… daß der Tonfall unter den Autoren rauher wird
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. August 2010
Wikipedia verliert seine Autoren
Der Reiz des Anfangs ist verloren
Freiwillige verzweifelt gesucht! Händeringend sucht Wikipedia nach neuen Autoren, denn die Bereitschaft zur aktiven Teilnahme im Internet schwindet. Und die Idee des Mitmach-Netzes gelangt an ihre Grenzen.
Von Levke Clausen
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Dem Partizipationsprinzip des Web 2.0 fühlt sich nur eine Minderheit der Wikipedianutzer verpflichtet
19. August 2010
Es ging ihnen immer um die Idee, das Wissen der Welt zu sammeln und der Menschheit kostenlos zur Verfügung zu stellen. Aber immer weniger Autoren greifen freiwillig in die Tasten, um sich an der Mission zu beteiligen. Wo sind bloß all die Wikipedianer hin?
In der englischsprachigen Wikipedia, der weltweit größten Gemeinschaft mit über drei Millionen verfassten Beiträgen, ist von einem ernsthaften Autorenschwund die Rede. Zum ersten Mal in der Geschichte der freien Enzyklopädie werden mehr Beiträge gelöscht als erstellt, berichtet das amerikanische Nachrichtenmagazin „Newsweek“ und beruft sich auf Aussagen eines Sprechers der „Wikimedia Foundation“. Die Lage sei so ernst, dass man plane, von Herbst dieses Jahres an Werber auszusenden, um neue Autoren zu gewinnen.
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Jimmy Wales, Wikipedia-Gründer, steht mit seinem Projekt vor den Mühen der Ebene
Auch in der deutschsprachigen Wikipedia waren im bisherigen Verlauf dieses Jahres im Vergleich zum Vorjahr prozentual weniger Nutzer bereit, Beiträge zu verfassen. Was nicht bedeutet, dass weniger Artikel geschrieben würden. Sie stammen jedoch von einer kleineren Autorenzahl. Die ARD/ZDF-Onlinestudie 2010 zeigt, dass sich dem Partizipationsprinzip des Web 2.0 nur eine Minderheit der Wikipedianutzer verpflichtet fühlt. Der Mitmachwille fällt bei Wikipedia von sechs Prozent aller Nutzer im Vorjahr auf drei Prozent im bisherigen Verlauf dieses Jahres ab.
Selbstherrliches Bearbeiten und Löschen der Texte
Der Frankfurter Soziologe und Netzwerkforscher Christian Stegbauer erklärt den Schwund unter anderem damit, dass der Tonfall unter den Autoren rauher wird und eine Reihe wirrer Spielregeln viele Wikipedianer verängstigt hat: „Es wird immer schwerer, sich bei Wikipedia zu beteiligen. Wenn man sich nicht an die Regeln hält, die sich irgendwelche Leute ausgedacht haben, kann es sein, dass das, was man beigetragen hat, ganz schnell wieder gelöscht wird.“ In der Gemeinschaft wächst der Ärger über das selbstherrliche Bearbeiten und Löschen der Texte durch arrivierte Mitglieder, wie der Blogeintrag einer einstmals sehr engagierten und dem Projekt inzwischen distanziert gegenüberstehenden Wikipedia-Mitarbeiterin mit dem Pseudonym Elian deutlich macht: „Die Gesundheit eines Projekts zeigt sich am Umgang mit seinen Kritikern und Unangepassten. Und da kann man der Wikipedia nur ein zunehmend schlechter werdendes Zeugnis ausstellen. Wer nicht pariert, wird ausgegrenzt und so lange gereizt und beleidigt, bis er den passenden Sperrgrund liefert.“
Viele haben außerdem den Eindruck, dass das Lexikon so gut wie komplett ist und es nichts mehr zu schreiben gibt. Es sei erwähnt, dass die deutsche Ausgabe von Wikipedia nach der englischen Version die zweitgrößte überhaupt ist. Laut Wikipedia finden sich rund 1,1 Millionen Beiträge in der deutschsprachigen Fassung der Enzyklopädie. Angesichts der Fülle bereits bestehender Einträge sinkt für potentielle Nutzer die Chance, neue Themen zu bearbeiten. Catrin Schoneville, Pressesprecherin des gemeinnützigen Vereins Wikimedia Deutschland, räumt ein, dass die Luft langsam dünner werde, sieht aber noch Potential. „Es gibt nach wie vor erhebliche Lücken. Wikipedia ist noch lange nicht fertig.“
„Newsweek“ sieht die Ursache für den Autorenschwund in einer „tiefen Wahrheit der menschlichen Natur“: Menschen arbeiten schlichtweg nicht gern umsonst. Eine Bezahlung widerspräche jedoch der hochgestimmten Ideologie Wikipedias. Ein anderer simpler Grund ist, dass den Menschen schnell langweilig wird. Die Praxis des Gratisschreibens funktionierte in den frühen Jahren, als das Internet eine Art kollektives Fieber auslöste. Damals weckte die Arbeit für Wikipedia das Gefühl, an etwas Neuem, vorher nie Dagewesenem beteiligt zu sein. Inzwischen, so Stegbauer, hat man sich an das Projekt gewöhnt. „Es ist nicht mehr so sexy, wie es am Anfang war.“
Das Interesse der aktiven Teilnahme am Netz sinkt
Belege für den Stimmungswandel gibt es viele. Statistiken zeigen, dass auch andere Zugpferde der nutzergenerierten Revolution im Netz lahm geworden sind. Nach der Studie des „PEW Internet & American Life Projects“ und der ARD/ZDF-Onlinestudie verliert der Blog, Inbegriff der Internetdemokratie, zunehmend an Attraktivität. Das Interesse, aktiv am Netz teilzunehmen, sinkt vor allem bei der jüngeren und mittleren Generation. „Der einzelne Beitrag verliert sich in dem unendlich großen Cyberspace. Der Reiz der Darstellung der eigenen Person verschwindet, sobald man merkt, dass keine Reaktionen kommen“, sagt der Kommunikationswissenschaftler Wolfgang Donsbach von der Technischen Universität Dresden. Das Mitmach-Netz bleibt auf eine kleine Gruppe von Aktiven beschränkt, die publizieren, was von vielen abgerufen wird. Etwa neunzig Prozent der Tweets der Mikrobloggingplattform Twitter kommen von rund zehn Prozent der Nutzer, besagt eine Harvard-Studie aus dem Jahr 2009. Der Rest der Web-2.0-Gemeinde besteht aus hauptsächlich passiven Teilnehmern, die nur die Beiträge anderer verfolgen.
Das Mitmach-Netz ist auf eine kleine Gruppe von Aktiven beschränkt
Nach einer euphorischen Einstiegszeit ist das Web-2.0 in eine Konsolidierungsphase eingetreten. Die Zuwachszahlen fallen geringer aus als in den Vorjahren, das Nutzerpotential scheint weitgehend erschöpft. Waren vor fünf Jahren drei oder vier Seiten auf die Partizipation von Nutzern angewiesen, sind es heute unzählige. Der Wettbewerb um die aktiven Nutzer wird härter.
Die „Befreiungsideologie“ ist einer „Produktideologie“ gewichen
Um ihre Autoren bei Laune zu halten und neue Freiwillige anzuwerben, hat die deutsche Wikimedia Foundation zahlreiche Projekte ins Leben gerufen – etwa ein Seniorenprojekt, das ältere Menschen zur Mitarbeit animiert, oder einen „Artikel-und-Bilder-Wettbewerb“, der die besten Lexikonbeiträge auszeichnet. Hier wirbt die Organisation auch mit Geld- und Sachpreisen. Insgesamt werden solche Belohnungssysteme immer wichtiger. Wie weit ist es da noch zur Bezahlung? Dies wäre zweifellos ein gravierender Widerspruch zum Selbstverständnis Wikipedias. Doch die „Befreiungsideologie“ der Anfangszeit, so Stegbauer, ist ohnehin einer „Produktideologie“ gewichen. Der Wettbewerb mit anderen Enzyklopädien steht inzwischen im Vordergrund, außerdem die Qualitäts- und Prestigesteigerung. Von der einstigen Utopie scheint nicht viel übrig geblieben.
Um neue Autoren anzuwerben, hat Wikimedia zahlreiche Projekte ins Leben gerufen
Catrin Schoneville hält dem entgegen, dass die Zahl der Einträge in der deutschsprachigen Wikipedia weitgehend stabil sei und der Rückgang an dauerhaft aktiven Autoren in den vergangenen Monaten, der auch in einer dieser Zeitung zur Verfügung gestellten Statistik erkennbar ist, auf das Sommerloch zurückzuführen sei. Aber was, wenn die Autoren aufgrund von Ideenverlust, Mobbing oder Langeweile aus ihren Sommerferien nicht zur Lexikonarbeit zurückkehren? Wird auch die deutschsprachige Wikipedia Autorenjäger aussenden, um Nachwuchs zu gewinnen? Vielleicht stehen ja bald anstelle der Staubsaugervertreter oder GEZler die Wikipedianer vor der Haustür, und es heißt: Dingdong! Schon geschrieben?
Text: F.A.Z.
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Norbert Lindenthal
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