachtungen über Schrödersche bzw. schon Kohlsche Herrschaftsformen zu suchen sein, sondern in viel konkreteren Zusammenhängen. Das gilt auch für S-H. Ist Geld geflossen? Oder genügt die Aussage von Stoiber und einigen anderen, die die RSR als Testfall für die Durchsetzbarkeit des Euro bezeichneten?


Federführend beim Gruppenantrag der über 50 Abgeordneten (auf Initiative des Abgeordneten/Notars Detlef Kleinert) war der Rechtsausschuß des Bundestages. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern (und man könnte es anhand der Fernseh-Aufzeichnung des Senders Phönix gut nachvollziehen), wie der Vorsitzende des Rechtsausschusses, Horst Eylman, alles vermeiden wollte, damit ja nicht jetzt auch noch der Deutsche Bundestag sich ein Recht anmaße, über die deutsche Sprache in irgendeiner Weise zu bestimmen. Diese Linie wurde übrigens nicht nur von Eylman verfolgt, auch andere haben das so gesehen, z. B. der Abgeordnete Gerald Häfner (Bündnis 90/Die Grünen).
Man befand sich damit etwas in der Zwickmühle: Einerseits war Leuten wie Eylman klar, daß die Rechtschreibreform ein Unding ist und verhindert werden soll, auf der anderen Seite wollte man sich auch nicht auf eine Ebene wie die Kultusminister begeben und die Sprache – natürlich! – aus dem eigenen Kompetenzbreich heraushalten. Es war dies keinesfalls ein zentraler Punkt der Anhörung, über diese Haltung wurde von Eylman und Häfner nur in wenigen Sätzen gesprochen.-

Ich war mit Freunden und Bekannten bei der Anhörung dabei, für mich war und ist auch heute noch die Linie von Eylman durchaus nachvollziehbar.


Im Sinne dieser Linie, die sicher in nichtöffentlichen Sitzungen des Rechtsausschusses weiter erörtert und verifiziert worden sein wird, landete dann die Bestimmung, daß die Bundesbehörden bei der bisherigen Rechtschreibung bleiben, in der B e g r ü n d u n g des Antrages. Damit war sie de jure nicht mehr Teil des Beschlusses.
Der Beschluß des Bundestages sollte für die Kultusminister ein diplomatisch gehaltener Wink mit dem Laternenpfahl sein, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Den Kultusministern sollte hierdurch vielleicht auch die Möglichkeit offengehalten werden, ihr Gesicht zu wahren, indem sie nach dem Beschluß des Bundestages sehr gut von sich aus die Reform bequem hätten anhalten können.
Auf die Tatsache, daß die Nichteinführung der Rechtschreibreform ja nur in der Begründung des Beschlusses vom 26. 3., nicht aber im Beschlußtext selber enthalten seien, beriefen sich die Kultusminister (KMK-Präsidentin Behler, NRW?) und – machten einfach weiter, als ob es nie ein ablehnendes Votum des Deutschen Bundestages in Sachen Rechtschreibreform gegeben hätte...
Wer auch sollte sie aufhalten? Die Presse etwa?„4. Gewalt im Staate“, das w a r vielleicht einmal...


Die eingangs gestellt Frage von Prof. Ickler ist hiermit natürlich keineswegs beantwortet.
Für ein Verständnis der Motivation der Personen, die trotz Beschluß des Bundestages vom 26. 3. die Rechtschreibreform weiter betrieben haben, wären Hintergrundkenntnisse erforderlich, die nicht öffentlich zugänglich sind.

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Mädchenfüralles
03.03.2001 20.15
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Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Detlef Kleinert (Hannover), Norbert Geis, Reinhold Robbe und weiterer Abgeordneter. Rechtschreibung in der Bundesrepublik Deutschland -- Drucksache 13/7028 -- Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß (federführend) Auswärtiger Ausschuß Innenausschuß Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. -- Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe dem Abgeordneten Franz Peter Basten das Wort. Franz Peter Basten (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will der Versuchung widerstehen, mich in den Streit darüber einzumischen, ob die neue Rechtschreibung schöner, logischer, gebildeter, zeitgemäßer oder gescheiter ist als das, was bisher gilt. Ob sie allerdings einer von der Sache her gebotenen, unausweichlichen Notwendigkeit entspricht -- dafür fehlen mir bis zur Stunde überzeugende Beweise. Sie kommt mir eher schlicht überflüssig vor. Und ich stehe mit diesem Urteil weiß Gott nicht allein.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Ob man Kuß in Zukunft mit „ss“ oder, wie bisher, mit „ß“ schreibt, ist vielleicht eher eine Temperamentsfrage, die mit vorrückendem Alter anders entschieden wird als in jungen Jahren.
(Ulrich Irmer [F.D.P.]: Hauptsache, machen!)
Wenn man allerdings Kommuniqu zukünftig „Kommunikee“ schreibt, ist damit nach meinem Geschmack ein Verlust an Eleganz verbunden. Die neue Schreibweise kommt mir eher platt und ungebildet vor. Bei einigen Worttrennungen aber schüttelt es mich, zum Beispiel wenn es statt Ex-trakt Ext-rakt, statt Infil-tration Infilt-ration, statt Konzen-tration Konzent-ration oder statt Sa-krament Sak-rament heißen soll.
(Heiterkeit bei der F.D.P.)
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Geist Gottes weht, wo er will -- jedenfalls nicht unbedingt und zu allen Zeiten bei den deutschen Kultusministern.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Die Reform wurde Anfang Dezember 1995 von den Kultusministern beschlossen und Mitte Dezember 1995 von den Ministerpräsidenten abgesegnet. Bis zur Einspruchsfrist am 5. März 1996 hat kein deutsches Parlament widersprochen, keines der 16 Länderparlamente und auch nicht der Deutsche Bundestag. Die Bundesregierung soll zustimmend genickt haben. Auch das muß um der Wahrheit willen am heutigen Tage deutlich festgestellt werden.
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Weiß man, welches Mitglied der Bundesregierung?)
Nach einer Phase des Tiefschlafs von fast einem Jahr kam dann der Aufstand der deutschen Dichter. Noch länger hat der Bundestag gebraucht bis zu seinem Gruppenantrag vom Februar 1997. Die Länderparlamente ruhen noch immer in Frieden. Kultusminister Zehetmair hat zu Recht festgestellt, daß der Konferenzbeschluß vom Dezember 1995 regele, „wie das deutsche Volk schreibt“. Wie das deutsche Volk schreibt, hat etwas damit zu tun, daß die Sprache, auch die geschriebene, „ein grundlegendes Identitätsmerkmal des gesamten deutschen Volkes“ ist, wie Rupert Scholz es zutreffend formuliert. Menschliche Sprache markiert äußerlich den alles entscheidenden qualitativen Sprung von der übrigen Schöpfung zum Menschen. Sprache ist für die Persönlichkeit des Menschen, für sein Wesen, für sein Menschsein schlechthin konstitutiv. Deshalb sind, ob nun zu spät gekommen oder nicht, Verfassungsfragen aufgerufen, die sich mit dem Hinweis auf die Uhr nicht beiseite schieben lassen. Grundrechte sind betroffen. Fragen nach dem Gesetzesvorbehalt für wesentliche Grundentscheidungen, welche die Bevölkerung betreffen, sind aufgeworfen. Dies gilt freilich auch dann, wenn man die Reform für überflüssig hält. Sie entfaltet schließlich wesentliche Wirkungen. Die Verfassung kommt im übrigen nie zu spät. Entweder werden Fehlentscheidungen rechtzeitig durch den Gesetzgeber korrigiert, oder Verfassungs- und Verwaltungsgerichte korrigieren selbst.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Wenn in dem Zusammenhang Kultusministerien davon sprechen, die verbindliche Regel gelte nur für die Schule, außerhalb der Schule könne jeder schreiben, wie er wolle, also alt oder neu,
(Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]: Unerhört!)
dann ist das eine Lachnummer.
(Beifall bei der F.D.P.)
Denn vor dem Hintergrund der von zahllosen Lehrergenerationen mit Inbrunst gepredigten Schulweisheit, daß wir nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen, stellt sich die Frage nach dem Sinn -- oder besser: nach dem Unsinn -- dieser Reform nur noch um so schärfer.
(Zustimmung bei der F.D.P.)
Goethe, der nach Meinung eines renommierten deutschen Germanistikprofessors die Rechtschreibreform ebenfalls für überflüssig halten würde,
(Heiterkeit)
hatte es viel einfacher. Dem jungen Frankfurter Goethe hat dessen Schreiblehrer die für Frankfurt geltende südwestdeutsche Norm beigebracht. Später, in Weimar, hat Goethe geschrieben, wie in Leipzig und Dresden geschrieben wurde. Das Meißenische galt in jener Zeit als vorbildlich. Die Kultusminister können allerdings nicht so tun, als würden sie in Goethes Zeiten leben. Heute ist das Bedürfnis nach einheitlichen Regeln und Verbindlichkeiten unbestritten. Das entspricht den gewandelten Anschauungen, aber auch den völlig veränderten Anforderungen an Funktionen von Sprache, insbesondere der geschriebenen Sprache. Aber das alles entfaltet Rechtswirkungen. Da muß an Grundrechten sowie Rechtsstaats- und Demokratieprinzipien Maß genommen werden. Diese Hürden können auch durch exekutive Omnipotenzgefühle von 16 Kultusministern nicht überwunden werden. Wenn das Bundesverfassungsgericht den Gesetzesvorbehalt bereits für die Einführung des Sexualkundeunterrichts reklamiert hat und wenn das Bundesverwaltungsgericht sogar für die Einführung einer Pflichtfremdsprache in der Orientierungsstufe eine gesetzliche Grundlage verlangt, dann muß die Frage, wie das Volk schreibt, im Hinblick auf eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage zumindest einer ernsthaften Prüfung unterzogen werden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Diese Frage aufgeworfen zu haben ist die verdienstvolle Initiative des Kollegen Kleinert zum Gruppenantrag, dem sich namhafte Kolleginnen und Kollegen angeschlossen haben.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Damit ist die parlamentarische Debatte eröffnet. Nicht abschließend beantwortet ist allerdings die Frage, ob die Gesetzgebungskompetenz der Länder oder sogar des Bundes gegeben ist. Professor Rupert Scholz vertritt mit beachtlichen Hinweisen die Auffassung, die Frage, wie das Volk schreibe, und die Angelegenheit der mit Sprache verbundenen Identität des Volkes könnten nur von dem für das ganze Volk zuständigen Gesetzgebungsorgan entschieden werden. Das ist der Deutsche Bundestag. Ich habe in diesem Punkte keine abschließende Meinung. Ich bin im Hinblick auf das Vorliegen einer Bundeskompetenz für die gesamte Rechtschreibreform eher skeptisch. Aber ich stelle folgende überlegung an: Wenn eine Länderkompetenz für die Rechtschreibreform gegeben ist, dann kann sie sich nur aus einer allgemeinen Länderkompetenz für die Sprache ableiten. Besteht aber eine solche, dann können 16 Länderparlamente souverän über Sprache entscheiden. Sie könnten dann -- wie sie Sexualkundeunterricht einführen oder nicht -- auch unterschiedliche Regelungen für das finden, was an der Sprache richtig oder falsch zu sein hat. Es gibt aber nur eine deutsche Sprache und keine Ländersprachen. Daraus könnte man die Schlußfolgerung ziehen, daß kraft Natur der Sache nur der Bund für die Regeln der deutschen Sprache in Deutschland Gesetzgebungskompetenz besitzt. Die Gesetzgebungskompetenz kraft Natur der Sache ist zwar in der Verfassung nicht ausdrücklich erwähnt, jedoch als Verfassungsgrundsatz durch das Bundesverfassungsgericht längst anerkannt. Ich nenne einen anderen Ansatzpunkt, der zumindest in einem speziellen Zusammenhang Bundeskompetenz im Hinblick auf deutsche Sprache offenkundig macht. Der Bund besitzt über Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 des Grundgesetzes die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz über die Gerichtsverfassung. Von dieser Kompetenz ist durch das Gerichtsverfassungsgesetz Gebrauch gemacht. \sp 184 GVG lautet: „Die Gerichtssprache ist deutsch.“
(Ulrich Irmer [F.D.P.]: Interessanter Gesichtspunkt!)
Wenn also der Bundesgesetzgeber über die Kompetenz verfügt, die deutsche Sprache als Gerichtssprache anzuordnen, dann schließt das denknotwendig auch die Entscheidungskompetenz darüber mit ein, in welcher Schreibweise und äußerer Darstellungsform die Gerichtssprache Deutsch zuzulassen ist.
(Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]: Wenn es Thüringisch wäre!)
-- Warten Sie ab. -- Läge die Entscheidungskompetenz über die Gerichtssprache nicht beim Bund, sondern bei den Ländern, so könnte niemand den Sächsischen Landtag daran hindern, zu bestimmen, daß zum Beispiel alle Entscheidungen des sächsischen Verfassungsgerichtshofes in Sächsisch abzufassen seien. Ich könnte mir durchaus Leute vorstellen, die das mit einer konsequenten Fortentwicklung der föderalen Struktur Deutschlands begründen würden. In Rheinland-Pfalz, meinem Heimatland, müßte das Ganze wohl dreisprachig erfolgen: in Moselfränkisch, in Rheinhessisch und in Pfälzisch. Aber Spaß beiseite. Alles, was sich der karikierenden Versuchung so aufdrängt wie diese Rechtschreibereform, sollte eher dreimal gründlich hinterfragt werden. Ich wage keine abschließende verfassungsrechtliche Beurteilung. Eines jedoch wird offenbar: Landesregierungen, Länderparlamente, Bundesregierung und Bundestag sind in ihrem Kompetenzbereich betroffen und müssen zusammenwirken. Denn so, wie sich die Kultusminister in exekutiver Ausschließlichkeit die Regelung vorgestellt haben, kann sie sich wohl nicht vollziehen. Ich rate daher den Landesregierungen dazu, von der Durchsetzung der Beschlüsse einstweilen abzulassen und sich mit der Bundesregierung zusammenzusetzen. Der Bundesregierung gilt mein Rat, auf die Landesregierungen zuzugehen. Die Parlamente müssen sich unterdessen mit der Sache auseinandersetzen. Der Umgang mit der deutschen Sprache gelingt nur im Konsens. Ich bin sicher, daß sich die Ausschußberatungen im Deutschen Bundestag an dieser Leitlinie orientieren werden. Vielen herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich gebe das Wort der Abgeordneten Liesel Hartenstein.

Dr. Liesel Hartenstein (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte in dieser Debatte nicht zu den juristischen und schon gar nicht zu den verfassungsrechtlichen Fragen Stellung nehmen. Das werden andere Kollegen tun, die dies besser können. Mein Vorredner hat ja schon einige Bemerkungen dazu gemacht. Ich denke jedoch, daß der interfraktionelle Antrag zur Rechtschreibreform und die heutige Debatte ihren Sinn verfehlen würden, wenn nicht auch zur Sache selbst einiges gesagt werden könnte. Deshalb gleich meine erste Feststellung. Die Bedeutung und die Dimension dieser Reform sind in der Politik und auch in der Öffentlichkeit lange Zeit weit unterschätzt worden.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Nur so ist es zu erklären, daß sich erst nach dem Beschluß der Kultusministerkonferenz und der Ministerpräsidenten der Länder und zum Teil erst in jüngster Zeit der Protest eine Stimme verschafft hat -- der Protest zahlreicher namhafter Schriftsteller, darunter Günter Grass, Siegfried Lenz, Martin Walser, der Widerspruch bekannter Verlage und Printmedien und vor allen Dingen der Protest, der darin seinen Niederschlag findet, daß wir auf unseren Schreibtischen Hunderte von Elternbriefen vorfinden, daß Bürgerinitiativen entstehen und sogar Volksbegehren gefordert werden. Nur so, nämlich aus dieser Unterschätzung heraus, ist es auch zu erklären, daß sich die Kultusministerkonferenz auf den Standpunkt stellen konnte, bei der Neufassung der Rechtschreibung sei eine Regelung durch Verwaltungsvorschriften ausreichend, ähnlich wie bei Richtlinien oder Lehrplänen. Hierin, so meine ich, steckt eine erhebliche Verkennung dessen, was mit dieser Reform geschieht, und sogar
(Beifall bei der SPD und der F.D.P.)
-- ich will noch einen Schritt weitergehen -- eine grundsätzliche Verkennung dessen, was Sprache, auch geschriebene Sprache, für unsere Gesellschaft bedeutet. Die Erklärung der KMK vom 27. Februar dieses Jahres bleibt noch ganz auf dieser Linie. Es handle sich, so wird gesagt, nur um eine „maßvolle Anpassung einer Konvention mit dem Ziel einer Bereinigung und der Herstellung einer neuen Übersichtlichkeit“. Die Neuregelung berühre nicht die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger. Der Befassung durch die Parlamente bedürfe es nicht. Ich widerspreche dem nachdrücklich.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)
Wenn die Debatte heute eines bewirken kann, dann dies, das Vorhaben der Rechtschreibreform aus dem Klima der Unerheblichkeit herauszuführen, in das es durch das bisherige Verfahren hineinmanövriert worden ist. Wir müssen uns wieder an eine Grundwahrheit erinnern, die lautet: Sprache ist nicht nur das zentrale Kommunikationsmittel zwischen den Menschen, sondern Sprache ist Ausdrucksmittel für Lebensgehalte. Sie ist das Ausdrucksmittel schlechthin, mit dem der Mensch die Welt einzufangen versucht und mit dessen Hilfe er sich mit ihr auseinandersetzt. Von der Sprache als eigenem, lebendigem, historisch gewachsenem Organismus ist in der Erklärung der KMK aber viel zuwenig, fast gar nicht die Rede. Ich bedauere das. In der Sprache, auch im Schriftbild spiegelt sich die Fülle der geographischen, kulturellen und sozialen Verflechtungen, spiegeln sich vor allem auch die vielfältigen Einflußfaktoren unserer Geschichte wider. Es scheint fast, als ob solche Gesichtspunkte völlig außen vor geblieben seien. Ich komme darauf bei dem Stichwort Fremdwörter noch einmal zurück. Mit dem Reformunterfangen, so meine ich, wird der Körper unserer Sprache verändert. Er erleidet Eingriffe. Er wird verformt. Dies soll nicht wichtig sein? Meine zweite Feststellung lautet daher: Die Rechtschreibreform betrifft 100 Prozent unserer Bevölkerung, also über 80 Millionen Menschen. Nimmt man Österreich und den deutschsprachigen Teil der Schweiz hinzu, dann sind es 95 Millionen Menschen. Alle sollen sich nun einfach umstellen, ihren Sprach- und Schreibgebrauch verändern, nach dem Jahre 2005 sogar in die Ecke der Falschschreiber geraten? Und das alles deshalb, weil einige Dutzend Wissenschaftler und Politiker verfügen, daß eine Menge von dem, was bisher allgemeinverbindlich war, anders zu sein habe. Die Argumente für die verordneten Änderungen sind zum großen Teil nicht überzeugend und treffen -- glaubt man den Umfragen -- bei einem großen Teil der Bevölkerung auf Unverständnis. Das ist nicht verwunderlich. Natürlich muß eingeräumt werden, daß die deutsche Sprache -- und auch ihr schriftliches Erscheinungsbild, also die Orthographie -- eine Menge Ungereimtheiten enthält. Wer wollte das bestreiten? Ich wiederhole: Sprache ist nun einmal keine abstrakte Konstruktion, die mit mathematischen Formeln vergleichbar wäre. Die KMK sagt, die Reform solle a) Inkonsequenzen beseitigen, b) das Regelwerk transparenter machen, c) das Erlernen des richtigen Schreibens erleichtern. Es verstärkt sich aber der Eindruck, daß diese Ziele auf weiten Strecken nicht erreicht werden können.
(Beifall bei der F.D.P.)
Erstes simples Beispiel. Warum in aller Welt, frage ich, soll aus dem Stengel einer Glockenblume jetzt plötzlich ein „Stängel“ werden, als ob irgend jemand an eine Eisen- oder Holzstange dächte, wenn er dieses Wort verwendet? Ich meine, das ist wirklichkeitsfremd, pure Theorie und deshalb schlicht überflüssig. In das sogenannte Stammprinzip sind die Reformer nachgerade verliebt. Deshalb soll aus dem beliebten Quentchen Glück, das wir alle so sehr brauchen, ein „Quäntchen“ werden, und zwar in Anlehnung an das Quantum, obwohl die sprachhistorische Ableitung mir sagt, das stimme nicht; denn das Wort kommt nicht von Quantum, sondern von Quent, einer kleinen in Deutschland bis in das 19. Jahrhundert gebräuchlichen Maßeinheit.
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Sehr aufmerksam!)
Zweites Beispiel. Man muß sich wirklich fragen, wozu eine doch recht willkürlich anmutende Verstümmelung von Fremdwörtern eigentlich gut sein soll. Das Känguruh darf sein „h“ nicht behalten, obwohl jedes Kind weiß, daß es sich um ein exotisches Tier handelt. Der Thunfisch hat mit dem deutschen Wort tun überhaupt nichts zu tun; aber das „h“ muß weg. Wieso eigentlich? Gerade heute -- jetzt wird es wieder ernst --, im Zeitalter des Massentourismus, der Globalisierung und der offenen Grenzen, wo fast jedes Kind zumindest Englisch lernt, soll die Schreibweise von Fremdwörtern eingedeutscht werden. Gerade heute, wo die enge Vermischung der Kulturen im Zug der Zeit liegt und dies in vielen Bereichen von der Sprache aufgenommen wird, sollen die Spuren in der Rechtschreibung verwischt werden. Das ist für mich schlicht ein Anachronismus. Warum soll man der deutschen Sprache nicht ansehen, daß sie zahllose Wörter beispielsweise in der Sportwelt aus England übernommen hat oder daß sie das Ketchup, den Cocktail und das Okay von den Amerikanern geliehen hat. Ganz zu schweigen von der französischen Sprachinvasion des 17. und 18. Jahrhunderts? Die Kommode, das Menü, das Dessert, den Friseur, das Portemonnaie, das Restaurant -- das alles haben uns die Franzosen geliefert, mitsamt der Mode. Das ist doch ein Stück unserer Geschichte. Davon wollen wir uns überhaupt nicht verabschieden.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. -- Ulrich Irmer [F.D.P.]: Nicht zu vergessen die Spaghetti!)
-- Auch das. Das Wort ist aber nicht aus dem Französischen, soviel ich weiß. Eines der Hauptargumente lautet, die Rechtschreibreform solle das Erlernen des richtigen Schreibens erleichtern. Kann mir jemand sagen, warum es leichter sein soll, das Wort Necessaire jetzt mit vier s und einem ä zu schreiben statt in der gewohnten französischen Schreibweise? Ich weiß es nicht.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)
Konsequent bleibt die Reform auch hier nicht. Denn die Schreibweise vieler schwieriger Fremdwörter bleibt erhalten: Chrysantheme, Rhythmus usw. Etwas folgenreicher noch erscheint mir die Reform, wenn es um das totgewünschte „ß“ und um die Zeichensetzung geht. Daß lange oder kurze Silben große Bedeutungsunterschiede markieren können, wissen wir: „Er trinkt den Wein in Maßen“ ist etwas ganz anderes, als wenn es heißt „Er trinkt den Wein in Massen“.
(Heiterkeit)
Das sind sicherlich zwei Paar Stiefel. Aber darum geht es jetzt nicht. Vielmehr geht es darum, daß das „ß“ nach der neuen Regelung zwar erhalten bleibt, aber seine Anwendung eher komplizierter wird, nicht einfacher. Eine der größten Fehlerquellen in der deutschen Rechtschreibung hat man beispielsweise darin entdeckt, daß es den Schülern und vielen Erwachsenen schwerfällt --, die Schreibweise des Artikels „das“ und der Konjunktion „daß“ ordentlich zu unterscheiden. Der erste Versuch war also: Weg damit! Da dies doch nicht sonderlich ratsam erschien, heißt die salomonische Lösung jetzt: Die Konjunktion „daß“ wird mit „ss“ geschrieben. Das bedeutet aber, daß kein Weg daran vorbeiführt, den Unterschied zwischen einem Artikel und einer einen Nebensatz einleitenden Konjunktion erlernen zu müssen. Wo bleibt da die Erleichterung? Ich habe den Eindruck, unsere Schüler begreifen das. Wir sollten sie doch nicht unterschätzen. Hochproblematisch ist meines Erachtens die Reduzierung der Anzahl der Kommaregeln von 52 auf neun. Das möchte ich doch noch kurz vortragen. Nicht daß hier keine vertretbaren Vereinfachungen möglich wären -- die gibt es wohl. Aber wenn man das Kind mit dem Bade ausschüttet, dann entstehen einschneidende Konsequenzen für die gesamte Struktur unserer Sprache und für das Ausdrucksvermögen. Denn die Zeichensetzung markiert ja die geistige Gliederung des Satzes, Überordnungen und Unterordnungen, Einfügungen usw. Je komplexer ein Gedanke ist, desto komplexer werden halt auch die Sätze und desto unverzichtbarer die Satzzeichen zu ihrer Gliederung. Ich frage -- danke, Herr Präsident, für die Toleranz; ich bin gleich fertig --: Wie sollte man einen Thomas Mann, einen Heinrich von Kleist oder einen Immanuel Kant verstehen, wenn die Säverständlichtze nicht durch Satzzeichen gegliedert wären? Es ist ja eine Verarmung, wenn wir das einfach abschaffen.
(Beifall bei der F.D.P. -- Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Das finde ich allerdings auch!)
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin, trotz Ihrer Begeisterung: Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Dr. Liesel Hartenstein (SPD): Kurzum: Das radikale Wegstreichen von mehr als drei Vierteln der Kommaregeln führt zu einer schwereren Verständlichkeit der Sprache, vielleicht zu fatalen Mißverständnissen. Es reduziert die Ausdrucksmöglichkeiten. Was das Gravierendste ist -- erlauben Sie mir noch, das zu sagen, Herr Präsident --: Simplere Satzkonstruktionen machen letztlich auch das Denken ärmer. Das sollten wir nicht vergessen.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
Dr. Liesel Hartenstein (SPD): Das tue ich. Die Sprache formt auch die Gesellschaft. Das sollten wir als Fazit festhalten. Sie wird als Muttersprache an die nächsten Generationen weitergegeben. Deshalb ist eine Änderung des Schriftgebrauchs auch eine Änderung des Sprachgebrauchs. Eine Rechtschreibreform kann daher kein bloßer Verwaltungsakt sein, sondern betrifft die Gesellschaft im Kern, auch jeden einzelnen. So gesehen ginge es vielleicht doch um ein Grundrecht. Danke schön.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. sowie der Abg. Dr. Christa Luft [PDS])
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Dr. Helmut Lippelt.

Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Hartenstein, ich habe mich sehr über Ihre lebendige Sprache gefreut. Aber die Amtssprache in der Begründung des Antrags, den Sie unterstützt haben, können Sie wohl nicht vertreten. Lesen Sie das einmal richtig durch!
(Dr. Liesel Hartenstein [SPD]: Also müssen wir das umschreiben!)
Ich habe in alten Familienbriefen geblättert. Wenn meine Urgroßeltern durch „Thüren“ und „Thore“ gingen, gingen sie durch ein „Thal“ von „Thränen“; denn hinter jedes „t“ mußten sie ein „h“, das berühmte Dehnungs-“h“, setzen. Meine Großeltern durften darauf verzichten, mußten aber den Merkvers lernen: Tränen weint man ohne „h“, der Thron steht unbeschädigt da. Denn auf alle „h“s wollte Wilhelm II. gern verzichten, nur beim „Thron“, da hörte der Spaß auf. Das kommt mir so ein bißchen vor wie diese Diskussion, in der man sich jetzt zum Souverän über die Sprache erklärt.
(Beifall des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] -- Zuruf des Abg. Walter Hirche [F.D.P.])
-- Sie kriegen noch Ihr Fett weg. Als sich der selige Konrad Duden 1872 daranmachte, eine einheitliche Rechtschreibung zu schaffen -- der Einheit des Reiches sollte die Einheit der Rechtschreibung folgen --, ging er von einem löblichen Grundsatz aus: Man solle schreiben, wie man spricht. Auch das ging nicht ganz ohne Ausnahmen. In der Zeit des beweglichen Letternsatzes hatte man für das „st“ nur eine schmale Letter. Deshalb mußten wir alle den Merkvers lernen: Trenne niemals „s“ vom „t“, das tut weh. Deshalb muß sich der bedauernswerte Kollege Heistermann bis heute Hei-stermann trennen, während sich der progressive Kollege Wiefelspütz immer trennen durfte, wie er sich spricht. Die jetzige Rechtschreibreform hatte ein hehres Ziel: Der letzte große Anachronismus, den es nur noch in Deutschland, Österreich und der Schweiz gibt, sollte im Zeitalter der Globalisierung aufgegeben werden: die Großschreibung zugunsten der gemäßigten Kleinschreibung. So ist es in England und überall in der Welt. Aber da kamen den Kultusministern wilhelminische Bedenken. So blieb nur ein kleines Reförmchen übrig. Aber auch das ist es wert, mit den Kultusministern -- von Zehetmair, CSU, bis Holzapfel, SPD -- verteidigt zu werden; denn es erspart den Lehrern immer noch viel rote Tinte und den Schülern Monate unnötiger Regelpaukerei, in denen sie ihre Intelligenz in einer sich dramatisch verändernden Welt wichtigeren Gegenständen des Lebens zuwenden dürfen. Das ist das Problem, Frau Hartenstein. Wir alle lernen Rechtschreibung im Alter von fünf bis zehn Jahren. Dann denken wir: Das ist das einzig Richtige. Aber die Sprache -- Sie sagten es doch -- verändert sich, deshalb muß gelegentlich eine Regelvereinfachung her. Das ist das Mühsame.
(Walter Hirche [F.D.P.]: Das ist keine Vereinfachung!)
-- Ja, das denken Sie, weil Sie sich nicht damit beschäftigt haben
(Walter Hirche [F.D.P.]: Natürlich, Herr Lippelt!)
Zwei Beispiele: Kollege Heis-termann darf sich endlich auch trennen, wie er sich spricht, und zweitens und viel wichtiger -- jetzt komme ich auf Ihr Thema --: Unsere Schüler dürfen endlich das tun, was englische und amerikanische Schüler -- ebenso wie Grass, Walser und andere Dichter, die jetzt ebenfalls wilhelminisch lärmen -- schon immer taten: Sie dürfen die Kommata nach Sinnzusammenhängen setzen und die Regelpaukerei vom erweiterten und einfachen Infinitiv, vom Infinitiv mit „zu“ und „um zu“ vergessen. Wie nötig und sinnvoll dies ist, zeigt der vorgelegte Antrag. Ich zitiere aus der Begründung. Da findet sich der ganze Absatz 3 als ein sich über zwölf Zeilen erstreckender Bandwurmsatz. Und wie das dann bei solcher Art von Sätzen ist, ohne entsprechende Kommasetzung ist er kaum verständlich. Also konzentrieren sich die Verfasser so sehr auf die Kommata, daß ihnen der Sinnzusammenhang verlorengeht. So -- Herr Hirche, selbst Sie haben es nicht bemerkt -- lesen wir dann -- auf die tragende Konstruktion des Hauptsatzes verkürzt --: „Der geäußerten Ansicht \u wird dem Zusammenhang \u nicht gerecht“. Deutsche Sprach, schwere Sprach, Herr Kollege Kleinert.
(Ulrich Irmer [F.D.P.]: Das ist eine Frage des Stils, nicht der Rechtschreibung!)
-- Verzeihen Sie, Sie haben es immer noch nicht kapiert. Hier wird „Ansicht“ mit einem maskulinen Artikel gebraucht.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege Lippelt, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
(Zurufe von der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das ist aber schade!)
Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Okay.
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Beantragen Sie doch, Ihre Redezeit zu verlängern! Wir stimmen zu! -- Beifall bei der PDS)
Herr Präsident, ich beantrage noch eine Minute Redezeit.
(Heiterkeit und Beifall im ganzen Hause)
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Eine Minute.
Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Richtig dagegen ist der Artikel des drittletzten Absatzes: Die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts \u geht davon aus, daß die Benutzer zumindest zweier \u unterschiedlicher Rechtschreibungen ohne Störung des gesellschaftlichen Miteinanders auf mehrere Jahre miteinander leben \u könnten. Gemeint ist die Liberalität, zwei Rechtschreibungen nebeneinander existieren zu lassen. Aber da sagen die Verfasser: „Dieser Ansicht wird nicht gefolgt.“ Zu Deutsch: Die Gesellschaft bricht unter diesem kleinen Reförmchen zusammen. Nein, diesem Antrag, vor allem aber der verknöcherten Sprache der Begründung, wird in diesem Hause hoffentlich nicht gefolgt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich gebe dem Abgeordneten Detlef Kleinert das Wort.

Detlef Kleinert (Hannover) (F.D.P.): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! So schön wie Frau Hartenstein und Herr Basten kann ich mich zur Sache selbst hier nicht einlassen. Ich bin ja von Herrn Lippelt auch wegen meiner Satzkonstruktionen eben schon gerügt worden. Aber auch in diesem Punkt seien Sie doch so nett und lassen ein bißchen Liberalität walten. Der eine drückt sich eben etwas komplizierter aus und der andere etwas leichter. Nur, Beliebigkeit ist vielleicht der deutschen Sprache doch nicht ganz angemessen. In einigen Nebensätzen klang das bei Ihnen so an: sich wichtigeren Dingen zuwenden; zwei Sprachen über einige Jahre nebeneinander haben. Es handelt sich ja nicht um ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das Sie hier zitiert haben, sondern um einen Beschluß, mit dem die Klage in dem Zeitpunkt aus den ausgeführten Gründen nicht für zulässig gehalten worden ist. Wir werden einmal sehen, ob wir in diesem Zusammenhang noch zu einem Urteil, das naturgemäß insgesamt gründlicher erarbeitet wird, kommen. Bedauernswert ist es, daß diejenigen -- nämlich unsere Kultusminister --, die für die politische Bildung unserer nachwachsenden Generation in besonderer Weise zuständig sind, hier mit einer unbegreiflichen Großzügigkeit an allem vorbeigehen, was schon ganz speziell im Hinblick auf kultusministerielle Aktivitäten vom Verfassungsgericht und von anderen oberen Bundesgerichten gesagt worden ist. Wir haben den Wesentlichkeitsgrundsatz. Den müßte man eigentlich gar nicht so kompliziert als Wesentlichkeitsgrundsatz formulieren. Vielmehr müßte jedem, der in unserer Demokratie großgeworden ist, klar sein, daß Dinge von erheblicher Bedeutung für uns alle -- das ist schon dargestellt worden -- nicht einfach so mir nichts dir nichts im undurchsichtigen Bereich von Erlassen und Verordnungen der Tätigkeitsfreude von Ministerialbeamten anheimgegeben werden dürfen, sondern daß man zu diesem Zweck die Bürger Vertretungen in den Parlamenten hat wählen lassen, die sich auch mit dieser Frage beschäftigen sollten. Daß das nicht geschehen ist, ist bedauerlich. Aber was heißt hier bedauerlich? Wir tun es ja gerade. Es ist notwendig und auch nicht zu spät. Es ist schon gesagt worden: für die Verfassung ist es nie zu spät. Wenn ich mich in der Sache selbst mangels ausreichender germanistischer und philologischer Kenntnisse nicht einlasse, dann erkenne ich doch jedenfalls das, was alle Bürger betrifft. Durch eine ganz penible, detaillierte neue Ordnung wird über Jahrzehnte eine neue Unordnung geschaffen. Das kann doch nicht Sinn der Veranstaltung sein.
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)
Das kann es nicht sein! Diese Unordnung entsteht so leicht, wenn man in sehr kleinen Kränzchen so eine Reform ausknobelt und nach jahrzehntelangen Konferenzen zum Schluß nicht zugeben möchte -- Herr Lippelt, Sie haben ja selbst gesagt, daß einmal Größeres angedacht worden war --, daß das alles vergebens war. Darum hat man dann diesen völlig unzulänglichen Kompromiß beschlossen und will ihn möglichst unauffällig und ohne die notwendige Beteiligung der Volksvertretungen in die Tat umsetzen. Es ist nun einmal das Rechtsstaatsprinzip in Art. 20 Abs. 3 und das Demokratieprinzip in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 in unserer Verfassung festgeschrieben. Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern richtet sich gemäß Art. 28 des Grundgesetzes nach eben diesen Prinzipien. Das sind die Punkte, die uns Veranlassung geben, uns jetzt wirklich in einem transparenten und ordentlichen Verfahren zu unterrichten, wie das alles zustande gekommen ist und wie wir damit zum Wohle aller betroffenen Bürger umgehen sollen. Da soll uns niemand, der 20 Jahre lang an so einer Sorte von Reform herumgearbeitet hat, sagen, wir kämen zu spät, wenn wir jetzt nach den ersten Veröffentlichungen im Herbst letzten Jahres und den ersten sachkundigen Äußerungen dazu die rechtliche Seite der Sache betrachten, weil die Verfasser dies bedauerlicherweise unterlassen haben. Es offenbart schon einen erheblichen Mangel an wünschenswerter Aufrichtigkeit, wenn die gleichen Kultusminister, die genau wissen, was sie hier anrichten, und deshalb möglichst schnell vollendete Tatsachen schaffen möchten, sagen: Wir sind nur für die Schule zuständig, und woanders können die Schüler schreiben, wie sie wollen. -- Das ist doch nicht die Lebenswirklichkeit.
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Der liberale Abgeordnete Dr. Stephani hat am 7. April 1880 -- es ist erst wenig mehr als hundert Jahre her -- im Deutschen Reichstag gesagt: Allerdings sind zur Zeit diese Verordnungen ja beschränkt auf Anordnungen für die Schule, in der Hauptsache wenigstens. Indes wird man doch anerkennen müssen, daß es ganz unmöglich ist, so die Schule vom Leben zu trennen, daß nicht mit diesen Verfügungen die außerhalb der Schule Stehenden ebenso stark in Mitleidenschaft gezogen werden wie die Schulen.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, denken Sie an Ihre Redezeit.
Detlef Kleinert (Hannover) (F.D.P.): So sprach unser Kollege damals im Reichstag.
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Detlef Kleinert (Hannover) (F.D.P.): Das ist die Wirklichkeit. Deshalb fühlen wir uns dringend veranlaßt, hier unsere Pflicht zu tun zusammen mit all denen, die sich in Initiativen zusammengeschlossen haben, um sich gegen etwas zu wehren, das zu wenig Nutzen bringt, um so viel Aufwand und Milliardenkosten zu rechtfertigen, und dafür zu sorgen, daß wir klarer sehen und zu einem vernünftigen Ergebnis kommen.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Detlef Kleinert (Hannover) (F.D.P.): Das vernünftige Ergebnis ist meiner Auffassung nach darin zu sehen, daß sich die deutsche Sprache pfleglich und behutsam im Zusammenwirken aller weiterentwickelt, die sich überhaupt dafür interessieren und damit beschäftigen, so wie das bisher auch ohne Kultusministerbeschlüsse möglich gewesen ist.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich gebe der Abgeordneten Maritta Böttcher das Wort.

Maritta Böttcher (PDS): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem noch 1994 ein breiter gesellschaftlicher Konsens in Deutschland, Österreich und der Schweiz über die Notwendigkeit einer Rechtschreibreform herrschte,
(Detlef Kleinert [Hannover] [F.D.P.]: Ministerialer Konsens!)
soll nun der Bundestag über einen Antrag befinden, in dessen Begründung davon ausgegangen wird, daß Regelungen in dieser Frage von so wesentlicher Bedeutung sind, daß sie nicht ohne Mitwirkung der Parlamente entschieden werden können. für die Amtssprache des Bundes ist demzufolge der Bundestag und für die Amtssprache der Länder sind die Länderparlamente zuständig. Gleichzeitig wird die Auffassung vertreten, daß die Rechtschreibung einer gesetzlichen Regelung nicht bedürfe. Also was denn nun? Worüber sollen wir eigentlich entscheiden? In der Geschichte gibt es jedenfalls kein Beispiel dafür, daß Parlamente Rechtschreibreformen beschlossen oder boykottiert hätten. Seit 1901 gab es ungefähr 100 Rechtschreibreformprogramme und -forderungen, um die unnötig kompliziert gewordene Rechtschreibung zu vereinfachen. 1954 gab der Sprachwissenschaftler Lutz Mackensen ein Rechtschreibwörterbuch heraus, in dem alte Zöpfe abgeschnitten und Neuschreibungen ohne amtliche Legitimierung aufgenommen waren. Daß die vorliegende Reform nur die gröbsten Mißstände beseitigt und ein radikaler Neuanfang vermieden wurde, wird selbst von den Reformern nicht bestritten. Neuerungen wie die gemäßigte Kleinschreibung oder das konsequente Eindeutschen von gängigen Fremdwörtern konnten auch diesmal nicht durchgesetzt werden. Die Probleme, die diesbezüglich aber in der weiteren Entwicklung zu lösen sind, können durch Parlamentsbeschlüsse weder befördert noch verhindert werden. Im Gegensatz zum Regelwerk von 1901, dessen politische Basis das Kaiserreich war, wo Regeln erlassen werden konnten, bei denen von vornherein feststand, daß sie von der Mehrheit nicht beherrscht werden, haben wir es heute mit demokratisch verfaßten Gesellschaften in Deutschland, Österreich und der Schweiz zu tun. Hermann Zabel ist in der Auffassung zuzustimmen, daß aus dem Demokratiegebot auch Konsequenzen für die Rechtschreibung folgen: Rechtschreibregeln dürfen und können sich nicht ausschließlich an den Bedürfnissen von Schreibspezialisten orientieren, sondern müssen so strukturiert sein, daß sie nur die bis zum Abschluß der Pflichtschulzeit vermittelten Fähigkeiten voraussetzen. Aufbauend auf diesen Basisregeln müssen Möglichkeiten der differenzierten Rechtschreibung und Zeichensetzung enthalten sein, um den Anforderungen von Schreibprofis Rechnung zu tragen. Dieses Problem wird auch von den Reformern gesehen, weshalb eine zwischenstaatliche Kommission eingerichtet wurde, die die Aufgabe hat, die Umsetzung der Reform in Wörterbüchern und Schulbüchern zu analysieren und sachlich abzuarbeiten.
(Detlef Kleinert [Hannover] [F.D.P.]: Hat sich vertagt!)
Im übrigen -- das wurde hier deutlich -- wird seit über 20 Jahren über diese Reform diskutiert. Das ist eigentlich ein Armutszeugnis. Kultusministerkonferenz und Bundesinnenministerium sind seit 1950 in Sachen Rechtschreibreform tätig, ohne daß Mitglieder des Bundestages daran Anstoß genommen hätten. In den betroffenen Nachbarländern versteht übrigens kein Mensch den Wirbel, der in Deutschland um die Reform, die ihren Namen nicht verdient, um das „Reförmchen“ gemacht wird. Weder Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger noch die deutsche Sprache sind bedroht. Aus linguistischer Sicht -- das gebe ich gerne zu -- kann man geteilter Meinung sein. Da wäre allerdings mehr Reform besser gewesen. Danke.
(Beifall bei der PDS)
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Meine verehrten Kollegen, mir ist gesagt worden, daß ein Antrag auf Verlängerung der Debattenzeit gestellt werden soll. Ich mache darauf aufmerksam, daß wir die vereinbarte Redezeit durch Hinnehmen von Redezeitüberschreitungen schon um eine Viertelstunde überzogen haben. Nun frage ich, ob Anträge gestellt werden. -- Das ist offenbar nicht der Fall.
(Widerspruch bei der F.D.P.)
-- Ich frage noch einmal, ob Anträge gestellt werden. -- Ich sehe und höre keinen Antrag. Dann schließe ich die Aussprache.
(Zurufe von der F.D.P.)
-- Bitte schön? Carl-Ludwig Thiele (F.D.P.): Ich stelle den Antrag auf Verlängerung der Debattenzeit zu diesem Punkt.
(Zuruf von der SPD: Er hat die Aussprache geschlossen!)
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Um wieviel Zeit?
Carl-Ludwig Thiele (F.D.P.): Zehn Minuten.
(Widerspruch bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Gibt es weitere Anträge zur Geschäftsordnung? -- Das ist nicht der Fall. Dann treten wir in die Abstimmung ein. Wer dem Antrag auf Verlängerung der Debattenzeit um zehn Minuten zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. -- Gegenprobe! -- Das erste war die Mehrheit. Dann ist das so beschlossen. Liegen Wortmeldungen vor? -- Herr Kollege Häfner, bitte, Sie haben das Wort.

Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst bedanke ich mich herzlich für die Möglichkeit, nun doch hier zu sprechen. Ich will mich deutlich kürzer fassen, als die jetzt beschlossene zusätzliche Debattenzeit erlauben würde. Ich möchte nur deutlich machen, daß ich in dieser Frage eine völlig andere Auffassung vertrete als mein geschätzter Fraktionskollege Helmut Lippelt,
(Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und die Fraktion, Gerald; das mußt du schon sagen!)
dessen Beitrag ich nichtsdestotrotz gerade in sprachlicher, aber auch in gedanklicher Hinsicht sehr goutiert habe. Mir ist vor allen Dingen folgendes wichtig: Die deutsche Sprache hat sich bisher, wenn wir einmal von weit zurückliegenden sprachregulierenden Maßnahmen -- etwas im Jahre 1901 -- absehen, nicht deshalb entwickelt, weil Kommissionen, Minister, Regierungen irgend etwas vorgeschrieben haben. Sprache gehört ihrem Wesen nach nicht Kommissionen, gehört nicht Regierungen, sondern gehört den Menschen, und sie entwickelt sich ständig mit diesen und durch diese Menschen.
(Beifall bei der F.D.P.)
Sprache verändert sich. Daß ich heute Foto häufig mit „F“ schreibe und es noch in meiner Schulzeit mit „Ph“ geschrieben hätte, liegt nicht daran, daß mir ein Minister vorgeschrieben hätte, ich solle das künftig anders schreiben. Vielmehr liegt es daran, daß sich die Sprache und auch die Schreibweise verändert haben. Bisher hat der Duden solche Veränderungen beobachtend aufgezeichnet, und ihm war irgendwann zu entnehmen: Jetzt sind zwei Schreibweisen möglich. Irgendwann hieß es dann: Inzwischen ist diese oder jene Schreibweise üblich. Das war alles von einer ministeriellen Vorschrift weit entfernt. Jetzt haben wir den erstmaligen und, wie ich finde, bemerkenswerten Vorgang, daß die Exekutive der Länder glaubt, Sprache bzw. Schrift amtlich regulieren zu müssen. Dazu sage ich ganz deutlich: Das ist noch nicht einmal eine Reform, die irgend etwas verbessert; Beispiele dazu sind vielfach gebracht worden. Es ist vielmehr eine Reform, die vieles verschlimmert,
(Zustimmung bei der F.D.P.)
weil es doch keinem Menschen einleuchtet, warum ich in Zukunft zum Beispiel „hoch begabt“ auseinander, „hochgebildet“ aber zusammen, „hoch qualifiziert“ wieder auseinander, dafür „hochgelehrt“ wieder zusammenschreiben soll. All dies ist vollständig unsinnig und leuchtet keinem Menschen ein. Es leuchtet auch keinem Menschen ein, warum ich bisher „fließen“, „floß“ und „Fluß“ jeweils mit scharfem S geschrieben habe, zukünftig aber -- der Vereinfachung und der Erleichterung wegen, wie man uns erzählt -- „fließen“ nach wie vor mit scharfem S, dagegen „floss“ mit Doppel-s und „Fluss“ auch mit Doppel-s schreiben muß. Es fehlt die Logik, es fehlt die Klarheit. Auch beim sogenannten Stammwortprinzip sind die Vorschriften widersinnig. Sie alle kennen das Wort „einbleuen“. Niemand wird mich vergewaltigen, dies künftig mit „ä“ zu schreiben, wo das Wort doch von „bleuen“, also schlagen, kommt, was zum Beispiel noch in dem Wort „Pleuel“ als Wortstamm lebt und mit der Farbe blau, wie man uns vormachen will, überhaupt nichts zu tun hat -- allenfalls im Ergebnis, aber keinesfalls im Prozeß. -- Also, das sind vollständig unsinnige Pseudo-Reformen. Es ärgert mich, daß hier nach einer Methode, die wir in der Politik leider oft haben, nämlich nach dem Motto „Augen zu und durch“ oder „Kopf in den Sand“, ignoriert wird, daß 90 Prozent der Menschen im Land sagen: „Wir wollen das nicht“, daß auch die Österreicher sagen: „Wir haben das eigentlich nie wirklich gewollt; wenn Deutschland das nicht macht, machen wir das auch nicht“, daß die Schweizer in ähnlicher Richtung diskutieren, daß in immer mehr Bundesländern gegen diese erklärende Reform Volksbegehren laufen und daß nur eine kleinere Kommission und die Minister den Kopf in den Sand stecken und sagen: Watt mut, dat mutt. Ich sage: Das sollten wir nicht zulassen. Ich bin -- nebenbei -- auch nicht der Meinung, daß der Bundestag über die Rechtschreibung entscheiden sollte. Ich bin vielmehr der Auffassung, daß es Bereiche gibt, bei denen sich die Politik zurückhalten muß; es gibt drei Bereiche, die die Politik nichts angehen. Dazu gehört unsere Sprache. Die wird sich weiterhin frei entwickeln und verändern, wenn wir Politiker nur die Finger davonlassen. Das setzt aber voraus, daß endlich auch die Kultusminister davon ablassen, und das setzt voraus, daß wir über den Antrag und über unsere Handlungsmöglichkeiten in vernünftiger Weise beraten, weshalb auch wir uns für dessen Überweisung aussprechen. Ich bedanke mich.
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile dem Abgeordneten Irmer das Wort.

Ulrich Irmer (F.D.P.): Herr Präsident! Ich möchte mich nicht zur Sache äußern; ich möchte vielmehr den Antrag stellen, daß der Antrag, der hier eingebracht worden ist, an die in der Tagesordnung vorgesehenen Ausschüsse überwiesen wird.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Es liegt ein weiterer Antrag zur Geschäftsordnung vor. Bitte, Herr Weng.

Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (F.D.P.): Herr Präsident! Unter den Geschäftsführungen der Fraktionen und der Gruppe bestand Einmütigkeit, daß als zusätzlicher mitberatender Ausschuß der Haushaltsausschuß des Bundestages vorgesehen werden soll. Ich möchte dies hier beantragen.
Dr. Burkhard Hirsch: Gibt es weitere Wortmeldungen oder Anträge? -- Das ist erfreulicherweise nicht der Fall. Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 13/7028 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse sowie an den Haushaltsausschuß vorgeschlagen. -- Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Wir sind damit am Ende unserer Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Bundestages auf Mittwoch, den 23. April 1997, 13 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.
(Schluß der Sitzung: 13.52 Uhr)


[Text am 21.7.2001 korrigiert von Dominik Schumacher: ?>ä ?>ö ?ü ?>ß ?>Ä ?>Ö ?>Ü]

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