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Geschichte der Rechtschreibreform
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Sigmar Salzburg
13.01.2021 12.51
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Konrad Duden

Kopf des Tages

Aus „Vieh“ wollte er „fi“ machen, aus „du wäschst“ „du wäscht“

Der Philologe Konrad Duden hatte ein großes Ziel: Das neu gegründete Deutsche Reich brauche auch eine einheitliche Rechtschreibung. Dafür nahm er den Kampf mit Bismarck auf. Vier Jahre nach dessen Tod begann sein Siegeszug.

Von Matthias Heine

[Bild] 3. Januar 1829: Konrad Duden (1829–1911), Philologe und Begründer des „orthographischen Wörterbuchs“, geboren [...]

1871 legte Duden, mittlerweile Gymnasialdirektor in Schleiz (Thüringen), seinen ersten Vorschlag für eine Rechtschreibreform vor. 1876 war er einer der führenden Köpfe auf der Berliner Konferenz zur „Herstellung größerer Einigung in der deutschen Rechtschreibung“. Duden gehört zur Partei der Wissenschaftler, die die Buchstaben f, v und ph durch einheitliches f ersetzen wollten. Das Dehnungs-h wollten sie auch weitgehend abschaffen. Dann hätte man nicht mehr Vieh, sondern fi geschrieben.¹)

Duden und die anderen Anhänger einer phonetischen Schreibung, bei der möglichst eindeutig und logisch sein sollte, welcher Buchstabe welchen Laut bezeichnet, setzten sich auf der Berliner Konferenz durch. Obwohl Reichskanzler Otto von Bismarck mit dem Straßburger Germanisten Wilhelm Scherer extra einen Bremser im Gremium installiert hatte, stimmten die Teilnehmer mit demokratischer Mehrheit für einige zarte Reformen.

Das fi wäre den Deutschen zwar erspart geblieben, aber die gemäßigte Kleinschreibung sollte eingeführt werden, Pluralformen wie Theorieen und Sympathieen sollten immer mit zwei ee geschrieben werden, und künftig sollte es nicht mehr du wäschst, sondern du wäscht heißen. Doch Bismarck lehnte die Rechtschreibreformvorschläge rundherum ab.

Aber ein Duden ließ sich auch von einem „Eisernen Kanzler“ nicht bezwingen. 1880 veröffentlichte er das „Vollständige orthographische Wörterbuch der deutschen Sprache“, die erste Ausgabe des Rechtschreib-Dudens. Das Buch war verglichen mit heutigen Duden-Ausgaben ganz dünn, nur die Stammwörter sind darin verzeichnet. Damit schuf er die Basis für eine einheitliche deutsche Rechtschreibung.

1902 werden Dudens gegenüber dem früheren Radikalismus sehr gemäßigte Regeln in Deutschland, Österreich-Ungarn und der Schweiz für verbindlich erklärt. Duden starb 1911, da hatte sein Wörterbuch schon acht Auflagen erreicht. Bis heute sind es 28.

welt.de 3.1.2021

Leserzuschriften:

Paul B. Das Bundesgesundheitsministerium hat die Zeit für die Beschaffung der Impfstoffe genutzt, um weitgehend unbeachtet eine Neuerung einzuführen (nachzulesen auf der Seite zur Corona-Schutzimpfung). Nach dem Wegfall des Binnen-I (BürgerInnen) ist nun auch das Gendersternchen (Bürger*innen) Geschichte. Es schreibt nun „Bürger:innen“.

Thomas M. Spricht man das „Bürgerdoppelpunktinnen“?

¹) Das „Vieh“ [fihu, pecu(s)] war gerettet, dafür haben nun die Reformaffen 1996 den Stammlaut „h“ im „Rauhen“ amputiert.

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Sigmar Salzburg
22.06.2019 14.45
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Zur Erinnerung:

Kurzgefaßte Zusammenstellung aller markanten Ereignisse in Zusammenhang mit der Rechtschreib„reform“ seit dem fragwürdigen Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juli 1998:

http://www.schriftdeutsch.de/orth-akt.htm

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Sigmar Salzburg
26.01.2019 16.49
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Das fehlte hier noch:

Michael Schneider

Geschichte der Rechtschreibung samt Reformen, bis 2001


http://neu.gutes-deutsch.de/geschichte

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Sigmar Salzburg
08.08.2017 03.52
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Seltsame Zirkel

Eben stoße ich wieder auf einen älteren Eintrag von Theodor Ickler v. 18.7.2011 bei sprachforschung.org :

1978 fand in Wien eine der vielen Vorbereitungskonferenzen statt. Die Beiträge sind erschienen: Mentrup, Wolfgang/Ernst Pacolt/Louis Wiesmann, Hg.: Zur Reform der deutschen Orthographie. Heidelberg 1979.

Das Bändchen ist großenteils schon in der ersehnten Kleinschreibung gedruckt. Die Österreicher, deren führende Rolle deutlich wird, hatten sich bereits 16 Jahre lang mit der Reform beschäftigt.

„Wir wissen alle, dass die orthographiereform, die vor allem für die schule wichtig ist, dann ihre vernünftigste und einfachste lösung fände, wenn die totale kleinschreibung eingeführt würde.“ (Louis Wiesmann S. 108)

Das „wußten“ also alle!

Es ging dann um den Eigennamenbegriff. Wenn sie zu Appellativen geworden sind, sollten sie nach Wunsch der Österreicher klein geschrieben werden: eine xanthippe.
Silbentrennung nach Sprechsilben: a-bend
s-Schreibung nach Heyse

Augst schleust wieder seine Etymologien ein, ist aber ganz und gar auf Liberalität gestimmt: Freiräume für die Schreibenden. So schreibt er:

„Wer das Rören des Hirsches synchron zu Röhre stellt, sollte es auch mit schreiben dürfen, also *‹röhren›, ebenso *‹behände, überschwänglich, Gespinnst, Blühte›" usw.

Man solle aber wählen können zwischen gleichberechtigten Varianten in Bezug, in bezug, inbezug.

(Komischerweise wurde röhren spätestens seit 1912 sowieso mit h geschrieben, rören war immer nur regional oder als Nebenform zugelassen.)

Im übrigen ging es darum, die politischen Stellen zu gewinnen, um die Reformwünsche der Sprachwissenschaftler durchsetzen zu lassen. Es ging immer nur um Durchsetzung und Durchsetzbarkeit, eine Befragung der Begünstigten wurde nie erwogen. Zwangsbeglückung durch eine Elite von Einsichtigen. Mit der Liberalität war es dann auch bald vorbei, Varianten wurden nur aus Verlegenheit eingeführt.

Man liest diese alten Dokumente mit sehr gemischten Gefühlen. Was für seltsame Zirkel es geschafft haben, die ganze deutsche Sprachgemeinschaft zu belästigen!
Hervorhebung durch mich.

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Sigmar Salzburg
31.08.2016 14.07
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Die Trottel und Missetäter

Zum Abschluß der zwei Gedenkmonate anläßlich der 10- und 20jährigen „Jubiläen“ der Heimsuchung durch die Rechtschreib„reform“:

Man kann einer fast religiösen Sekte wie den Rechtschreibreformern kaum vorwerfen, daß sie ihre missionarischen Ziele verfolgt. Die Politiker aber, denen nach unserer Verfassung für vier Jahre geradezu diktatorische Vollmachten eingeräumt werden, haben die Interessen des Volkes zu vertreten und hätten bei geringer Anstrengung ihres Verstandes die verheerende Wirkung der „Reform“ erkennen müssen. Sie haben versagt. Warnungen hat es bis zur geplanten endgültigen Durchsetzung durch Geiselnahme der Schüler genug gegeben:

Der ehemalige Verfassungsrichter Prof. Ernst Gottfried Mahrenholz hatte schon vor dem schandbaren Urteil der Karlsruher Verfassungsrichter erkannt:
„In der Neuregelung der Daß-Schreibweise haben die Minister ihre Kompetenz überschritten... Hier kann ein Eingriff, der die bisherige Funktion eines Buchstabens betrifft, eine Veränderung seines überlieferten „Ortes“, nicht aus der Kompetenz für Schulfragen gerechtfertigt werden...“
(Süddeutsche Zeitung 23./24. 08.1997).

Damals hätten die Kultusminister und ihre Vorgesetzten, die Ministerpräsidenten, ihren Größenwahn erkennen müssen, eine 600jährige -Tradition vernichten zu wollen. Auch dabei haben sie versagt.

Der Verfassungsrechtler und ehemalige Verteidigungsminister Prof. Rupert Scholz sagte am 13. Juli 1998:
„Es sind letztlich die Bürger von Schleswig-Holstein, die in einer Volksabstimmung über die Einführung der Reform entscheiden. Votieren sie dagegen, ist die Reform tot.“

Spätesten nach dem Volksentscheid am 27. September 1998 hätten die Kultusminister und die Ministerpräsidenten aus eigener Überzeugung die Reform stoppen müssen. Hier haben sie ihre Gesichtswahrung über die Demokratie gestellt und wieder versagt.

Marcel Reich-Ranicki sagte anläßlich der Rückkehr der FAZ zur deutschen Kulturrechtschreibung:
„Die Trottel und Missetäter haben ihre Unfähigkeit hinreichend bewiesen.“
(28.07.2000 „Kölner Express“)

Aus Rechthaberei und Feigheit haben die Politiker auch in der Umkehr versagt:
Die Kultusminister wissen längst, dass die Rechtschreibreform falsch war.
(Johanna Wanka, Spiegel 1/2006)

TROTTEL MISSETÄTER VERSAGER
Bundesinnenminister 1996
Manfred Kanther
Staatssekr. Lintner
Edmund Stoiber
Hans Zehetmair
Bundesverfassungsrichter 1998
Hans-Jürgen Papier,
Jutta Limbach u.a
Reinhard Höppner
Karl-Heinz Reck
Berndt Seite
Regine Marquardt
Heide Simonis
Gisela Böhrk
Hans Eichel
Hartmut Holzapfel
Erwin Teufel
Annette Schavan
Gerhard Schröder
Rolf Wernstedt
Johannes Rau
Gabriele Behler
Kurt Biedenkopf
Matthias Rößler
Kurt Beck
Jürgen Zöllner
Oskar Lafontaine
Diether Breitenbach
Eberhard Diepgen
Ingrid Stahmer
Henning Scherf
Bringfriede Kahrs
Henning Voscherau
Rosemarie Raab
Bernhard Vogel
Dieter Althaus
Manfred Stolpe
Angelika Peter


TED-Umfrage 26.10.1995: 89 Prozent Ablehnung der Reformbastelei


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Sigmar Salzburg
16.05.2015 08.42
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Die Volksbegehren in Bremen 1999/2000

Die Volksbegehren gegen die Rechtschreib„reform“ in Bremen 1999-2000 wurden durch Finten der SPD-Regierung zu Fall gebracht. Dies führt die Initiative „Mehr Demokratie“ in ihrer Auflistung auf. Erst nach 60 Jahren Bremer Verfassung gelingt 2006 überhaupt eine Volksabstimmung. Seither wurden die Hürden ständig abgesenkt. Dem Willen des Volkes nach einem Stopp der „Reform“ half das nicht mehr, weil sich Parteienklüngel und Medienmafia dagegen verschworen hatten:

1998/2000 Rechtschreibreform 1

Ziel der Initiative „WIR gegen die Rechtschreibreform“ ist die Beibehaltung der alten Schreibregeln.

Ergebnis: In der Rekordzeit von nur zwei Wochen wurden im Herbst 1998 10.000 Stimmen für den Zulassungsantrag gesammelt. Der Senat hat das Volksbegehren am 9. März 1999 gestoppt.¹ Der Staatsgerichtshof hingegen erklärte den Antrag am 14. Februar 2000 für zulässig. Das Volksbegehren scheiterte in der Unterschriftensammlung.

1999 Rechtschreibreform 2

Neustart des Volksbegehrens „WIR gegen die Rechtschreibreform“ mit einem veränderten Gesetzentwurf, weil man nicht warten wollte, bis der Staatsgerichtshof über den ersten Antrag entscheidet.

Ergebnis: Am 4. Oktober 1999 wurde das Volksbegehren mit über 5.000 Unterschriften beantragt. Am 23. November stoppte der Senat auch den zweiten Anlauf der Reformgegner. Er informierte darüber nicht einmal die Öffentlichkeit. Zu einer Entscheidung des Staatsgerichtshofs kam es nicht mehr, nachdem das erste Begehren am 14.02.2000 zugelassen wurde.

http://bremen-nds.mehr-demokratie.de/9416.html

¹) ... obwohl der gleiche Text in Schleswig-Holstein zugelassen war und weil er dort erfolgreich war!

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Sigmar Salzburg
04.05.2015 08.19
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Aus der Vorgeschichte der Rechtschreibreform

Der verdienstvolle Chefkorrektor der Neuen Zürcher Zeitung, Walter Heuer, hat einige Ideen zu einer Reform der deutschen Rechtschreibung beigesteuert, die sich als problematisch erwiesen, als sie zwanzig Jahre nach seinem Tod tatsächlich in die Tat umgesetzt wurden. Wohl aus diesem Grund ist hier im Forum bislang nur wenig über ihn zu erfahren:

Nach Wikipedia:

Walter Heuer

Walter Heuer (* 25. Oktober 1908 in Aegerten, Kanton Bern; † 7. September 1977 in Küsnacht ZH) war ein Schweizer Korrektor und Sprachpfleger. Als Chefkorrektor der Neuen Zürcher Zeitung und Autor des Buchs Richtiges Deutsch hatte er grossen Einfluss auf die Rechtschreibung, besonders in der Deutschschweiz...
Walter Heuer wurde am 31. Dezember 1973 pensioniert ...

[... und am 4. November 1974 stellte auch die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) als letzte der Schweizer Zeitungen vom ß auf das Doppel-s um.]

Durch die weite Verbreitung seines Buchs «Richtiges Deutsch» beeinflusste Walter Heuer die Didaktik der Grammatik nachhaltig, auch ausserhalb der Schweiz. Daneben nahm er dezidiert Stellung zu Fragen der Erneuerung der Rechtschreibung.

Heuer war ein entschiedener Gegner der sogenannten gemässigten Kleinschreibung, die stets ein Anliegen von Reformern gewesen war; er war auch gegen die Abschaffung der Dehnungszeichen und die forcierte Eindeutschung der Fremdwörter.

Als Kritiker von zu starren Festlegungen durch den Duden war er aber Reformen durchaus gewogen. So votierte er für die Einführung der Heyseschen Regelung des ß (ß nur nach langen Vokalen und Diphthongen), gegen den Grundsatz «im Zweifel klein» bei der Gross-/Kleinschreibung, gegen die Zusammenschreibung von Wörtern, wo sie keinen anderen Begriff ausdrückt, und beim Zusammentreffen von drei gleichen Konsonanten für die gleiche Regel wie bei drei gleichen Vokalen (einen Bindestrich zu setzen: Schiff-Fahrt).

Bei der Worttrennung am Zeilenende war er für die Trennung von st und vor ck (anstelle der Auftrennung in k-k) sowie für die Freigabe der Trennung nach Sprechsilben (Inte resse) neben der morphologischen Trennung (Inter esse).

Die Rechtschreibreform von 1996 hat diese Vorschläge wie auch seine als Abweichungen zum damaligen Duden für die NZZ festgelegten, in Fachkreisen legendär gewordenen Schreibweisen «überschwänglich» und «Albtraum» übernommen.

Wikipedia

Siehe auch sok.ch.

Über den Schweizer Reformer und Rechtschreibrat Gallmann sind viele dieser Schreibweisen gegen den Willen der Deutschen in die Rechtschreib„reform“ geschleust worden unter dem Vorwand, eine neue Einheitlichkeit herstellen zu wollen – die dann doch nicht entstand, weil die Schweizer nicht daran dachten, die Heyse-Regelung zu übernehmen.

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Sigmar Salzburg
29.10.2012 08.36
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Aus der Reform-Geschichte

Ministerialrat Christoph Stillemunkes,
der hessische Rechtschreib-Rasputin


Es hat keinen Zweck, die – vermeintlich – eigentlich Regierenden in Hessen auf die Problematik [der Reform] anzusprechen. Man kann zum Beispiel schreiben, wem man will – wer antwortet, ist immer der Rasputin der hessischen Orthographie: Ministerialrat Christoph Stillemunkes…

sprachforschung.org 2004

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Sigmar Salzburg
30.06.2012 16.53
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1984 – Kultusminister Georg Gölter

SPIEGEL Gespräch

Auch bei 20 Fehlern eine Eins im Aufsatz?


Von Harenberg, W. und Adam, P.

Kultusminister Georg Gölter (CDU) über die Rechtschreibung, ihre Reform und ihren Stellenwert in der Schule *

SPIEGEL: Nehmen Sie mal an, Herr Minister, eines Ihrer Kinder hätte Katarrh und Sie sollten die Entschuldigung für die Schule schreiben: Müßten Sie erst nachsehen, wie man Katarrh schreibt?

GÖLTER: Das bräuchte ich nicht zu tun, denn ich habe ein altsprachliches Gymnasium besucht und sechs Jahre lang Griechisch gehabt.

SPIEGEL: Beherrschen Sie auch die Groß- und Kleinschreibung, wissen Sie also, daß es zum Beispiel angst machen, aber Angst haben heißt, die zweite, aber die Zwei, die vielen, aber die Zahlreichen? Und man kann des weiteren darlegen, aber ist des Weiteren enthoben; es geht jemanden nicht das geringste an, aber das Geringste, was einen angeht, wird wieder anders geschrieben.

GÖLTER: Ob ich das alles richtig mache, ist schon die Frage; jedenfalls sind das Beispiele, mit denen für die Kleinschreibung geworben wird.

SPIEGEL: Wir werben nicht, wir fragen nur.

GÖLTER: Dann gibt es ja auch die berühmten doppeldeutigen Sätze, die gegen die Kleinschreibung sprechen sollen: Ich habe in berlin liebe genossen ...

SPIEGEL: Der Satz wäre nur bei einem SPD-Minister doppeldeutig. Ein CDU-Minister wie Sie kann ja in Berlin nur „Liebe genossen“, nicht „liebe Genossen“ haben.

GÖLTER: Liebe Freunde schon, und das ist viel wichtiger.

SPIEGEL: Aber wir wollten wissen, ob Sie in der Groß- und Kleinschreibung firm sind.

GÖLTER: Im allgemeinen ist mir das schon einigermaßen präsent, da ich neben Geschichte und Politischen Wissenschaften auch Germanistik studiert habe und außerdem in der Schule tätig war, wenn auch nur eine begrenzte Zeit lang. Aber seit rund 15 Jahren bin ich ein bißchen außer Übung. Ich schreibe selbst nur noch in Ausnahmefällen, nur noch privat, und diktiere ganz überwiegend, sogar früher Briefe an meine Eltern, weil diese meine Schrift nicht mehr so gut lesen konnten.

Es kommt schon vor, daß ich gelegentlich in den Duden gucken muß, wenn meine eigenen Kinder mich auf Zweifelsfälle ansprechen.

SPIEGEL: Wir haben hier einen Diktattext von zehn Zeilen mitgebracht. Würden Sie sich zutrauen, ihn ohne Fehler zu schreiben?

GÖLTER: Oh, weh, damit habe ich nicht gerechnet. Nun gut, ich versuch''s einfach mal. (Geht an seinen Schreibtisch, läßt sich den Text diktieren, kehrt zurück.) Nun?

SPIEGEL: Sechs Fehler.

GÖLTER: Eindeutig Versagen in einer Prüfungssituation! Aber was ist damit bewiesen?

SPIEGEL: Daß die deutsche Rechtschreibung reformbedürftig ist, wenn sogar jemand, der Abiturient eines humanistischen Gymnasiums, Germanist und Kultusminister in einer Person ist, so viele Fehler macht.

GÖLTER: Was Sie mit mir als Objekt vorgeführt haben, ist ohnehin klar: Auch wer mit Sprache viel zu tun hatte und hat, auch wer im landläufigen Sinne zu den Gebildeten zählen mag, steht angesichts der Kompliziertheit der Rechtschreibung immer wieder vor Problemen. Ich beziehe mich da durchaus ein.

Manchen, die noch nicht sensibel genug sind für all das, was wir auf diesem Gebiet unseren Kindern und den Ausländern zumuten, wäre zu wünschen, daß sie ein solches Diktat schreiben und über ihren eigenen Fehlern nachdenklich werden. Weil ich die Rechtschreibung für reformbedürftig halte, habe ich dieses

_(Mit Redakteuren Werner Harenberg und )
_(Peter Adam im Mainzer Kultusministerium. )

Thema auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung der „Konferenz der Kultusminister“ gebracht.

SPIEGEL: Soll die KMK schon am 14. und 15. Juni in Saarbrücken eine Reform beschließen?

GÖLTER: Nein, auf keinen Fall, daß ist weder notwendig noch ist es erreichbar. Es soll, das ist meine Vorstellung, beschlossen werden, eine nationale Kommission zu bilden. Bis zur ersten KMK-Sitzung nach der Sommerpause könnte dann eine Vorschlagsliste erarbeitet werden, die Kultusminister würden die Mitglieder im Herbst berufen. Nach einem angemessenen Zeitraum, etwa einem Jahr, sollte die Kommission einen Reformvorschlag vorlegen, über den die KMK zu entscheiden hätte.

SPIEGEL: Warum soll die Kultusministerkonferenz eigentlich ein zweites Mal in dieser Sache entscheiden? Sie hat doch schon im Jahre 1973 einstimmig die „gemäßigte Kleinschreibung“ beschlossen, nach der nur noch Satzanfänge, Eigennamen, das Anredepronomen „Sie“ und einige Abkürzungen groß geschrieben würden. Was ist eigentlich aus diesem Beschluß geworden?

GÖLTER: Nichts.

SPIEGEL: Gilt er noch?

GÖLTER: Das weiß ich nicht. In der offiziellen Sammlung der KMK-Beschlüsse steht er nicht mehr drin.

SPIEGEL: Ist denn beschlossen worden, ihn aus den Akten zu entfernen? Das müßten Sie doch wissen, für einen KMK-Beschluß könnte das doch nur die KMK selbst beschließen.

GÖLTER: Bei aller Notwendigkeit, Beschlüsse umzusetzen und einzuhalten, sollte man die KMK nicht als ein Gremium betrachten, das den rechtlichen Anforderungen gerecht werden müßte, die an Gesetzgeber, also Bundestag und Landtage, gestellt werden.

Ich werte den Beschluß von 1973 über die Rechtschreibreform als eine politische Absichtserklärung, die Reform in dieser Richtung voranzutreiben. Die Kultusminister haben ja damals nicht beschlossen, mit Beginn des nächsten Schuljahres die gemäßigte Kleinschreibung einzuführen.

SPIEGEL: Was wird am Ende der Entwicklung stehen, die Sie jetzt einleiten wollen, wieder eine Absichtserklärung, die womöglich wieder aus den Akten verschwindet?

GÖLTER: Das ist natürlich nicht meine Vorstellung. Ich bin ganz optimistisch, daß wir diesmal zu einem Beschluß kommen, der auch realisiert wird. Mein Ziel ist es, die Kompliziertheit der Rechtschreibung und die Chancen einer Reform in einer emotionsfreien Atmosphäre zu erörtern. Da sich die Diskussion in den letzten Jahren versachlicht hat, halte ich das für möglich.

SPIEGEL: Da haben wir Zweifel. Die Kommentare der anderen Unions-Kultusminister zu Ihrer Initiative waren alles andere als positiv, und sie waren auch nicht nüchtern-sachlich, sondern aggressiv.

GÖLTER: Die Kollegen haben sich nur zu einem Teilpunkt geäußert, ob die „gemäßigte Kleinschreibung“ eingeführt werden soll. Dagegen haben sich in der Tat alle Unions-Minister geäußert, abgesehen von Herrn Oschatz, dem derzeitigen KMK-Präsidenten.

SPIEGEL: Ihre Kollegen und Parteifreunde könnten insofern aus guten Gründen gegen Ihre Initiative sein, als Sie Ihre eigene Partei, die CDU, in eine schwierige Lage bringen.

GÖLTER: Wieso?

SPIEGEL: Das beginnt schon mit der Kommission.

Entweder beschließt die KMK, jedes Bundesland entsende einen Vertreter, dann wäre zwar eine CDU/CSU-Mehrheit von sieben zu vier gesichert, doch es röche nach Manipulation, auf diese Art eine Fachkommission zu bestellen.

Oder die Kommission setzt sich wieder, wie bislang alle Rechtschreibkommissionen des In- und Auslands, aus Fachleuten der einschlägigen Institute und Verbände zusammen, dann ist eine Mehrheit für die „gemäßigte Kleinschreibung“, also gegen die Meinung der CDU/CSU-Minister, ziemlich sicher.

GÖLTER: Das sehe ich überhaupt nicht so. Die Länder sollten schon vertreten sein, aber je zwei oder drei aus den Unions- und aus den SPD-Ländern würden genügen. Viel wichtiger ist es, in dieser Kommission den Sachverstand zu versammeln, den es in der Bundesrepublik gibt, also jene Fachleute, die zum Teil schon seit Jahrzehnten mit dieser Frage befaßt sind und sich in der Literatur ausgewiesen haben. Und diese Fachleute sollten ohne jede Vorgabe der KMK berufen werden.

SPIEGEL: Sie fürchten nicht, daß dann die Mehrheit ...

GÖLTER: Wenn wir bei der Lösung dieses wichtigen Problems einen großen Schritt weiterkommen wollen, dann darf die Entscheidung keine Frage von Mehrheiten und Minderheiten sein.

Ich sehe die Aufgabe der Kommission darin, eine umfassende Bestandsaufnahme zu machen, also die Rechtschreibung in ihrer gesamten Breite zu überprüfen und am Ende festzustellen, über welche Reformvorschläge man sich einig ist und über welche Reformvorschläge eine Einigung nicht zu erzielen ist.

SPIEGEL: Da können wir fast ohne Risiko eine Prognose wagen. Die Kommission wird sich auf allen Gebieten einigen und eine Reform der Zeichensetzung, des Getrennt- und Zusammenschreibens, der Silbentrennung, der Fremdwortschreibung vorschlagen. Worin sich die Experten mehr oder minder einig sind oder einig werden können, haben wir zusammengestellt (siehe Kasten Seite 162). Nur in einem Punkt wird eine Minderheit die Reform ablehnen, eben wenn es um die Groß- und Kleinschreibung geht.

GÖLTER: Das wäre ein faszinierendes Ergebnis, das wäre ja sogar ein Jahrhundertergebnis. Ich nehme mich nicht wichtiger als ich bin, aber wenn der Kultusminister Georg Gölter aus dem relativ kleinen Bundesland Rheinland-Pfalz dazu einen Beitrag geleistet hat, dann kann er darauf sogar ein bißchen stolz sein. Es ist über 80 Jahre her, seit zum ersten und bislang letzten Mal ein Regelwerk für die deutsche Sprache in Kraft getreten ist. Seither gibt es nur die Bemühungen der Duden-Redaktion, dieses Werk durch immer neue Regeln und Regelungen zu aktualisieren.

SPIEGEL: Sind wir uns darüber einig, daß das, bei allem Sachverstand der Duden-Redaktion, nur Flickschusterei gewesen ist?

GÖLTER: Jedenfalls sind die Regeln immer komplizierter geworden. Die einheitliche Regelung ist durchgehalten worden, aber um den Preis eines immer schwerer durchschaubaren Regelwerks. Es hat bislang kein politisches Konzept gegeben, nach dem man anders hätte vorgehen können. Hier, meine ich, müßte die Kultusministerkonferenz handeln.

SPIEGEL: Nun ist aber die Forderung nach einer Kleinschreibung der Substantive, das ist ja der Kern der Kontroverse, fast so alt wie die Orthographiereform aus dem Jahre 1902. Schon 1908 hat Konrad Duden – der Mann, dem die Reform zu verdanken ist – geschrieben:

" Die Substantiv-Großschreibung schädigt durch nutzlose Gedächtnisbelastung die geistige und leibliche Gesundheit unserer Jugend, indem sie der Schule kostbare Zeit und dem Kinde Lust und Freude am Lernen raubt. Sie wirkt verdummend, indem sie unter Kraftvergeudung Verstand und Gedächtnis zu gegenseitigem Kampf zwingt. Sie erschwert die Ausbreitung der deutschen Sprache. "

GÖLTER: Noch so schöne Zitate helfen uns nicht weiter, zumal es Zitate pro wie kontra Kleinschreibung gibt.

SPIEGEL: Sicher, jede Seite kann da ganze Serien zusammenstellen. Die Kleinschreiber warten dann mit der Reihe von Jacob Grimm über Bertolt Brecht bis Heinrich Böll auf, die Großschreiber mit der Reihe von Wilhelm Grimm über Thomas Mann bis Günter Graß.

GÖLTER: Man muß die Sache ganz realistisch sehen, ob man es nun begrüßt oder bedauert: Es kann und es wird in diesem Jahrhundert in der Bundesrepublik keine Einigung über Groß- und Kleinschreibung geben.

Die Diskussion über die Rechtschreibung litt in den letzten 20 Jahren darunter, daß die Groß- oder Kleinschreibung immer der erste Punkt war, dann marschierten sofort die Bataillone auf. Deshalb meine ich, daß wir dieses Thema jetzt zum letzten Punkt machen oder ganz ausklammern, uns also sehr früh darauf einigen sollten, daß wir uns in dieser Frage nicht einigen können. Es läßt sich dann unnötiger Streit vermeiden, der uns nur hindert, die Reform in den anderen Punkten zu realisieren.

SPIEGEL: Soll die Kommission sich gar nicht mit diesem kontroversen Thema befassen?

GÖLTER: Doch, das schon, das gehört zur Bestandsaufnahme dazu.

SPIEGEL: Können Sie uns erklären, warum die Kultusminister der CDU/ CSU in dieser Sache konvertiert sind? So radikal haben sie ja sonst nur ein einziges Mal ihre Meinung geändert, als sie die Konfessionsschulen abschafften, die sie zunächst noch verteidigt hatten.

GÖLTER: Die Diskussion ist damals sehr schnell zu einer ideologischen Auseinandersetzung geworden, wenn Sie nur – um ein Stichwort zu geben – an die hessischen Rahmenrichtlinien denken. Da haben sich die Meinungen stark polarisiert. Man muß wohl auch ganz nüchtern feststellen, daß dieses Thema wie wenige andere geeignet ist, Emotionen auszulösen. Das galt für die sechziger und siebziger Jahre, aber das gilt wohl auch heute. Deshalb hätte ein neuer Streit um dieses Thema keinen Sinn, er führte zu nichts.

SPIEGEL: Wir würden gern Ihre eigene Meinung hören. Ihr Vorvorgänger, der heutige Ministerpräsident Bernhard Vogel, war 1974 noch für „das Ersetzen von Großbuchstaben durch Kleinbuchstaben“, Ihre Vorgängerin, die heutige Berliner Schulsenatorin Hanna-Renate Laurien, meint 1984, daß „man im Deutschen die großen Buchstaben braucht“.

GÖLTER: Ich bin im Gegensatz zu manchen anderen der Auffassung, daß auch im Vergleich zu anderen Kultursprachen, etwa dem Französischen und dem Englischen, die Bedeutung der Großschreibung für die deutsche Sprache von vielen überschätzt und überbewertet wird.

SPIEGEL: An dem Kultusminister Gölter würde die „gemäßigte Kleinschreibung“ nicht scheitern?

GÖLTER: Nein, an mir würde diese Reform nicht scheitern. Aber das ist eine Diskussion l''art pour l''art.

SPIEGEL: Wohl nicht ganz, denn das Thema wäre ja auch dann nicht aus der Welt, wenn es in der Bundesrepublik beerdigt würde. In einer Bestandsaufnahme des Rechtschreib-Experten Wolfgang Mentrup vom Mannheimer Institut für deutsche Sprache wird die Einstellung der politischen Institutionen so beschrieben: Die DDR sei einer Reform aufgeschlossen, Österreich sei freundlich-bemüht, die Schweiz verhalte sich abwartend-neutral, die Bundesrepublik reagiere abwehrend-unwillig.

Man kann es sogar noch schärfer formulieren: Die DDR ist eindeutig für die Kleinschreibung, und in Österreich hat sich der Trend dahin verstärkt.

GÖLTER: Alle Staaten haben erklärt oder deutlich zu erkennen gegeben, daß sie keinen Alleingang wollen. Man sollte auf alle Spekulationen verzichten, bis der nächste Schritt erfolgt ist und die Bundesrepublik, die bislang nicht offiziell, sondern nur durch Fachleute vertreten war, ihr offizielles Votum einbringt und Verhandlungen der vier deutschsprachigen Staaten beginnen können.

Wenn unser Konzept zwar nicht zur. Kleinschreibung, aber zu einer Vereinfachung der Regeln ohne Bruch mit der Tradition führen würde, könnte ich mir sehr gut vorstellen, daß es zu einer Übereinkunft der vier Staaten führt.

SPIEGEL: Sie würden bei einem Verzicht auf die Kleinschreibung in Kauf nehmen, daß Deutsch als Weltsprache noch schneller zurückgeht als es bei einer umfassenden Reform geschehen würde. Anne Vorderwülbecke, eine Lehrerin für „Deutsch als Fremdsprache“ an der Heidelberger Universität, meint, daß insbesondere „die Groß- und Kleinschreibung den Studenten fast aller Ausgangssprachen große Schwierigkeiten macht“, sie schätzt, daß „hier etwa 80 Prozent aller Rechtschreibfehler liegen“.

GÖLTER: Genau das ist einer der Gesichtspunkte, warum ich mich in dieser Sache so schwertue. Grundsätzlich will ich, mit Blick auf die Sprachgeschichte und die Kulturtradition, an der Großschreibung festhalten; ich sehe aber, daß dies mit Nachteilen für die deutsche Sprache, vor allem im Ausland, erkauft wird. Ich leugne nicht, daß die Verfechter der „gemäßigten Kleinschreibung“ durchaus gewichtige Argumente ins Feld führen.

SPIEGEL: Sind nicht eigentlich alle Gegen-Argumente, welch gewaltiger Schaden durch die Kleinschreibung für

die Verlage, für die Bibliotheken, für die Schulen, für die Kultur überhaupt entstehen würden, dadurch widerlegt, daß Dänemark diese Reform im Jahre 1948 überstanden hat, ohne daß irgendjemand negative Folgen bemerkt hat?

GÖLTER: Die dänische Situation kann ich, offen gesagt, nicht beurteilen.

SPIEGEL: Herr Minister, lassen Sie uns noch über Rechtschreibung in der Schule sprechen. Halten Sie die Klagen für berechtigt, die Leistungen auf diesem Gebiet seien gesunken?

GÖLTER: Wir haben dieses Thema im Dezember vorigen Jahres auf einem Symposion hier in der Akademie der Wissenschaften erörtert. Nach all dem, was dort vorgetragen wurde, meine ich, daß die Klagen berechtigt sind.

SPIEGEL: Gibt es nach Ihrer Meinung Unterschiede zwischen den SPD- und den CDU/CSU-Ländern, machen also Schüler in Hamburg und Hessen im Schnitt mehr Fehler als in Rheinland-Pfalz oder Baden-Württemberg?

GÖLTER: Ich bin davon überzeugt, daß das Schulwesen in den unionsgeführten Ländern insgesamt anspruchsvoller ist. Ob das aber zu unterschiedlichen Fehlerquoten in der Rechtschreibung führt, entzieht sich meiner Kenntnis.

SPIEGEL: Es hat mal jemand ausgerechnet, daß Jahr für Jahr 200 Millionen Schülerstunden und sieben Millionen Lehrerstunden für Rechtschreibung aufgewendet werden. Wie viele Stunden würden nach einer Reform, mit der ja auch bei einem Verzicht auf die Kleinschreibung vieles vereinfacht und liberalisiert würde, frei für andere Dinge?

GÖLTER: Das läßt sich nicht beziffern. Es würde vor allem Zeit frei für mehr Grundlegung in der Rechtschreibung. Ich halte es für wichtig, den jungen Menschen mehr Sicherheit im Gebrauch ihrer Sprache zu geben. Es ist dies eine Aufgabe, die zum Bereich „Deutsch als Unterrichtsprinzip“ gehört, das heißt, es ist eine Aufgabe für alle Fächer, für die Grundschule wie für die Sekundarstufe I.

SPIEGEL: Mehr Rechtschreibung auch für die 16- und 17jährigen Schüler in den Realschulen und Gymnasien?

GÖLTER: Ja, selbstverständlich. Ich wünsche mir den Deutschlehrer, der in der neunten oder zehnten Klasse sagt: Also, Gentlemen, beim letzten Aufsatz ist mir aufgefallen, daß ihr noch Probleme mit der Rechtschreibung habt, jetzt machen wir jede zweite Woche mal 20 Minuten lang ein Kurzdiktat, und ich nehme die Mühe auf mich und korrigiere die Texte, einfach so zum Üben.

SPIEGEL: Was geschieht, wenn ein Lehrer – was wir uns gut vorstellen können – nichts davon hält, mit 16- und 17jährigen Schülern Diktate zu schreiben, und Ihrer Direktive nicht folgt?

GÖLTER: Ich stehe nicht in jeder Stunde hinter jedem Lehrer. Das wäre auch eine ganz unsinnige Perspektive und das Ende der Schule. So etwas kann man über Lehrpläne, Beratung, Schulaufsicht durchsetzen. Aber viel wichtiger ist das gemeinsame pädagogische Verständnis der Aufgabe, die sich in der Schule stellt. Und da bin ich sehr optimistisch.

SPIEGEL: Bedeutet mehr Rechtschreibung im Deutschunterricht der oberen Klassen nicht, daß man weniger Zeit für Literatur hat?

GÖLTER: Keinesfalls. Die Beschäftigung mit Literatur in der Schule hat steigende Tendenz, die Linguistik tritt zurück, Gott sei Dank. Es wird zwar viel über Stoffülle und über überladene Lehrpläne geklagt, aber die Schule ist heute eher in Gefahr, zuviel zu machen, und was sie macht, macht sie in vielen Fällen nicht gründlich genug.

Wir müssen die Lehrpläne entschlacken und dadurch dem einzelnen Lehrer mehr Freiraum verschaffen. Zu den wenigen Vorgaben, die ich als Minister für die neuen Lehrpläne gemacht habe, an denen hier in Rheinland-Pfalz für Grundschule und Sekundarstufe I gearbeitet wird, gehört der Leitsatz: Kein Lehrplan soll mehr für verbindlich erklären als das, was in 25 Wochen pro Jahr zu bewältigen ist. Dann hat der Lehrer 15 Wochen Zeit für Üben, für Vertiefen, für Wiederholen, für individuelles Eingehen auf die Situation der Klasse.

SPIEGEL: In Rheinland-Pfalz wie in anderen Länder ist die Regelung umstritten, nach der ein Schüler für einen Aufsatz eine Eins auch bei 10 oder 20 Rechtschreibfehlern bekommen kann. Das gilt bis Klasse 10, solange Diktate geschrieben und für die Deutsch-Gesamtnote gewertet werden. Manche wollen diese Trennung aufheben, weil eine Eins im Aufsatz bei vielen Fehlern den Stellenwert der Rechtschreibung nicht deutlich mache. Wollen Sie es bei der Trennung lassen?

GÖLTER: Ich tendiere auch hier zu einer Änderung.

SPIEGEL: Umstritten ist auch die Regelung für die Oberstufe der Gymnasien, daß die Aufsatznote wegen der Fehler in der Rechtschreibung bis zu einer Stufe herabgesetzt werden kann.

GÖLTER: Ich bin schon dafür, daß die Kenntnisse in der Rechtschreibung auf diese Weise bis hin zum Abitur in die Bewertung der Schülerleistungen einbezogen werden.

SPIEGEL: Sie haben kürzlich erklärt, man müsse aufpassen, „daß nicht plötzlich die technischen Medien diktieren, wie man die Rechtschreibung vereinfacht“. Wie ist das zu verstehen?

GÖLTER: Ganz einfach. Der Sprechschreiber gehört in wenigen Jahren zur Grundausstattung jedes Büros. Und ob der Sprechschreiber bereit sein wird, die letzten Feinheiten der deutschen Rechtschreibung nachzuvollziehen, das ist doch sehr die Frage. Meine Prognose ist: Vom Sprechschreiber, und der ist ja nur ein Beispiel, werden erhebliche Auswirkungen im Sinne der Vereinfachung in Zweifelsfällen ausgehen.

SPIEGEL: Herr Minister, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Mit Redakteuren Werner Harenberg und Peter Adam im Mainzer Kultusministerium.

spiegel.de 11.6.1984


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Sigmar Salzburg
09.01.2012 12.42
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Ein Stück Reformgeschichte

Hier mußte die TAZ richtig zitieren:

Ein Freund, kein guter Freund
Christian Wulff soll „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann einen „Krieg“ angedroht haben. Dabei war einst alles gut. Wie konnte es nur so weit kommen?

Im Jahr 2000 ist Christian Wulff CDU-Chef in Niedersachsen. Die CDU kämpft auf Bundesebene mit der Affäre um schwarze Kassen. Die Bild befragt ihre Leser in einer Telefonabstimmung: Wer soll die CDU aus ihrer Krise führen?
Am 19. 1. 2000 veröffentlicht Bild das Ergebnis: „72.562 Leser antworteten gestern beim großen Bild-Ted (…) Überraschendes Ergebnis: Niedersachsens CDU-Chef Christian Wulff (40) kam auf Platz 1“
1. 2. 2003. Ein Tag vor der Landtagswahl in Niedersachsen. Christian Wulff tritt gegen Amtsinhaber Sigmar Gabriel (SPD) an. Bild zeigt den CDU-Kandidaten mit seiner Frau Christiane und fragt: „Sehen wir hier den Kuss des großen Wahlsiegers?“ […]
13. 7. 2004. Die Bild fordert: "Schluss mit dem Sprachchaos!“ Es war der Sommer der Rechtschreibreform. Derselben Meinung ist Christian Wulff. „Wir dürfen nicht zulassen, dass ein so hohes Kulturgut wie die deutsche Sprache verhunzt wird“, sagt er dem Blatt.
11. 8. 2004. Der Bild-Orden „für Retter der deutschen“ Sprache geht an Christian Wulff.
22. 9. 2004. Bild ernennt Christian Wulff zum Gewinner des Tages: „Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff (45) trägt seinen BILD-Orden ,Retter der deutschen Sprache!' zu Recht.“
26. 2. 2004. Bild titelt: „Der nette Herr Wulff – Darum ist er plötzlich Deutschlands beliebtester Politiker.“ […]
Bild weiter: „Adrett, erfolgreich, skandalfrei: Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff.“
Am 9. 7. 2005 berichtet Bild von der Verleihung des Deutschen Filmpreises. „Wulff zwischen Wasabi-Scampi & Schampus zu anwesenden Filmschaffenden (…): ,Kino ist kulturelle Bereicherung. Es muß doch möglich sein, daß soviel Geld in Filme fließt, wie es in Frankreich längst selbstverständlich ist …' Tosender Applaus.“ […]
6. 6. 2006. Wulff trennt sich von seiner Frau. Bild schreibt: „Ehe kaputt! Es gibt schon eine Neue![…] Der Ministerpräsident sagt auch: ,Ja, in meinem Leben gibt es seit kurzem eine neue Frau. Bettina Körner aus Hannover.' "
In einem Kommentar verteidigt die Bild Christian Wulff: „Man muß Christian Wulff glauben, daß er um seine Ehe gekämpft und sich sauber getrennt hat. Und daß die neue Liebe erst danach gewachsen ist. (…) Der bisher tadellose Wulff wird durch diese Trennung sogar ein wenig menschlicher. Und jeder Mensch hat eine zweite Chance verdient.“
Am 7. 6. 2006 stellt Bild Wulffs neue Lebensgefährtin vor: „Bettina Körner ist eine Frau, die mitten im Leben steht, die als witzig gilt, klug und voller Tatendrang. (…) Die Verantwortung für ihre Rolle an der Seite des Ministerpräsidenten ist ihr vollauf bewußt. Im Freundeskreis sind alle sicher: Sie wird das bravourös meistern.“
15. 6. 2006. Christian Wulff zeigt sich das erste Mal öffentlich mit seiner Freundin Bettina Körner. Bild: „Endlich können sie ihr Glück zeigen! (…) Bettina Körner (…) mischte sich an der Seite ihres Christian (…) selbstbewußt und fröhlich unter die Zuschauer. (…) Bettina Körner, selbst Mutter eines kleinen Sohns (Leander, 3 Jahre) und seit langem getrennt vom Vater des Kindes, weiß, welche schwere Bürde sie als zukünftiger First Lady des Landes auf sich nimmt.“ […]
30. 1. 2007. Bild-Zeile: „Politiker Wulff – so toll hat er sein neues Leben im Griff.“ Bild fragt: „Regierungschef, Vater, Geliebter und Noch-Ehemann – wie kriegt Christian Wulff das bloß so prima hin?“
29. 1. 2008. Franz Josef Wagner [Gossen-Goethe! S.S.] schreibt in seiner Kolumne: „Bei näherer Betrachtung Ihrer Person muss ich sagen, dass Sie als nächster Kanzler wählbar sind. Sie sind der gute Koch, der Koch mit den Eigenschaften: schöner Mann, blaue Augen, schlank, freundlich, gewinnend.“
28. 10. 2008. Bild ernennt Christian Wulff zum Gewinner des Tages, weil er säumige Steuerzahler mahnt.
21. 4. 2010. Bild fragt: „Wird Christian Wulff der nächste Bundespräsident?“
7. 8. 2010. Bild: „Hier zeigt Bundespräsident Christian Wulff uns sein Arbeitszimmer in Schloss Bellevue.“ […]
13. 12. 2011. Bild titelt auf Seite 1: „Wulff – Wirbel um Privatkredit!“
15. 12. 2011. Franz Josef Wagner kolumniert: „Hoffen Sie nicht, dass Ihre Kreditaffäre in den Archiven verschwindet. Lassen Sie die Hosen runter.“ […]

taz 2.1.2012

Nach Informationen des SPIEGEL rief Wulff auch bei Springer-Chef Mathias Döpfner an. … Döpfner habe Wulff zurückgerufen und einen aufgebrachten Präsidenten am Telefon gehabt. Wulff sei sehr deutlich geworden. Wenn der Artikel über seinen Privatkredit erscheine, so wird Wulff im Springer-Verlag zitiert, dann bedeute das „Krieg“ zwischen dem Bundespräsidialamt und Springer bis zum Ende von Wulffs Amtszeit.

spiegel.de 7.1.2011

Die BILD-Zitate spiegeln auch eine Phase der Reformgeschichte wider. Man kann es Mathias Döpfner, Springer-Chef seit 2000, als studiertem Kulturmenschen abnehmen, daß seine bekundete Abneigung gegenüber der „Rechtschreibreform“ ehrlich gemeint war. Als Chefredakteur der defizitären „Welt“ seit 1998 hatte er wenig Einfluß. Als er die Konzernführung übernahm, war die Entscheidung zum Reform-Kotau, vor allem wohl durch Friede Springer, bereits gefallen. Um so höher ist sein Mut zu bewerten, als „Neuer“ in der Führung den Ausstieg zu wagen, zusammen mit dem Spiegel und erhofften Sympathisanten – auch gegen Widerstand in den eigenen Reihen („Schmachthagen“).

IN EIGENER SACHE
SPIEGEL-Verlag und Axel Springer AG kehren zur klassischen Rechtschreibung zurück

Die Axel Springer AG und der SPIEGEL-Verlag kehren in ihren Print- und Online-Publikationen zur klassischen deutschen Rechtschreibung zurück. Gleichzeitig richten die Verlage einen Appell an andere Medienunternehmen sowie an die Nachrichtenagenturen, sich diesem Schritt anzuschließen….

Dr. Mathias Döpfner, Vorstandsvorsitzender der Axel Springer AG, und Stefan Aust, Chefredakteur des Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL, betonen: „Wir befürworten sehr dringend notwendige und sinnvolle Reformen in unserer Gesellschaft. Doch die Rechtschreibreform ist keine Reform, sondern ein Rückschritt.“

spiegel.de 6.8.2004

Doch der erhoffte große Aufstand der Medien blieb aus. Aust hatte seine Macht überschätzt und die Abhängigkeit von verbandelten Konzernen unterschätzt. So blieb die versprochene Spiegel-Umstellung aus. Und die linken Journaille-Kollegen anderer Zeitungen wollten auf keinen Fall mit Springer „ins Bett“. Zudem versagte der gerade installierte niedersächsische Ministerpräsident Wulff, der den angekündigten Ausstieg aus Reform und KMK nicht wagte, obwohl das Bundesverfassungsgericht dies ausdrücklich zugelassen hatte. Der Schachzug der Schaffung eines Reparatur-Rates für Rechtschreibung und die damit angedeutete Aufgabe der Unfehlbarkeit der Kultusminister brachte Döpfner in eine Zwickmühle: Entweder den reformfreien Kurs durchzuhalten – über die Schülergeiseln und die anderen Medien hinweg – mit ungewissem Ende oder die Chance zu ergreifen, den auf Gegenseitigkeit angebotenen Teilrückzug der Kultusminister anzunehmen. Döpfner entschied sich, wohl auch gedrängt von Konzern und Friede Springer, für letzteres:

Axel Springer AG • Information und Öffentlichkeitsarbeit • 10888 Berlin

12. April 2006

Sehr geehrte Frau … ,

vielen Dank für Ihr Schreiben vom 25. März 2006, das wir gerne beantworten möchten.

Die Axel Springer AG hat am 7. März dieses Jahres angekündigt, eine reformkonforme Rechtschreibung in ihren Publikationen spätestens zum 1. August 2006 umzusetzen.

[…] Mit der Arbeit des Rats für deutsche Rechtschreibung wurde nun mindestens der gröbste Reform-Unfug beseitigt.

Entscheidend ist jedoch, daß trotz allen Protestes eines nicht erreicht werden konnte, ein Bekenntnis der Politik zur Einheitlichkeit der deutschen Rechtschreibung auf der Grundlage der bewährten klassischen Rechtschreibung. Die mit Wirkung zum 1. August dieses Jahres von den Kultusministern beschlossene Verbindlichkeit der reformierten Rechtschreibung ist nach Aussagen der Politik der Staatsräson geschuldet. Damit steht die staatlich verordnete Reform unumkehrbar fest und die Axel Springer AG hat keine an dere Möglichkeit, als dieser Reform zu folgen: Wir können langfristig nicht anders schreiben, als es Kinder in der Schule lernen […]

Mit freundlichen Grüßen Axel Springer AG

Edda Fels
Leiterin Unternehmenskommunikation

Springer AG 12.4.2006

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Sigmar Salzburg
03.08.2011 07.16
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Die Reformer-Mafia gibt keine Ruhe

Spiegel 28.06.1982

Es ist das _este, bis zum _etzten zu gehen

„Die wüste lebt“, „Fünf verletzte bei unfall“ – das wäre die neue Schreibweise, wenn die „gemäßigte Kleinschreibung“ beschlossen würde, auf deren Regeln sich Fachleute aller deutschsprachigen Länder geeinigt haben. In der Auseinandersetzung um Groß- oder Kleinschreibung, die schon seit einem Vierteljahrhundert von Germanisten mit der Verbissenheit eines Glaubenskrieges geführt wird, müssen jetzt die Kultusminister entscheiden. Die Zeichen deuten auf Patt: Die SPD-Minister sind für Kleinschreibung, die CDU-Minister dagegen.

Nur an den großen Buchstaben ist auszumachen, ob ein Tourist in Moskau „Liebe genossen“ oder „liebe Genossen“ hat, ob in einem anderen Satz von einem Menschen die Rede ist („Der Arme floh“) oder von einem Tierchen („Der arme Floh“).

Geht es nach einem Dutzend führender Fachleute aus den vier deutschsprachigen Ländern, so wird es diesen Unterschied nicht mehr lange geben. Sprachwissenschaftler aus der Bundesrepublik, der DDR, Österreich und der Schweiz einigten sich Mitte Juni in Wien auf die Regeln (Fachausdruck: „Regelwerk“) für eine „gemäßigte Kleinschreibung“.

Wird diese Reform verwirklicht, so werden nur noch Sätze wie „Ich habe liebe genossen“ und „Der arme floh“ zu Papier gebracht. Denn groß geschrieben werden dann im wesentlichen nur noch Eigennamen sowie die ersten Wörter von Sätzen, von Überschriften (Beispiel: Fünf verletzte bei unfall) und von Buch- oder Filmtiteln (Die wüste lebt), das Anredepronomen „Sie“ und einige Abkürzungen. Drei von vier Wörtern, für die heute große Anfangsbuchstaben verlangt werden, sind dann klein zu schreiben.

Die Debatte um eine Rechtschreibreform dieser Art beschäftigt Fachleute und in Intervallen auch die Öffentlichkeit schon ein Vierteljahrhundert lang, seit 1958 ein bundesdeutscher Arbeitskreis entsprechende „Wiesbadener Empfehlungen“ beschlossen hat. Nun aber scheint die Entscheidung für oder gegen diese Reform relativ nahe zu sein.

Bislang konnten sich die Befürworter vor lauter Entwürfen nicht einigen, und die staatlichen Instanzen der deutschsprachigen Länder waren außerstande, einen gemeinsamen Beschluß zu fassen. Insbesondere ließ die DDR mit jahrzehntelangem amtlichem Schweigen und dem Fernbleiben von Expertentagungen völlig offen, wohin sie tendierte. Doch eine Reform kann es, so die einhellige Ansicht im Westen, nur entweder für alle vier Länder gemeinsam oder überhaupt nicht geben.

In Wien aber trat der DDR-Germanist Dieter Nerius (Universität Rostock) als entschiedener Reformer auf. Er verfocht offenkundig die Staatsdoktrin seines Landes.

An zwei anderen Ländern würde die Reform kaum scheitern. In Österreich ist eine ministerielle Rechtschreib-Kommission überwiegend mit Befürwortern besetzt, und das Unterrichtsministerium will den Wiener Reformvorschlag alsbald den Regierungen der anderen Länder übermitteln und um Entscheidungen bitten. Und der Schweizer Bundesrat Hans Hürlimann hat jüngst amtlich mitgeteilt, seine Regierung werde jedem Beschluß zustimmen, auf den sich die anderen Länder einigten.

In der Bundesrepublik hingegen ist zumindest mit Schwierigkeiten zu rechnen. Eine Reform müßte von den Kultusministern aller elf Bundesländer einstimmig beschlossen werden, und die Widerstände sind nirgends so hartnäckig S.143 wie hierzulande. Die Auseinandersetzung wird seit eh und je wie ein Glaubenskrieg geführt.

Die Verfechter der gemäßigten Kleinschreibung stehen den Befürwortern einer „modifizierten Großschreibung“ gegenüber. Jahrzehntelang bekämpften sich die beiden Parteien, als gelte es, die deutsche Sprache vor der Zerstörung zu retten. Erst in den letzten Jahren hat die Auseinandersetzung einiges an Schärfe verloren, und wechselseitig werden die internen Sitzungen besucht.

An den kontroversen Standpunkten haben diese milderen Umgangsformen nichts geändert. Im Kern geht es darum, ob die Substantive künftig groß oder klein geschrieben werden sollen.

Die Großschreiber sind derzeit bemüht, den Vorsprung der Kleinschreiber aufzuholen und Ende Juli ebenfalls ein Regelwerk vorzulegen.

Das Hauptargument der Kleinschreiber ist, die Rechtschreibung solle „von dem unnötigen Regelballast befreit werden, der eine Wortart – die Substantive – gegenüber den anderen durch Großbuchstaben hervorhebt und der zu einer hohen Fehlerquote bei einem Großteil der Bevölkerung führt“. So formuliert es Wolfgang Mentrup, Rechtschreib-Experte im Mannheimer Institut für deutsche Sprache und neben Gerhard Augst, einem Ordinarius für Germanistische Linguistik an der Gesamthochschule Siegen, der Wortführer in der Kontroverse.

Das Hauptargument der Großschreiber gegen diese Reform ist laut Otto Nüssler, Geschäftsführer der Wiesbadener Gesellschaft für deutsche Sprache und Gegenpol zu Mentrup und Augst, die „erschwerte Lesbarkeit aller Texte für den Normalverbraucher, der mindestens zehnmal mehr liest als schreibt“. Die großen Buchstaben seien als Orientierungshilfe unentbehrlich.

Beide Seiten berufen sich auf prominente Vorläufer und Sympathisanten. Schon die Märchen-Brüder Grimm waren geteilter Meinung. Jacob schrieb viele Arbeiten klein, Wilhelm groß.

Von den Gegenwartsautoren werden Thomas Mann und Hermann Hesse von den Groß-, Max Frisch und Heinrich Böll von den Kleinschreibern am häufigsten zitiert. Böll bekannte, daß er seine Frau „in fragen der groß- und kleinschreibung immer noch und immer wieder um rat fragen muß, und das seit nunmehr fast 30 jahren“.

So kontrovers die künftigen Reformen auch diskutiert werden, so einig sind sich zumindest die Fachleute darüber, daß die gegenwärtigen Rechtschreib-Regeln mehr schaden als nützen.

Auch Akademiker aller Sparten können schwierige Sätze kaum fehlerfrei schreiben. Das haben viele Tests bewiesen, bei denen Texte entweder diktiert S.145 werden oder bei denen die fehlenden – kleinen oder großen – Buchstaben einzusetzen sind, wie in der folgenden Passage (aus dem Buch von Wilhelm Hiestand „Rechtschreibung – Müssen wir neu schreiben lernen?“):

„Versuchen Sie, _ichtiges und _alsches voneinander zu scheiden. Es ist sicher ein _eichtes, jemanden mit diesen Regeln aufs _rockene zu setzen. Denn es ist nichts _eichtes, ohne _eiteres alles _eitere richtig zu lösen.

„Zeit und Intelligenz sollten besser für etwas _nderes, für etwas _ichtiges und _esonderes eingesetzt werden.

„Es ist das _este, bis zum _etzten zu gehen, um die Sinnlosigkeit dieser Regeln aufzuzeigen, sie bis zum _etzten fragwürdig zu machen. Zu guter _etzt kann schließlich niemand bis ins _etzte alle diese Spitzfindigkeiten beherrschen. Seien Sie auf das _ußerste gefaßt, erschrecken Sie aber nicht auf das _ußerste.“

( Die Schreibweise nach heutigen Regeln: ) ( Richtiges und Falsches, leichtes, ) ( trockene, Leichtes, weiteres, Weitere, ) ( anderes, Wichtiges und Besonderes, ) ( beste, Letzten, letzten, Letzt, letzte, ) ( Äußerste, äußerste. )

Klein- wie Großschreiber haben sich bemüht, viele Fehlerquellen zu beseitigen und verständliche Regeln zu finden. Doch jede der Parteien stieß auf Grenzen, die der Vereinfachung gesetzt sind.

Das Problem der Kleinschreiber sind die Eigennamen, die sie als einzige Wortgruppe weiterhin groß schreiben wollen. Aber bislang hat noch niemand überzeugend zu definieren vermocht, was ein Eigenname überhaupt ist, und auch die Reformer wagten es nicht.

Sie behalfen sich mit einer langen Liste, die sie zum Bestandteil ihres Regelwerks machten.

Groß geschrieben werden demnach unter anderem Personennamen, von Vor- und Familiennamen bis zu Spitznamen (Karl-Heinz Rummenigge, Holbein der Jüngere, Schätzchen), Namen von Personen aus der Religions-, Mythen- und Märchenwelt (Christus, Venus, Rotkäppchen), Namen einzelner Tiere und Pflanzen (Bello, Gerichtslinde), Namen von Erdteilen, Ländern, Städten, Landschaften, Straßen und Gebäuden, von Sternen und Sternbildern, von Schiffen und Zügen (Meteor, Blauer Enzian), von Parteien, Behörden, Betrieben und Zeitungen. Groß geschrieben werden sollen auch Kurzformen von Namen (Beethovens Neunte).

Hingegen werden beispielsweise nicht zu den Namen gezählt und deshalb klein geschrieben: Bezeichnungen für Völker, Sprachen, historische Ereignisse (die französische revolution), Feier- und Wochentage sowie Monate, Berufe und S.148 Ränge, Produkte und Waren, Krankheiten, Getränke und Maßeinheiten.

Das führt dazu, daß es nach dieser Rechtschreibung Dänemark gibt und dänen, einen bundeskanzler und ein Bundeskanzleramt, den papst und die Evangelische Kirche in Deutschland.

Der Teufel existiert nur als teufel, weil auf ihn keine Regel paßt, während nicht minder fiktive Gestalten wie Minerva und Schneewittchen eingeordnet werden können und groß geschrieben werden.

Schwierig dürfte es immer dann werden, wenn ein Wort mal als Name groß, mal als Gattungsbegriff klein geschrieben werden soll. So ist zu unterscheiden zwischen dem Hauptbahnhof in Hamburg und den hauptbahnhöfen als Treffpunkten für Gastarbeiter, zwischen der Erde als Planet und der erde, in der gegraben wird, zwischen dem Judas, der laut Bibel Jesus verraten hat, und dem judas, als der sich einer entpuppt.

In die Grauzone unscharfer Übergänge sind auch Gott und die götter geraten. Nach den Wiener Regeln wird nur Gott groß geschrieben, die für Christen gleichwertigen Synonyma wie allmächtiger, herr und schöpfer hingegen nicht.

Dem Durchschnittsbürger, der Namen und Nicht-Namen kaum auseinanderzuhalten vermag, kommen die Kleinschreiber entgegen: Er darf in entsprechenden Fällen das Wort groß oder klein schreiben (siehe Kasten Seite 145).

Weitere Probleme kündigen sich bereits an. Aus politischen wie aus kommerziellen Gründen wird es zu einer Vielzahl von Ausnahmen kommen.

Die DDR-Experten ließen in Wien den Hinweis in das Regelwerk aufnehmen, daß historische Ereignisse, wenn sie als Namen verstanden werden, groß geschrieben werden können. Der großen sozialistischen oktoberrevolution von 1917, die eigentlich klein geschrieben werden müßte, sind die Großbuchstaben deshalb heute schon sicher.

Und die Regel, Produkte und Waren seien klein zu schreiben (volkswagen, persil, fiat), kann durch Eintragung von großen Anfangsbuchstaben ins Handelsregister in jedem Einzelfall außer Kraft gesetzt werden.

Die Großschreiber-Partei steht vor einem ähnlichen Definitions- und Grenzproblem. In dem Entwurf, den sie derzeit in den eigenen Reihen kursieren läßt, besteht sie darauf, daß alle Substantive groß geschrieben werden; sie hat es aber vermieden, diesen Begriff zu definieren oder das Wort „Substantiv“ überhaupt zu erwähnen.

Die Großschreiber hatten dafür allen Grund, denn sie hätten sich nur in Schwierigkeiten gebracht. Spötter zitieren gern einen Zirkelsatz: Groß geschrieben werden nur Substantive, und Substantive sind daran zu erkennen, daß sie groß geschrieben werden.

Die Regel-Autoren halfen sich mit der sogenannten Artikelprobe aus der Klemme: Ein Wort soll groß geschrieben werden, wenn es mit Artikel gebraucht wird oder gebraucht werden kann.

Daß mit der modifizierten Großschreibung einige Rechtschreib-Klippen beseitigt, aber viele verewigt und einige neu entstehen würden, zeigen Beispiele aus den Sammlungen der Befürworter dieser Reform:

Sich eines Besseren besinnen; man kann das Eine tun, ohne das Andere zu lassen; ans Drum und Dran denken; im Voraus; etwas ins Reine bringen; vom ersten Besten bestellen; es bis zum Äußersten kommen lassen; sie ist seit Kurzem krank; hinter Allem steht die Kostenfrage; wir tun unser Bestes; er tut alles Mögliche.

Einige Gegenüberstellungen zeigen Risiken nicht nur für Schüler an:

Das Ganze ist mir neu, das alles ist mir neu; die Krankheit macht ihn bange, die Krankheit macht ihm Bange; die Firma macht Bankrott, die Firma geht bankrott. Alle Probleme, die in solchen Wörtern und Sätzen stecken, gibt es bei der gemäßigten Kleinschreibung nicht.

Ob dies die deutschen Kultusminister beeindruckt, steht dahin. Sie haben bislang keinen klaren Kurs gesteuert.

Im Jahre 1973 sprachen sie sich so einstimmig, wie es ihre Statuten verlangen, „für die alsbaldige Durchführung einer gemäßigten Rechtschreibreform auf der Grundlage der ''Wiesbadener Empfehlungen''" aus. Drei Jahre später aber politisierten sie das Thema auf ihre Art. Nun befürworteten die SPD-Minister die gemäßigte Kleinschreibung, die CDU/CSU-Minister die modifizierte Großschreibung.

Bleibt es dabei, dann bleibt alles beim alten.

Denn würde die Konferenz der Kultusminister nur das beschließen können, worüber sich die bundesdeutschen Rechtschreibreformer einig sind, so wäre das allzu wenig.

Kernpunkt wäre dann lediglich, daß bei Anreden in Briefen, auf Wahlplakaten und in Kirchengebeten nur noch das „Sie“, aber nicht mehr auch das „Du“ groß geschrieben wird.

S.145 Die Schreibweise nach heutigen Regeln: Richtiges und Falsches, leichtes, trockene, Leichtes, weiteres, Weitere, anderes, Wichtiges und Besonderes, beste, Letzten, letzten, Letzt, letzte, Äußerste, äußerste. *

DER SPIEGEL 26/1982

Spiegel 28.06.1982

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Sigmar Salzburg
23.05.2011 05.24
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Die Dreistigkeit der Reformersekte

25.11.1964
HOHLSPIEGEL

Das Ulmer Unternehmen "Rechtschreibreform-Institut und Verlagsgesellschaft mbH" forderte westdeutsche Firmen schriftlich auf, die Herausgabe des Buches „Die vereinfachte deutsche Rechtschreibung mit Leseproben und Wörterverzeichnis“ durch Geldspenden zu unterstützen. Die Bitte, entweder eine Vorauszahlung von mindestens 20 Mark zu leisten (wofür der Spender ein Freiexemplar des Buches erhalte) oder aber 1000 Mark zu zahlen (was dem Stifter namentliche Erwähnung in dem Reform-Werk sichere), versahen die Reformatoren mit dem Hinweis: „Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, wir veröffentlichen die Namensliste aller Angeschriebenen. Entscheiden Sie in Freiheit, zu welcher Gruppe Sie gezählt werden wollen.“ Der Bitt-Brief der Sprach-Erneuerer enthält 30 Interpunktions-, Grammatik- und Orthographiefehler.

SPIEGEL 25.11.1964

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Sigmar Salzburg
22.05.2011 09.32
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Fritz Rahn

Am 05.08.1964 notierte der „Spiegel“

GESTORBEN
FRITZ RAHN, 72, pensionierter Oberstudienrat, Sprachwissenschaftler und Mitverfasser des Lehrbuchs „Deutsche Spracherziehung“ (SPIEGEL-Titel 4/1956), der 1941 für eine generelle Kleinschreibung eingetreten und noch dem Krieg maßgeblich an den Auseinandersetzungen um eine Rechtschreibereform beteiligt war; in Schorndorf (Baden-Württemberg).

Theodor Ickler hat den alten Spiegel-Artikel vom 25.1.1956 ausfindig gemacht. Die „Deutsche Spracherziehung“ habe ich seinerzeit auch genossen. Der Artikel im Spiegel war mir jedoch entgangen. Welch ein Reformunheil ist damals uns Schülern doch erspart geblieben! Dabei hatte sich Rahn selbst, im Gegensatz zu anderen, offensichtlich von seinen extremistischen Ansätzen in der Nazizeit entfernt:

Diese Überzeugung, nämlich daß eine abrupte und radikale Reform der Rechtschreibung keinesfalls wünschenswert sei, hat Fritz Rahn zum erstenmal 1952 in einer Denkschrift für eine Konferenz der „Arbeitsgemeinschaft für Sprachpflege' niedergelegt, die vom Leiter des Stuttgarter „Instituts für Auslandsbeziehungen“, Dr. Franz Thierfelder, gegründet worden ist.

Rahn verfaßte diese Denkschrift in der Nacht vor dem Reformertreffen. Er warnte vor den Gefahren einer rationalisierten und dadurch ideologisch nivellierten Sprache

- ohne zu wissen, daß unter den Teilnehmern der Thierfelderschen Rechtschreib-Konferenz fünf Delegierte aus der Ostzone saßen, darunter der schon 1946 mit einem offenkundig sowjetamtlich inspirierten Reform-Vorschlag vorgeprellte Abteilungsleiter für deutsche Sprache und Literatur an der (Ostberliner) Deutschen Akademie der Wissenschaften, Professor Dr. Wolfgang Steinitz, weiter der Präsident der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Professor Dr. Theodor Frings, sowie der Leiter der Leipziger Duden-Redaktion, Dr. Wolfgang Ebert.

Das Aufgebot an Sachsen lokalisiert den Schwerpunkt der Reform-Bewegung. Auch die besonders reformfreudigen Niedersächsischen Lehrerverbände werden – wenn es um die Rechtschreibreform geht – von echten Sachsen repräsentiert, und der Leiter der reformfreudigen Arbeitsgemeinschaft, Dr. Thierfelder, ist seiner Herkunft nach ebenfalls Ober-Sachse. …

Die Unruhe über Rahns reformfeindliche Argumentation war in diesem Kreis groß. Rahn weigerte sich auch, die „Empfehlungen zur Erneuerung der deutschen Rechtschreibung“ zu unterzeichnen, die 1954 von der Thierfelderschen „Arbeitsgemeinschaft für Sprachpflege“ herausgegeben wurden…. Diese sehen im einzelnen vor:

* „Gemäßigte Kleinschreibung“ (grundsätzliche Kleinschreibung aller Wortarten; große Anfangsbuchstaben nur für den Satzanfang, für Eigennamen und Anrede).

* „Vereinheitlichung der Buchstabenverbindungen“ (z statt tz: „spitzen – spizen“; ss in Antiqua statt sz/ß: „er schloss“).

* „Beseitigung rechtschreiblicher Doppelformen“ (Quarg – Quark; so daß – sodaß; Zwetschge – Zwetschke).

* „Angleichung der Fremdwörter an die deutsche Schreibweise“ (Fotograf, Teater, Katarr, Zilinder, Mütus).

Darüber hinaus handelt es sich um Empfehlungen zur Getrennt- oder Zusammenschreibung, zur Silbentrennung am Zeilenende, zur Vereinfachung der Zeichensetzung sowie zur Kennzeichnung langer und kurzer Vokale, wobei zum Beispiel „ie“ zu „i“, das lange „i“ also nicht gekennzeichnet werden soll (di libe).

Man hat versucht, diese Stuttgarter „Empfehlungen“ durch „Schreck-Beispiele“ zu ironisieren. Aber Sätze wie "forsicht, der kan kan lek sein" oder "hir kan man weise reden hören" geben kein objektives Bild…

Dagegen hat nun Fritz Rahn „Betrachtungen und Vorschläge“ zur Diskussion gestellt, die von der Feststellung ausgehen: „Die Rede von den Willkürlichkeiten und Widersprüchlichkeiten der Regeln ist sachlich unbegründet.“

Rahn opponiert aggressiv gegen die angeblich „unwiderleglichen“ Argumente der Reformer: „Es war immer, ein besonderes Anliegen der Reformer, ihren Gegnern wenigstens das eine Zugeständnis abzuringen, die heutige Rechtschreibung sei aufs 'schimpflichste' verunziert durch zahllose alte Zöpfe, durch Widersprüche, Willkürlichkeiten und Spitzfindigkeiten. Bei gewissenhaftem Zusehen zeigt sich, daß von Widersprüchlichkeiten gar keine Rede sein kann, – ja daß eher der furchtbare Schulmeisterernst Tadel verdient, ,mit dem hinter gewissen Schreibgewohnheiten eherne Gesetze vermutet wurden, und die eiserne Konsequenz, mit welcher dann hinterher diese vermeintlichen Gesetzlichkeiten vom Duden in ein unerbittlich starres Regelsystem gepreßt wurden.“...

Spiegel 25.1.1956

P.S.: Der automatisch eingelesene Spiegel-Artikel verwechselt oft „Rahn“ mit „Hahn“. – Zu Thierfelder s.a. hier

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Sigmar Salzburg
14.10.2010 08.29
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Interna aus der Reformkommission

Die Wende und der Wandel der Wörter

[…]

Die Rechtschreibreformer trotzten dem Umsturz

Als der österreichische Germanist Richard Schrodt (Institut für Germanistik der Universität Wien) Mitglied der Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung wurde, war die Wende gerade schon vorbei. Aber er erinnert sich noch an die Zusammenarbeit mit den aus der DDR stammenden Kollegen.

Ob er mit der Reform letztlich zufrieden sei? „Sehr schwere Frage. Unter den gegebenen Umständen bin ich einigermaßen zufrieden. Aber bedenkt man, was man hätte erreichen können, dann kann man nur unzufrieden sein. Ich hätte ja die gemäßigte Kleinschreibung propagiert, hat sich nicht durchgesetzt, daher gibt es immer noch Inkonsequenzen im Regelwerk mit der Groß- und Kleinschreibung und so weiter.“

Kopf stehen und kopf stehen

Was ihn am meisten ärgere? „Ich versuche, mich nicht zu ärgern. Schon gar nicht über die Rechtschreibung. Aber Fälle wie Kopf stehen und Eis laufen können heute auch klein geschrieben werden. Das halte ich für falsch, denn hier sind es eindeutig Substantiva. Dem Geist des Regelwerks nach wäre das nicht notwendig gewesen.“

Von Anfang an sei die Atmosphäre mit den ostdeutschen Kollegen sehr kollegial und angenehm gewesen, am Schluss sogar freundschaftlich. „Die Kollegen aus der DDR waren samt und sonders sehr nette Menschen und durchaus kommunikations- und argumentationsfähig. Die Zusammenarbeit mit ihnen war ein reines Vergnügen und oft auch fruchtbar“, resümierte Schrodt.

Vier Mal im Jahr trafen sich die Sprachexperten aus West- und Ostdeutschland, aus Österreich und der deutschsprachigen Schweiz. Treffpunkt war meist das Institut für deutsche Sprache in Mannheim. Dazwischen gab es noch interne Beratungen, wenn Berichte zu verfassen waren.

Die progressive Phase der Vorgängerkommission (vor allem mit der „gemäßigten Kleinschreibung“) sei damals schon vorbei gewesen. „Wir versuchten nur noch zu retten, was noch zu retten war.“

Über den Schatten gesprungen

„Die DDR-Kollegen mussten – wie auch ich – mehrmals über ihren eigenen Schatten springen“, erinnert sich der Wiener Professor. Ein Mitglied, Dieter Herberg, hatte ja einen eigenen Rechtschreibvorschlag zur Getrennt- und Zusammenschreibung entwickelt. Den hat er dann gänzlich aufgegeben und sich unseren Vorstellungen angeschlossen. Auch Dieter Nerius von der Universität Rostock hat die gemäßigte Kleinschreibung propagiert und sich dann ebenfalls uns angeschlossen.“

Heftig debattiert wurden ferner die länderübergreifende Interpunktion oder Fragen wie Kabrio und Krem (Schrodt: „Da hab ich mich nicht durchgesetzt. Ich halte diese Weiterentwicklung aber für wichtig, sonst wäre nie aus einem Bureau ein Büro geworden.“). Auch regionale Ausformungen wie „in der Früh“ – in Österreich ein ganz normales Substantiv, im Bundesdeutschen unbekannt – wurden diskutiert.

Politisch hätten sich die ostdeutschen Experten nicht geäußert, so Schrodt. „Politik war in der Zwischenstaatlichen Kommission überhaupt kein Thema. Das waren Wissenschaftler, meist Mitglieder der Akademie der Wissenschaft, teils aus dem universitären Bereich.“

Zu sprachlichen Missverständnissen sei es in der Kommission nur dann gekommen, wenn es um juristische Vokabel oder Fachwörter aus der jeweiligen Verwaltungssprache ging.

Die Episode mit dem Kollegen Fahrer

An eine Episode erinnert sich Schrodt, die in der Zwischenstaatlichen Kommission für Gelächter gesorgt habe: Dieter Herberg, dem Bereichsleiter im Zentralinstitut für Sprachwissenschaft der Akademie der Wissenschaften in Ostberlin, sei einmal rausgerutscht, er müsse jetzt schnell wo hin, „der Kollege Fahrer“ werde schon unterwegs sein. Schrodt: „Der Kollege Fahrer – das war noch ein typischer Sprachgebrauch aus der DDR!“

Ob man zur Wendezeit keine anderen Sorgen gehabt habe, als die Rechtschreibreform voranzubringen? „Na ja, man hat immer andere Sorgen…“ Für die Wissenschaftler sei das kein Thema gewesen, wohl aber für manche Medien, meint Schrodt.

„Wir waren ja von staatlichen Stellen eingesetzt und haben unsere Arbeit gemacht. Ich bin noch immer fest überzeugt, dass unsere Arbeit sehr gut war und wir die Dinge mit kühlem Kopf zu Papier gebracht haben. Was die Politik damit gemacht hat – darauf hatten wir keinen Einfluss.“

Ewald König, Chefredakteur von EurActiv.de, war zu Zeiten der Wende Deutschland-Korrespondent der österreichischen Zeitung DIE PRESSE. Für die Leser von EurActiv schildert er in einer Serie, was er vor zwanzig Jahren erlebt hat.

euractiv.de 13.10.2010

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Sigmar Salzburg
07.06.2009 17.57
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Eine Reform, die niemand braucht, wird geboren ...

Ein aufschlußreicher, aber inzwischen überalterter Text:

http://www.Journalismusausbildung.de
Für Berufseinsteiger, Journalisten und Zeitungsmacher

von Lisa Walgenbach©

Geschichte der Rechtschreibreform

Im Jahre 1980 gründeten 80 Mitglieder von verschiedenen bedeutenden orthographischen Forschungsgruppen aus der Bundesrepublik Deutschland, der DDR, Österreich und der Schweiz einen Arbeitskreis, um die Grundlagen der deutschen Rechtschreibung wissenschaftlich zu untersuchen. Obgleich ohne politisches Mandat aktiv und damit ohne Aussicht, jemals ihre Arbeitsergebnisse umsetzen zu können, präsentierte der Arbeitskreis 1985 der Öffentlichkeit einen ersten Vorschlag zu der aus seiner Sicht dringend erforderlichen Reformierung der deutschen Rechtschreibung. Politische Unterstützung erfuhr der Arbeitskreis 1986 als auf Einladung der österreichischen Bundesregierung in Wien die Vertreter der europäischen Länder mit deutschsprachiger Bevölkerung zusammenkamen, um die Möglichkeit der politischen Umsetzung dieses Neuregelungsvorschlages zu prüfen. Konkretes Ergebnis dieses sogenannten 1. Wiener Gespräches war, dass diejenigen Länder, die sich wie die Bundesrepublik für eine Reformierung der deutschen Rechtschreibung ausgesprochen hatten, nationale Expertengruppen einsetzten und diese nunmehr formell mit dem Auftrag betrauten, ein neues Regelwerk zu erarbeiten.

[Erinnert das nicht sehr an die bekannten Kaffeefahrten, auf denen unbedarften Teilnehmern nutzloses Zeug angedreht wird?]

Auf europäischer Ebene wurde der „Internationale Arbeitskreis für Orthographie“ gebildet, in dem die Vertreter der nationalen Expertengruppen die in ihren Ländern erarbeiteten Neuregelungsvorschläge zu Diskussion stellten. Dieser Arbeitskreis war es auch, der 1992 den in Deutschland, Österreich und der Schweiz für die Rechtschreibung zuständigen politischen Stellen einen ersten verbindlichen Vorschlag zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung unterbreitete.
Im Mai 1993 fand auf Einladung des Bundesinnenministeriums und der Kultusministerkonferenz in Bonn eine öffentliche Abhörung statt, an der sich 48 Vereine, Verbände und Institutionen beteiligten. […]

http://www.journalismusausbildung.de/rechtschreibung_geschichte.htm

[Den Rest kann jeder selbst nachlesen, auch den alten Schwindel. Stand ist hier die 2. „Reform“ (von 2000):]

Die Ergebnisse der Rechtschreibreform von 2000 auf einen Blick (Update erfolgt im April 2006)

http://www.journalismusausbildung.de/rechtschreibung_1.htm

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