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Norbert Lindenthal
20.07.2006 15.21
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Immer noch viel Unsinn: der neue Wahrig

Frankfurter Allgemeine Zeitung 20.07.2006

Rechtschreibreform

Die Vernunft kehrt nur in Trippelschritten zurück
Von Theodor Ickler

Bild: Wahrig-Wörterbuch
Endlich Sicherheit? Immer noch viel Unsinn: der neue Wahrig
20. Juli 2006 
Am 1. August 2006 soll die zum zweitenmal revidierte Rechtschreibreform für die Schulen verbindlich werden. Die amtlichen Texte (dreihundert Seiten Regeln und Wörterverzeichnis) liegen auch weiterhin nicht gedruckt vor, sondern können nur aus dem Internet heruntergeladen werden – für die tägliche Schreib- und Korrekturpraxis ein unhaltbarer Zustand. Auch sind die Regeln viel zu kompliziert und auslegungsbedürftig, als daß sie von Lehrern oder gar Schülern unmittelbar angewandt werden könnten.

In Gestalt des Wahrig liegt das erste Wörterbuch vor, das die Revision auf den deutschen Wortschatz anwendet (Wahrig: „Die deutsche Rechtschreibung“. Herausgegeben von der Wahrig-Redaktion. Wissen Media Verlag, Gütersloh/München 2006. 1216 S., geb., 14,95[Euro]). Die Wahrig-Redaktion ist im Rat für deutsche Rechtschreibung vertreten, hat die amtlichen Regeln mitverfaßt und wurde bei ihrer Arbeit durch die Geschäftsführerin des Rates unterstützt.

Man nimmt daher von vornherein an, daß die neuesten Regeln zuverlässig umgesetzt sind. Das amtliche Wörterverzeichnis wurde von einer selbsternannten Redaktionsgruppe aus Ratsmitgliedern angefertigt, der Rat als ganzer hat es nicht mehr gesehen, bevor die Kultusminister es ohne weitere Diskussion billigten. Die Wörterbuchverfasser lassen sich außerdem von einer inoffiziellen „Handreichung“ leiten, die von derselben Gruppe am Rechtschreibrat vorbei angefertigt wurde und äußerst folgenreiche Ausführungsbestimmungen enthält. Auch für die meisten Ratsmitglieder dürfte teilweise neu sein, was aus jenen Vorlagen folgt, die sie seinerzeit pauschal beschlossen hatten.

Aktuell statt endgültig

Im Gegensatz zum Dudenverlag, der die „Endgültigkeit“ der jetzigen Regelung betont, will der Wahrig nur den „aktuellen“ Stand festhalten. Zwar wirbt er auf dem Umschlag: „Neu – Neu – Neu – Neu – Endlich Sicherheit!“ Aber die Redaktion ist sich des Übergangscharakters der jetzigen Regelung bewußt. Auch die Wahrig-Sprachberatung spricht stets von der „derzeit verbindlichen Fassung des amtlichen Regelwerks“ und von den „derzeit gültigen Regeln“. Tatsächlich sind weitere Änderungen unausweichlich und vom Rat auch bereits in Aussicht gestellt. Notenrelevant ist die jetzige Regelung ohnehin noch nicht und wird es vielleicht nie werden.

Es ist dem Verlag gelungen, den Vorsitzenden des Rechtschreibrates und einstigen Hauptverantwortlichen für die ganze Reform, Kultusminister a. D. Hans Zehetmair, als Vorwortschreiber zu gewinnen. Allerdings scheint ihn die gewohnte Formulierungsgabe verlassen zu haben, sein Text wirkt unkonzentriert: „Sprache ist ein hohes Gut. Sie ist die wichtigste Kommunikation des Menschen, um Kultur zu schaffen und zu leben.“ Die Revision der mißlungenen Reform – Zehetmair spricht beschönigend vom „Glätten evidenter Unebenheiten“ – bezeichnet er als „behutsame Aufgabe“.

Für die Schule nicht geeignet

Im ersten Teil sind neben den üblichen Benutzungshinweisen die amtlichen Regeln abgedruckt, ferner eine allgemeinverständliche Übersicht über diese Regeln und dankenswerterweise auch eine Synopse der Neuerungen gegenüber der Revision von 2004. Die offenen Beispiellisten geben eine Ahnung von der explosionsartigen Zunahme der Varianten und vom Umfang der Änderungen, die der Rat für deutsche Rechtschreibung trotz seiner (Selbst-)Fesselung durch eine unsachgemäß begrenzte Agenda vorgenommen hat.

Im Wörterverzeichnis selbst ist nicht zu erkennen, was sich gegenüber 1996 und 2004 geändert hat. Durch Blaudruck gekennzeichnet sind nämlich nur die Neuerungen gegenüber dem Duden von 1991. Folglich stehen „zu eigen machen“, „guttun“ und viele andere Wörter wieder so da wie vor der Reform, als hätte man ihnen seither kein Haar gekrümmt, und doch mußte das eine zehn Jahre lang groß, das andere getrennt geschrieben werden. Daß seit 1996 in Hunderten von Fällen ganz andere Schreibungen „gültig“ waren und seither in Millionen von Wörterbüchern, Schulbüchern und Kinderbüchern stehen, wird kaschiert, die peinlichste Episode der deutschen Sprachgeschichte damit stillschweigend entsorgt. Im Sinne der Reformdurchsetzung ist das ein schlauer Schachzug, mit dem sich der Verlag allerdings selbst ein Bein stellt. Lehrer müssen ja wissen, welche Schreibweisen in der Übergangszeit bis August 2007 (in der Schweiz bis 2009) noch toleriert werden, also etwa „zu Eigen“, „Pleite gehen“ und „Leid tun“. Für die Schule ist der Wahrig damit von vornherein nicht geeignet.

Schlichte Vergangenheitsbewältigung

„Der neue Wahrig gibt Empfehlungen in Fällen, in denen zwei Schreibweisen parallel zulässig sind.“ So hatte es in der Werbung geheißen, als Antwort auf die Ankündigung des Duden, durch nicht weniger als dreitausend gelb unterlegte Empfehlungen Einheitlichkeit schaffen zu wollen – was übrigens ein Licht auf Zehetmairs Lobpreis der angeblich erreichten Vereinheitlichung wirft. Mit den Empfehlungen der Wahrig-Redaktion ist es nicht weit her. Es sind nur ein paar Dutzend, sie wirken zufällig eingestreut und haben gewöhnlich diese bescheidene Form: „! In der Fügung der Runde Tisch (= der Verhandlungstisch) empfiehlt es sich, das Adjektiv rund großzuschreiben, um die idiomatisierte Bedeutung der Verbindung hervorzuheben.“ Oft verweisen sie auf den Schreibgebrauch. Bei konsequenter Befolgung dieses Maßstabes wäre allerdings die ganze Reform überflüssig gewesen.

Die Auswahl der Stichwörter ist annehmbar. Man wird immer einiges vermissen. Sollten im Belegkorpus der häufig falsch geschriebene „Cinchstecker“ oder die im Fußballjournalismus beliebte „Blutgrätsche“ nicht vorkommen? Auch „ewiggestrig“ und die im amtlichen Wörterverzeichnis ausdrücklich erwähnte „Fritfliege“ fehlen genau wie in früheren Auflagen. Bei der Auswahl der Eigennamen bleibt das Wörterbuch einer alten Bertelsmann-Tradition treu: Die Namen sozialistischer Größen wie Stalin, Lenin, Trotzki, Liebknecht, Luxemburg und sogar Zetkin sind aufgeführt, nicht aber die rechtschreiblich durchaus schwierigen Hitler, Goebbels oder Göring – eine recht schlichte Art der Vergangenheitsbewältigung.

Dabei gibt es noch Anal-phabeten

Obwohl der Rechtschreibrat bisher nur einen Teil der amtlichen Regeln bearbeiten durfte, gehen die Änderungen in die Tausende, schon wegen der Silbentrennung. Hier ist bekanntlich die Abtrennbarkeit einzelner Buchstaben (a-brupt, Musse-he, Bi-omüll) wieder beseitigt. Dagegen hat sich der Rat noch nicht zur herkömmlichen Trennung von ck durchringen können, es bleibt bei Zu-cker, in klarem Widerspruch zu §3 des Regelwerks (“Statt kk schreibt man ck“). Einige Trennungen wie transk-ribieren sind in der Neubearbeitung gestrichen. Diag-nose, Subs-tanz, Pithe-kanthropus, Thermos-tat, Rest-riktion, Katas-trophe und Katast-rophe und viele andere bleiben aber zulässig und sind auch weiterhin verzeichnet. Sie ruinieren jeden anspruchsvolleren Text.

Es war dem Ratsvorsitzenden ein ernsthaftes, auf Pressekonferenzen vorgetragenes Anliegen, vor Anal-phabet und Urin-stinkt zu warnen. Tatsächlich ist für diese Beispielwörter die angeblich irreführende Trennung im Wörterverzeichnis gar nicht angegeben, als handele es sich um ein Verbot. Der Rat hatte im November 2005 ausdrücklich das Gegenteil beschlossen. Auch Frust-ration und Lust-ration sind, obwohl regelkonfom, nicht mehr angeführt, wohl aber der Kast-rat.

Man darf wieder großschreiben

Die Kommasetzung hat noch einmal einen Komplizierungsschub erfahren. Der erweiterte Infinitiv soll wieder durch Komma abgetrennt werden, aber nur nach bestimmten Bezugselementen wie Substantiven und Pronomina, nicht nach Verben. So stehen nebeneinander: „Er hat die Absicht, morgen abzureisen“ und „Er beabsichtigt morgen abzureisen“. Das ist weder für Schüler einfach noch dem Leser dienlich.

Die Höflichkeitsgroßschreibung der Briefanrede (Du, Ihr, Dein) ist zumindest wieder zugelassen. Wie am „Runden Tisch“ bereits zu erkennen, werden auch feste Begriffe grundsätzlich wieder groß geschrieben. Hinter der wiederaufgestoßenen Tür der „Fachsprachlichkeit“ trifft man nicht nur alte Bekannte, sondern auch viele neue Gesichter: den „Schwarzen Peter“ und die „Erste Hilfe“, aber auch die „Aktuelle Stunde“, den „Grünen Tisch“, die „Graue Eminenz“ und manches andere.

Was ist von einer Reform mit derartigen Mißgriffen zu halten?

Die absurde Großschreibung „Bankrott gehen/Pleite gehen“ wird zurückgenommen, die bisher übliche Kleinschreibung aber nicht wiederhergestellt, sondern statt dessen Zusammenschreibung angeordnet – mit der Begründung, die Gesamtbedeutung lasse sich nicht aus den Bestandteilen erschließen. Aber nichts könnte einfacher sein: manches geht kaputt, entzwei, verloren, verschütt und eben auch bankrott oder pleite. Interessant ist immerhin das Eingeständnis, daß es sich bei pleite und bankrott um Adjektive handelt – warum mußten sie dann seit 1996 groß geschrieben werden?

Den Ratsmitgliedern ist aber noch immer nicht klarzumachen, daß in leid tun (1996: Leid tun, 2006 leidtun) keineswegs ein „verblasstes Substantiv“ steckt. Wahrig gibt folglich den falschen Kommentar, leid habe hier „die Eigenschaften eines selbstständigen Substantivs verloren“. Statt „erste Hilfe ist Not“ heißt es wieder „Erste Hilfe ist not“. Groß geschriebenes „Diät leben“ bleibt erhalten, ebenso „Vabanque spielen“, als handele es sich um ein Spiel wie Roulette. Bei „recht haben“ ist zwar die grammatisch richtige Kleinschreibung wieder zugelassen, aber von der Großschreibung wollten die Reformer dennoch nicht lassen: „wie Recht du hast“ und „wie Unrecht tut ihr mir“ soll weiterhin korrektes Deutsch sein.

Was ist von einer Reform zu halten, die sich derartige Mißgriffe erlaubt? Das fragt man sich nachträglich auch noch, wenn man sieht, daß die abwegige Großschreibung jemandem Feind sein/Freund sein endlich zurückgenommen ist, nachdem sich die Reformer zehn Jahre lang geweigert haben, diese grobe Verkennung einer Wortart zuzugeben. Die unsinnige Großschreibung „morgen Früh“, eine Erfindung der dahingeschiedenen Zwischenstaatlichen Kommission, ist immer noch nicht beseitigt.

Eine alte Dudenmarotte, weitergedreht

Die Redaktion empfiehlt, Drähte „bloß zu legen“, sein Innerstes hingegen „bloßzulegen“. In solchen Fällen greift das Wörterbuch eine alte Dudenmarotte wieder auf und treibt sie noch ein Stück weiter. Der Grundsatz, metaphorischen Gebrauch auch orthographisch zu kennzeichnen, läßt sich nicht konsequent durchführen und ist außerdem widersinnig, weil er die Metapher zerstört; er bringt sie gewissermaßen um ihre Pointe.

Überraschenderweise werden auch ganz neue Zusammenschreibungen mit Verben eingeführt. Das Wörterbuch führt exemplarisch über zweihundert Fälle an, die vor der Reform gar nicht zulässig waren: spielenlassen (die Muskeln, nicht die Kinder), kommenlassen (die Kupplung, nicht die Feuerwehr), platzenlassen (eine Veranstaltung, aber nicht einen Luftballon), setzenlassen (ohne Erläuterung), sprechenlassen (Blumen), steigenlassen (Partys, aber nicht Drachen), sterbenlassen (Projekte, nicht Patienten), vermissenlassen (Feingefühl). Das sind Extrapolationen, an die gewiß kein Mitglied gedacht hat, als der Rat die traditionelle Zusammenschreibung von „bleiben“ und „lassen“ mit Positions- und Fortbewegungsverben wiederherstellte. Daß jemand Feingefühl „vermissenlässt“ und daher die Muskeln „spielenlässt“; daß „du es mich wissenließest, indem du Blumen sprechenließest“ – das ist zweifellos gewöhnungsbedürftig, denn es finden sich dafür auch in sehr großen Textcorpora keine Belege.

Eine Frage soll offenbleiben, eine Tür offen bleiben. Für hängenlassen wird Getrenntschreibung bei konkreter Bedeutung empfohlen; als Beispiel wird angeführt die Ohren hängen lassen (,den Mut verlieren'), aber gerade das ist übertragener Gebrauch. Gäbe es nicht eine Beliebigkeitsklausel, die letzten Endes alles offenläßt oder offen läßt, könnte der ratsuchende oder Rat suchende Benutzer schier verzweifeln. Der exzessiven Zusammenschreibung steht übrigens entgegen, daß der Rechtschreibrat sich erfolgreich dagegen wehrte, spazierengehen, -fahren oder -reiten wieder zuzulassen; nur kennenlernen ließ er sich abringen, aber schon nicht mehr liebenlernen und schätzenlernen.

Da bleibt kein Stein auf dem anderen

Die mit wieder zusammengesetzten Verben waren von Anfang an so undurchsichtig geregelt, daß die Wörterbuchredaktionen seit zehn Jahren mit den unterschiedlichsten Auslegungen aufwarten. Im neuen Wahrig versucht ein großer Informationskasten Klarheit zu schaffen, treibt aber die Willkür auf die Spitze. Die einzelnen Einträge sind schlechterdings nicht nachvollziehbar: Warum darf „wieder aufarbeiten“ nur getrennt, „wiederaufbereiten“ aber nur zusammengeschrieben werden, während bei „wiedereingliedern“ beides möglich ist? Die Liste willkürlicher Festlegungen wäre noch länger, wenn nicht geläufige Verben wie wiederbesetzen und wiedererwerben einfach weggelassen wären; ihre aktuelle Schreibweise ist aus den Regeln nicht herleitbar. In der vorigen Auflage gab es die unsinnige Vorschrift, „wiedertun“ (mit einem Akzent) durch „wieder tun“ (mit zwei Akzenten) zu ersetzen; in der Neufassung bleibt es bei einem Akzent auf wieder – und dennoch bei Getrenntschreibung, obwohl der Kasten genau das Gegenteil erwarten läßt.

Auch ist der Unterschied zwischen Adverb und Verbzusatz keineswegs immer an der Betonung zu erkennen: Man will das Denkmal wiederherstellen kann durchaus gleich betont werden wie „Die Fabrik will dieses Produkt wieder (aufs neue) herstellen“. Gerade bei den Verben mit wieder- bleibt kein Stein auf dem anderen, aber dies kann der arglose Benutzer wegen der eigentümlichen Markierungspraxis nicht erkennen. Die Fälle brustschwimmen, delphinschwimmen und marathonlaufen (dies ist neu und hätte blau gedruckt werden müssen) werden in Anlehnung an den alten Duden interpretiert, die amtliche Regelung ist an dieser Stelle unverständlich.

Die deutsche Rechtschreibung: endgültig unbeherrschbar

Zusammensetzungen mit sein (beisammensein) bleiben kategorisch ausgeschlossen, die im Jahre 2004 wiederzugelassenen „beisammengewesen“ und „zurückgewesen“ sind auch im amtlichen Verzeichnis wieder getilgt, aber der Eintrag „dagewesen“ ist neu hinzugekommen, als einzige, nirgendwo begründete Ausnahme. Der Rechtschreibrat hat darüber nicht gesprochen, es muß sich also um eine Eigenmächtigkeit der Wörterbuchgruppe handeln.

Bei Verbindungen mit wohl sind rund dreißig neue Getrenntschreibungen durch Blaudruck hervorgehoben, da sie aber allesamt fakultativ und die früheren Zusammenschreibungen wieder zugelassen sind, könnte man sie einfach weglassen und wäre dann wieder genau bei der Regelung von 1991. Das Wörterbuch benötigt mehrere Spalten, um darzustellen, wie man Verbindungen mit schwarz schreibt. Die obligatorische Zusammenschreibung „bis du schwarzwirst“ kommt dennoch überraschend. Für fest-, voll- und tot- wird eine Sonderregel aufgestellt: Unter den Einzeleinträgen sind sie allesamt mit Verben zusammengeschrieben, weil sie, wie der Infokasten behauptet, reihenbildend und fast ausschließlich in Zusammenschreibung belegt seien.

Allerdings ist die Regel so formuliert, daß auch Getrenntschreibung erlaubt zu sein scheint, und eine einsame Ausnahme gibt es ohnehin auch hier wieder: „tot stellen“ darf nur getrennt geschrieben werden, Blaudruck weist nachdrücklich auf diese ausgeklügelte Neuerung hin. Auch „verrückt stellen“ soll wie bisher getrennt geschrieben werden, „verrücktspielen“ aber nur zusammen. Da es viele hundert Verfeinerungen dieser Art gibt, wird die deutsche Rechtschreibung nun endgültig unbeherrschbar.

Als könnte eine Hand breit Stoff sein

Das reformierte „Leid tragend“ ist getilgt, es gibt nur noch „leidtragend“, aber mit der sonderbaren Begründung: „In der Zusammensetzung leidtragend ist der Erstbestandteil durch eine Wortgruppe (viel Leid, großes Leid) ersetzbar. Daher gilt Zusammenschreibung.“ Dann müßten allerdings auch Besorgnis erregend, Ehrfurcht gebietend und viele weitere Verbindungen wieder zusammengeschrieben werden, und zwar immer. Das geschieht aber keineswegs, vielmehr sollen sogar Sätze wie „die Entwicklung ist Besorgnis erregend“, „diese Pflanzen sind Sporen tragend“ weiterhin korrekt sein; nicht einmal ein Warnschild wird vor solchen grammatischen Schnitzern aufgestellt.

Die „Handvoll“ ist wiederhergestellt, die „Hand voll“ aber noch nicht aufgegeben: zwei Hand voll Körner. Überraschenderweise werden durch die Revision sogar die „Hand breit“ (eine Hand breit Stoff) und der „Fuß breit“ (ein Fuß breit Boden) als neue Varianten eingeführt, ohne daß der Rechtschreibrat je darüber gesprochen hätte. Vielleicht wäre er darauf gestoßen, daß eine Hand zwar voll Körner sein kann, aber nicht breit Stoff.

Nach und nach wird ein Englischwörterbuch eingearbeitet

Das Wörterbuch schreibt – anders als das amtliche Regelwerk – durchweg selbstständig und erklärt, wie die meisten Reformer, die ältere Form selbständig für eine Verkürzung der jüngeren! Erfreulicherweise wird die herkömmliche Zusammenschreibung von „sogenannt“ ausdrücklich empfohlen, die Getrenntschreibung aber nicht wieder abgeschafft. Unter „Schlusssatz“ und „Schussstärke“ wird „der besseren Lesbarkeit wegen“ ein Bindestrich vorgeschlagen: Schluss-Satz, Schuss-Stärke. Darf man daran erinnern, daß „Schlußsatz“ ohne Probleme lesbar war und erst die Reform den Schaden angerichtet hat, der nun auf so unbeholfene Weise repariert werden muß? Daß nur „Eis-Schnelllauf“ und nicht „Eisschnell-Lauf“ (wie noch im Duden von 2004) „zulässig“ sei, trifft übrigens nicht zu; das neue Regelwerk enthält keine solche Vorschrift, schon weil der Bindestrich vom Rat gar nicht behandelt wurde.

Bei den Fremdwörtern ergeben sich sehr viele Änderungen durch die neue Regel, daß der Hauptakzent über die Zusammenschreibung entscheidet: Freestyle, Hightech, Shootingstar; Golden Goal, Private Banking, Round Table. Die neue Hauptregel lautet: „Aus dem Englischen stammende Bildungen aus Adjektiv + Substantiv können (!) zusammengeschrieben werden, wenn der Hauptakzent auf dem ersten Bestandteil liegt, also Hotdog oder Hot Dog, Softdrink oder Soft Drink, aber nur High Society, Electronic Banking oder New Economy.“ Durch die unterschiedlich akzentuierten Beispiele wird die Regel gleich wieder verdunkelt.

Auch bei Anfangsbetonung ist die Zusammenschreibung lediglich erlaubt, aber nicht zwingend. Das irreführende Verfahren zieht sich durch das ganze Wörterbuch. Neben Hotdog, Harddisk usw. ist also entgegen dem Augenschein auch bei Anfangsbetonung Hot Dog, Hard Disk möglich. Die Ergänzung lautet: „Sind beide Akzentmuster möglich, dann kann getrennt- wie zusammengeschrieben werden, zum Beispiel: Big Band/Bigband, Hot Pants/Hotpants, Small Talk/Smalltalk.“ Für „Charming Boy“ soll trotz Anfangsbetonung nur Getrenntschreibung gelten. (Der Eintrag ist zugleich ein Beispiel für die Tendenz, nach und nach ein englisches Wörterbuch in das deutsche einzuarbeiten.)

Frühere Auflagen wußten es noch besser

Die neue Regel ist nur für englische Entlehnungen formuliert, aber die Redaktion überträgt sie auf Wörter anderer Herkunft. So wird zur Unterscheidung von der neueingeführten Schreibweise „Haute Finance“ (mit gleichmäßiger Betonung) für das herkömmliche Hautefinance ein ganz unrealistischer Anfangsakzent postuliert; frühere Auflagen wußten es noch besser. Es rächt sich jetzt, daß die „Laut-Buchstaben-Beziehung“ und damit die Fremdwortschreibung vom Rechtschreibrat nicht behandelt werden durfte.

Wie schon 2005 wird im Wörterverzeichnis nur noch die Hybridschreibung Orthografie, orthografisch benutzt, im gesamten ersten Teil des Werkes aber weiterhin Orthographie und orthographisch. Bei Photosynthese wird die traditionelle fachsprachliche Schreibung empfohlen, bei Phonetik (neu Fonetik) nicht.

Neue Skurrilitäten trüben das Bild gleich wieder ein

Die Kennzeichnung reformierter und nichtreformierter Schreibweisen ist nicht immer gelungen. Die Wendung „um ein Vielfaches“ müßte blau gedruckt sein, denn der alte Duden wollte kurioserweise nur Kleinschreibung zulassen. Auch „Aupair“ ist neu und „zurzeit“ wenigstens für Deutschland. Dagegen ist der Blaudruck bei einigen Wörtern wie ernst nehmen oder der Drittletzte (,der Leistung nach') unbegründet, die Schreibweisen sind die alten. Die „spät Gebährende“ ist leider kein Druckfehler, denn es folgt sogleich die alternative Schreibweise „Spätgebährende“.

Insgesamt dokumentiert der Wahrig trotz mancher Versehen recht zuverlässig die von den Kultusministern jüngst verordnete Schulorthographie. Sie stellt der deutschen Sprachwissenschaft kein gutes Zeugnis aus. Die weiteren Verhandlungen des Rechtschreibrates müssen zeigen, ob die Reparaturarbeiten zu einem erträglichen Abschluß gebracht werden können. Man sieht zwar, daß die Richtung einigermaßen stimmt, aber Sinn und Verstand kehren nur in Trippelschritten zurück, und neue Skurrilitäten trüben das Bild gleich wieder ein. Eine durchgreifende Verabschiedung von den Fehlern der Reform wird dadurch erschwert, daß noch zu viele Altreformer mitzuentscheiden haben, darunter der Ratsvorsitzende selbst, der bei jeder Gelegenheit verkündet, eine Rücknahme der Reform komme nicht in Frage. Er will, wie er auch hier wieder verkündet, die Gesellschaft mit der Rechtschreibreform „versöhnen“. Daraus kann unter den gegebenen Umständen nichts werden.

Text: F.A.Z., 20.07.2006, Nr. 166 / Seite 33
Bildmaterial: Bertelsmann Lexikon Verlag

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Norbert Lindenthal
06.04.2006 15.50
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Die Erblast von Achtundsechzig

F.A.Z., 06.04.2006, Nr. 82 / Seite 1

Leitartikel
Die Erblast von Achtundsechzig
Von Berthold Kohler

06. April 2006 Wieder ist die Republik über sich erschrocken. An ihren Schulen geht es schlimmer zu, als sie es wahrhaben wollte. Dem Schock über die Bildungsmisere, attestiert in den Pisa-Berichten, folgt nun das Entsetzen darüber, daß die deutschen Schulen auch als Integrationsmaschinen viel weniger leisten, als nötig wäre.

Schon ganze Ausländergenerationen leben in abgeschlossenen Parallelwelten, die von außen kaum noch zu erreichen sind. Frühzeitig müßte diesen Segregationsprozessen entgegengewirkt werden. Doch den Schulen gelingt es nur mangelhaft, den Nachschub für die Gettos abzuschneiden und junge Menschen aus Ausländerfamilien in die bürgerliche Gesellschaft einzugliedern. Aber auch Schüler ohne „Migrationshintergrund“ scheitern am Übertritt in ein ordentliches Berufsleben, weil Eltern und Schulen ihre Erziehungsaufgaben nicht ausreichend erfüllen.

Gründe für das Erschrecken gibt es genug. Doch woher kommt die Überraschung? Kreuzberg und Neukölln liegen nicht irgendwo, sondern mitten in der deutschen Hauptstadt. Es soll sogar fortschrittliche Bundestagsabgeordnete geben, die in diesen angeblich multi-, in Wirklichkeit aber recht monokulturellen Stadtteilen wohnen. Doch nicht nur ihnen ist seit Jahrzehnten bekannt, wohin die Gettoisierungsprozesse in den deutschen Groß- und auch schon Kleinstädten führen. Unter dem Banner der Toleranz fand in den Kommunen das Gegenteil von Integration statt. Dort entstanden gleichsam exterritoriale Zonen, in denen sich etwa ein Türke kaum stärker an die Gepflogenheiten des öffentlichen Lebens in Deutschland anpassen muß als in Istanbul.

Kritik daran ist aber kaum laut geworden, weil sie von den Meinungsführern der Ausländerdebatte sogleich niederkartätscht wurde; kaum jemand konnte so intolerant sein wie die Hohenpriester des Toleranzgedankens. Besonders für die aus der Studentenbewegung hervorgegangene Linke gehörte der Import fremder Kulturen zum Entnationalisierungsprogramm, mit dem das Deutschsein der Deutschen möglichst stark verdünnt werden sollte. Die bürgerlichen Parteien, die 1968 die Diskurshoheit verloren, wehrten sich nur schwach dagegen, weil sie nicht als „ausländerfeindlich“ an den Pranger gestellt werden wollten. Lieber steckten sie fortan den Kopf in den Sand.

Das Dogma, daß schon alles gut werde, wenn man bis zur Aufgabe der eigenen Werte und Ordnungssysteme tolerant und antiautoritär sei, bezog sich freilich nicht nur auf die Ausländerpolitik. Nach 1968 versuchten die progressiven Geister in Deutschland möglichst alles zu schleifen, was ihnen irgendwie als Herrschaftssystem vorkommen wollte. Auch die unselige Rechtschreibreform geht auf dieses Motiv zurück. Autorität an sich ist damals als ein (deutsches) Erzproblem identifiziert worden, wie überhaupt alles problematisiert wurde, als die „Achtundsechziger“ als Lehrer an die Schulen kamen.

Sie säten auch im Bildungssystem jenen antiautoritären Geist aus, der erheblich zu der Schwächung und Verwahrlosung der Schulen beitrug, die jetzt (für wie lange?) die Öffentlichkeit schockieren. Die Anforderungen an die Schüler wurden zurückgenommen, die sogenannten Sekundärtugenden verunglimpft, Grenzen wurden, wenn überhaupt, nur noch weit gesteckt. Der Autoritätsverlust, den manche Lehrer heutzutage beklagen, gehörte für ihre Vorgänger zum Programm ihres gesellschaftlichen Befreiungskampfes. Zu den Kindern dieser Revolution zählen die Kohorten von kaum noch „beschulbaren“ Jugendlichen, die die Regeln des bürgerlichen Zusammenlebens schon deswegen nicht schätzen können, weil niemand sie ihnen beibrachte.

Die Jugend aus den Ausländervierteln hält den Deutschen jetzt am drastischsten vor Augen, wohin die als Liberalität ausgegebene Permissivität geführt hat. Nach allem, was man über die Lebenswelt von jungen Türken, Arabern und Afrikanern in Deutschland weiß, spielt in ihr der Respekt vor Autoritäten – ob in der Person des Bandenanführers oder (noch) des eigenen Vaters – eine große Rolle. Die Schule aber flößt ihnen sowenig Respekt ein wie die anderen staatlichen Institutionen, die ihnen gleichermaßen defensiv entgegentreten. Wer soll auch einen Staat und dessen Repräsentanten achten, wenn diese vorrangig Selbstzweifel und Selbstaufgabe verkörpern? Gerade jungen Muslimen, deren agile Religion sich ausbreitet, kann nicht entgehen, wie sehr die christlich-abendländische Kultur in Deutschland in die Ecke gedrängt worden ist.

Integration wird nur dann gelingen, wenn sie den zu Integrierenden erstrebenswert erscheint. Darum muß, wenn die Eltern dazu nicht willens oder nicht in der Lage sind, der Staat durch umfassende schulische Bildung dafür sorgen, daß den Ausländerkindern der Weg in ein erfülltes bürgerliches Leben offensteht. Die Gleichgültigkeit, mit der Deutschland bislang dem Wachstum eines schlecht ausgebildeten und vor allem deswegen arbeitslosen Jugendproletariats zusah, ist ein Skandal. Der Staat muß die jungen Leute, ob ausländischer oder deutscher Abstammung, aber auch spüren lassen, daß er die Verletzung der Regeln des zivilisierten Zusammenlebens nicht hinnimmt.

Das ist eine der Botschaften, die von der Schule zu vermitteln sind. Dazu braucht man nicht die Zeit bis vor 1968 zurückzudrehen. Es reichte schon, wenn man von einigen Irrtümern abrückte, die jahrzehntelang als Dogmen in der Ausländer- und Schulpolitik verkündet worden sind. Der Verlauf der aktuellen Debatte läßt immerhin darauf hoffen, obwohl sich die Protagonisten von damals immer noch schwertun mit dem Eingeständnis, Irrwege verfolgt zu haben. Dabei könnten sie doch als leuchtende Vorbilder auftreten. Die meisten von ihnen führen heute das, was sie früher mit aller Gewalt bekämpften: ein bürgerliches Leben.

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Sigmar Salzburg
04.04.2006 08.17
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Zwei Leserbriefe

F.A.Z. 4.4.2006:

Weit entfernt von der Einheitlichkeit der Sprache

Zur Rechtschreibreform: Zweifellos ist durch die jüngsten Beschlüsse der Kultusministerkonferenz unter ungeheurem Aufwand eine nicht unwesentliche Milderung der Neuschriebgroteske bewirkt worden. Doch ist es ebensowenig zu bezweifeln, daß eine einigermaßen tolerable Lösung damit noch nicht erreicht ist; eine Lösung, die Aussicht hat, einer neuen Einheitlichkeit der deutschen Schreibung den Weg zu bahnen. Vielerlei Unfug „gilt“ nach wie vor; bei Groß- und Kleinschreibung (Du hast ganz Recht), bei der Dreikonsonantenschreibung, den idiotischen Volksetymologien (um von den auch im neuen Beschluß nicht behobenen Mängeln bei Zeichensetzung und Silbentrennung zu schweigen): Wollen wir künftig Gussstahl oder Flussschifffahrt schreiben? Schneuzen Sie sich durch die Schnauze? Kurz nach Ihrer Rückumstellung schrieb die F.A.Z. das Wort Missstand groß auf eine ganze Seite – als Beleg dafür, daß es so nicht gehe. Soll es auf Ihren Seiten nun fröhliche Wiederkehr feiern?
Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung hat seinerzeit einen Kompromißvorschlag erarbeitet, angesichts der Machtverhältnisse, in dem ausgelotet worden ist, was zu ändern wäre, wenn es gälte, die Einheitlichkeit der deutschen Schreibung wiederherzustellen. Davon sind wir
beim gegenwärtigen Stand noch weit entfernt. Es ist doch entweder Ignoranz oder Feigheit (oder beides), was den „Spiegel“ zu der Ausflucht brachte, von der „neuen, weitgehend alten“ Schreibung zu sprechen. Nach allem, was ich höre, werden sich die meisten (und vor allem die herausragenden) Schriftsteller und Wissenschaftler auch weiterhin an die bewährte Rechtschreibung halten. Vom Gros der Schreiber ganz abzusehen (falls sie sich nicht einem Schreibprogramm anheimgeben).
Ich halte es für sehr gefährlich, jetzt in den Chor derer einzustimmen, die meinen (oder zu meinen vorgeben), jetzt sei alles gut. Und ich finde die F.A.Z. hat eine besondere Verantwortung in dieser Frage, als die führende deutsche Tageszeitung und nach Ihrer frühzeitigen Rückumstellung. Wenn Sie jetzt den Pressionen, denen Sie sich vermutlich ausgesetzt sehen, nachgeben und einknicken, schrumpfen die Aussichten auf Wiederherstellung einer einigermaßen passablen und einheitlichen Schreibung, was die absehbare Zeit angeht – und der Prozeß der allmählichen Rückbildung, der ja ständig im Gange ist, verlängert sich weiter ins Unendliche.
Professor Dr. Christian Meier, ehemaliger Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Hohenschäftlarn

F.A.Z. 3.4.2006:

Unselige Reform

Zur Rechtschreibreform und ihren Folgen: Am 26. Februar abends wurde ein Gespräch zwischen dem ehemaligen bayerischen Kultusminister und einem Journalisten vom Deutschlandfunk gesendet, in dem auch eine Zusammenfassung der Umstände besprochen wurde, die zu dieser unseligen Reform geführt haben. Der Wille, eine Reform zur vermeintlichen Vereinfachung der Rechtschreibung zu initiieren, hatte politische Gründe. Die Zusammensetzung der Kommissionen war politisch und nicht wissenschaftlich bestimmt. Die Ergebnisse der Beratungen blieben zunächst längere Zeit geheim.
Wir sollten noch einmal nachdenken: Eine halbherzige Reform kann nicht stabil sein und bewirkt Verunsicherung
und Beliebigkeit. Irrwege einzugestehen und zurückzugehen müßte uns möglich sein! Ökonomisch ist der Erhalt unserer Bibliotheken beziehungsweise unseres Buchbestandes gar nicht aufzuwiegen gegenüber einer Neueinrichtung dieser Institute beziehungsweise einem Neuaufbau dieses Bestandes. Unsere erkämpfte Lebenszeitverlängerung wird noch lange diejenigen unserer Mitbürger am Leben erhalten, die in der Lage sind, die alte Rechtschreibung zu beherrschen und damit ihre Bücher zu nutzen, Computer zu korrigieren und Freude an ihrer Sprache zu haben, um diese auch der jeweilig nächsten Generation ans Herz zu legen.
Dr. med. Wendula Krackhardt,
Überlingen

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Sigmar Salzburg
28.03.2006 18.17
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„Sprache kennt keine Kompromisse”


[Bild]
Kehlmann hält an alten Regeln fest

Rechtschreibung
„Sprache kennt keine Kompromisse”
Von Heike Schmoll

28. März 2006 Kurz vor der Entscheidung der Ministerpräsidentenkonferenz über die Vorschläge des Rates für deutsche Rechtschreibung an diesem Donnerstag haben Schriftsteller und Rechtswissenschaftler, sowie die Bayerische Akademie der Schönen Künste an die Ministerpräsidenten appelliert, an der bisherigen Rechtschreibung festzuhalten. In einer gemeinsamen Erklärung der Schriftsteller, die von Daniel Kehlmann, Christian Kracht, Feridun Zaimoglu, Judith Hermann, Iris Hanika und anderen unterzeichnet ist, bekräftigen die Dichter, ihre Bücher weiter in der bisherigen Schreibweise drucken zu lassen.

Der Staat habe selbst ohne Not eine Situation hergestellt, in der er sich von der überlegenen Orthographie der gewachsenen und vitalen Schriftkultur provoziert fühlen müsse. Die Literatur werde ihm aus dieser Lage nicht heraushelfen. Sie werde sich um staatliche Vorgaben um so weniger scheren, als diese die Intelligenz des Lesers beleidigten und die Tradition obsolet machten. Von einem Rechtschreibfrieden könne also überhaupt nicht die Rede sein, noch weniger von einem Kompromiß. „Die Sprache kennt keine Kompromisse, jedenfalls nicht solche, wie sie in nichtöffentlichen Sitzungen seit über zwanzig Jahren zwischen ein paar Dutzend Didaktikern, Linguisten und Ministerialbeamten sowie Verbands- und Wirtschaftsvertretern ausgehandelt werden”, heißt es in der Erklärung.

„Blamabler Umgang”

Die bayerische Akademie der Schönen Künste appellierte an die Ministerpräsidenten, einem neu zu berufenden Rechtschreibrat die politische Unabhängigkeit und die nötige Zeit zu gewähren, die dazu erforderlich sind, das durch die „Anmaßung und Inkompetenz der Verantwortlichen angerichtete Chaos der deutschen Rechtschreibung” zu beheben. Nach sorgsamer Prüfung der zu ratifizierenden Vorschläge des Rates stimme die Akademie mit den Kennern der deutschen Sprachgeschichte und Orthographie überein, daß die zur Befriedung empfohlenen Resultate des Rechtschreibrates in hohem Grade unbefriedigend seien. In Anbetracht des tendenziös besetzten Gremiums sei nichts anderes zu erwarten gewesen. Denn nach dem öffentlich erklärten Willen der Kultusminister gehe es bei der zur Genehmigung vorgelegten Reform der Reform der deutschen Rechtschreibung durchaus nicht um die Aufhebung der durch die Kultusministerkonferenz verursachten Verwilderung der deutschen Orthographie, sondern um ein „Exempel bundesrepublikanischer Staatsräson”.

Rechtswissenschaftler haben unterdessen darauf hingewiesen, daß der „blamable Umgang” mit der Rechtschreibung belege, daß die Kultusverwaltungen und die Organisation der Kultusministerkonferenz zu einer Belastung für das deutsche Bildungssystem geworden seien, die den Forderungen der Länder im Rahmen der Föderalismusreform nach einer Ausweitung der Bildungskompetenzen vollkommen zuwiderlaufe. Beim Verfassungsgericht in Karlsruhe ist unterdessen eine Verfassungsbeschwerde gegen die Rechtschreibreform eingegangen.

„Behände” das „Quäntchen” ändern?

Der Vorsitzende des Rates für deutsche Rechtschreibung, der frühere bayerische Wissenschaftsminister Zehetmair (CSU) hat im Gespräch mit dieser Zeitung abermals den von den Kultusministern ausgeübten Zeitdruck beklagt und auch eine partielle Unzufriedenheit mit dem Arbeitsergebnis des Rates zum Ausdruck gebracht. Es sei durchaus erlaubt, noch einmal die Schreibung von „Quäntchen” und „behände” zu ändern. Zwar sei schon viel dadurch erreicht worden, „den alten Betonköpfen das absolute Geltendmachen des Regelwerks umzustoßen”, doch müßten noch weitaus mehr Schreibweisen dem Sprachgebrauch des „unverbildeten Lesers folgen”. Wenn die „Printmedien” im Falle mehrerer Möglichkeiten durchgängig den bewährten Schreibweisen folgten, würden sich diese durchsetzen. Auch die Schulbuchverlage hätten angekündigt, so zu verfahren.

Er rechne fest damit, daß der Beschluß bei der Ministerpräsidentenkonferenz „durchlaufe”. Bestätigt hat Zehetmair auch, daß der Vertreter der Deutschen Presseagentur (dpa) Hein auf eigenen Wunsch aus dem Rat ausgeschieden ist. Da er die Reformkritiker unter den Zeitungen im Rat als „Krawallmacher” bezeichnet hatte, war der Druck auf ihn gewachsen. Hein hat gesagt, er habe sich in der Wortwahl vergriffen und die Verantwortung für diese Äußerung übernommen. In den Rechtschreibrat wird ein Nachfolger von der dpa entsandt. Der Rat wird jedoch erst nach der Veröffentlichung der vollständigen Wörterlisten in den Wörterbüchern wieder tagen.

Text: FAZ, 29.3.2006, S. 2

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Sigmar Salzburg
27.03.2006 09.15
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F.A.Z. v. 27.3.2006, S. 9, Leserbriefe

Orientierungshilfe und Mahnung

Mit ihrer Rückkehr zur bewährten Rechtschreibung im August 2000 hat die Frankfurter Allgemeine Zeitung ganz erheblich dazu beigetragen, daß eine Revision der mißratenen Rechtschreibreform möglich wurde. Der Gewinn dieses beispielhaften Engagements darf jetzt nicht durch einen voreiligen Kompromiß verspielt werden. Die vom Rat für deutsche Rechtschreibung empfohlene und von den Kultusministern beschlossene Reform bringt zwar wesentliche Verbesserungen, löst die entscheidenden Probleme aber nur teilweise und läßt vieles ungeklärt. Als durch Zeitdruck erzwungenes Halbfertigprodukt ist sie lückenhaft und widersprüchlich und bietet keine solide Grundlage für verläßliche Wörterbücher. Neue Unsicherheit und Verwirrung ist damit vorprogrammiert. Sollte dieser unausgereifte Kompromiß jetzt verbindlich werden, dessen Mängel im Leitartikel von Hubert Spiegel „Richtig und falsch“ ( F.A.Z. vom 4. März) klar analysiert wurden, so wird die Sprachgemeinschaft der Chance einer dauerhaft befriedigenden Lösung beraubt. Eine echte Wiederherstellung und Sicherung der Einheitlichkeit der deutschen Rechtschreibung wird für lange Zeit unmöglich.

Um so wichtiger wird es nun, daß die F.A.Z. an der bewährten Rechtschreibung festhält – unabhängig von der Entscheidung der Ministerpräsidentenkonferenz. Die Sprachgemeinschaft braucht dieses Beispiel einer vernünftigen Schreibung dringend als Orientierungshilfe und als Mahnung, den vorerst erzielten Kompromiß nicht als endgültig zu betrachten, sondern nachhaltig zu verbessern. Selbst die Schüler, denen angeblich der Anblick der bewährten Schreibweisen nicht mehr zugemutet werden darf, brauchen genau dies, um Bücher in klassischer Rechtschreibung auch künftig problemlos lesen zu können; verwirrt werden sie nicht nur durch die Fortexistenz der bewährten Schreibung, sondern durch die Undurchschaubarkeit der neuen Schreibregeln, die leider mit der Reform der Reform durch zahllose neue Spitzfindigkeiten und Widersprüche noch vermehrt wird.

Das Eintreten der F.A.Z. für die bewährte Schreibung zeugte von Sprachbewußtsein und bildungspolitischer Verantwortung. Wir bitten die Herausgeber der F.A.Z mit aller Dringlichkeit, sich in diesem vorbildlichen Engagement für die Sprachkultur nicht irremachen zu lassen.
Professor Dr. Hans Maier, München
Reiner Kunze, Obernzell-Erlau
Ralph Giordano, Köln
Hans Krieger, München


Aus Staatsraison

Zum Artikel von Theodor Ickler „Ja, da kann man nur noch gehen“ (F.A.Z. vom 25. Februar): Das Protokoll von Ickler aus den Sitzungen des Rates für Rechtschreibung gehört in jedes Schulbuch über das Funktionieren von Demokratien. Das Protokoll ist eine hervorragende Quelle dafür, wie politische Entscheidungen in einem demokratischen System herbeigeführt werden. Das Ganze läuft so: Ohne erkennbare Kompetenzkriterien beruft man zwei Dutzend Menschen in eine Kommission, die dann im vernunftfreien Raum auf dem Hintergrund ihrer weltanschaulichen und ideologischen Vorprägungen Entscheidungen fällen. Sind die Auswirkungen einer Entscheidung auf Randbereiche beschränkt, hat die demokratische Gesellschaft Glück gehabt. Ist das, wie im Falle der Reform der Rechtschreibreform, nicht der Fall, bestimmen zwei Dutzend Menschen (sic!) über das Wohl von 80 Millionen Menschen. Aber das ist nicht alles. Der Vorgang lehrt weiter, daß in demokratischen Systemen solche Fehlentscheidungen (immerhin lehnen wohl mehr als achtzig Prozent der Bevölkerung die Rechtschreibreform ab) nicht mehr korrigiert werden können. Die Kultusminister geben zwar mittlerweile zu, daß die Reform falsch gewesen sei, aber unwirksam ist sie in der Demokratie nicht mehr zu machen. Aus Staatsräson, wie es heißt. Die Quelle des Herrn Ickler lehrt also, daß die Demokratie wohl nur eine scheinbare ist.
Marco Kamradt, Paderborn

Es ginge auch ohne die dümmlichen Anglizismen

Ihre Karikatur von Greser & Lenz (F.A.Z. vom 10. März), in der ein CEO von „New Business“, „abcashen“ und „An-nual Turnover“ faselt, ist nicht Satire, sondern alltägliche Realität. In einem Ihrer Artikel über die russische Sprache (F.A.Z. vom 6. März) schreibt Kerstin Holm, man würde „Satzgerippe mit englischen Modevokabeln vollhängen wie eine Tanne mit Christbaumschmuck“. So ist es längst auch hierzulande: „High Speed für Low Cost“ (Telekom), „Eine neue Office in your Pok-ket-Lösung“ (T-Mobile) und immer so weiter (oder soll ich sagen: and so on?). Und dann der nicht enden wollende Unfug, Firmennamen mit englischen Anhängseln zu versehen „Science for a better life“ (Bayer), „Creating essentials“ (Degussa), „The-re's no better way to fly“ (Lufthansa), „To be one of a kind“ (Brioni). Nichts gegen Fremdworte dort, wo sie zu Fachsprachen gehören oder die Verständigung erleichtern. Aber möchte ich in Berlin in ein Einkaufszentrum gehen, das nicht „Frankfurter Tor“, sondern „East Gate“ heißt? Gewiß nicht. Denn das schafft nicht Vertrautheit, sondern fröstelnde Fremdheit. Möchte ich einen „Kunstguide – Highlights der Weltkultur“ kaufen – es handelt sich um Berliner Museen –, von dem Museumschef Peter-Klaus Schuster meint, er sei ein „pragmatisches Coaching“? Verbunden werden übrigens die Museen durch einen Shuttle mit Kunstscout an Bord, sofern man zuvor ein Ticket kauft. Hört diese Barbarei nie auf? Immerhin gibt es vereinzelte Gegenbeispiele: „FAZ.NET – Erfrischt den Kopf“. Geht doch, fast. Unmittelbare Folge dieses Gequatsches ist es, daß bald kaum noch jemand die deutsche Sprache beherrscht: „Bestehen Sie auf das Original“ wirbt eine Möbelfirma im Fernsehen. Und in den Fernsehnachrichten wird ständig „den Opfern gedacht“, ohne Ansehen der Person. In Jauchs Millionärsquiz trat dieser Tage der Nachrichtenchef eines Rundfunksenders auf, dem die Herkunft des Wortes „polis“ unbekannt war. Das ZDF warb tagelang mit einem Text für einen Sibirien-Film, der eine grammatische Katastrophe war. Da staunt Leser Professor Wolfgang Enzensberger (F.A.Z. vom 17. März), daß das Fernsehen keine Sondersendung zum Wahnwitz der Rechtschreibreform bringt. Na, weil dem Fernsehen die deutsche Sprache egal ist, wie man jeden Tag dutzendfach hören kann.

Als ich 1960/1961 beim „Tagesspiegel“ volontierte, da gab es einen Herrn Schober, dessen einzige Aufgabe es war, täglich in der Redaktionskonferenz an Hand der jüngsten Ausgabe Sprachkritik zu betreiben und wöchentlich eine Sprachglosse zu schreiben. Ehre seinem Andenken. Über dümmliche Anglizismen mußte er sich übrigens nie beklagen, und es ging dem Land trotzdem nicht schlecht. Die Verständigung war auch ohne sie ausreichend möglich.
Joachim Nawrocki, Berlin

Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 27.3.2006 (Papierausgabe), S. 9

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Sigmar Salzburg
17.03.2006 07.27
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F.A.Z. v. 17.3.06 Leserbriefe S.7

Ein „Unrat gegen Rechtschreibung“
Professor Dr. Theodor Icklers Abgang aus dem „Rat für deutsche Rechtschreibung“ („Ja, da kann man doch nur gehen“, F.A.Z.-Feuilleton vom 25. Februar) ist ja eigentlich bloß eine weitere randläufige quixotische Kapitulation vor den ideologiegetriebenen Windmühlen des Staates. Wozu dann aufregen? In der Tat hat mich der Bericht Professor Icklers eher erheitert, als mich weiter in die Verzweiflung zu treiben. Ich erkenne in mir die typisch deutsche Freude am ästhetischen Spektakel des totalen Untergangs, die auch nicht mehr durch Zynismus getrübt wird.
Die ganze Rechtschreib-Posse läßt hier ein Grundproblem dieser Republik offen zutage treten: die Ent-Demokratisierung und Ent-Professionalisierung in allen Bereichen des politischen Lebens und das Ersetzen des Diskurses mit dem Volk durch simulakrumartige Spektakel. Die Bezeichnung „Rat für deutsche Rechtschreibung“ ist ein wunderbarer Euphemismus, an dem Orwell sicherlich seine Freude gehabt hätte. „Rat“ hat Untertöne von Räterepublik und von Bündelung von Sachkompetenz. Das Volk wird, sozialistischer Utopie folgend, von weisen Fachleuten in eine bessere Sprachzukunft geführt. Der Austritt
Icklers demaskiert den Rat aber als reine Mesalliance von Politikern und Lobbyisten. Natürlich arbeitet der Rat auch nicht „für“ die deutsche Rechtschreibung, sondern für die Rettung eines ideologisch-idiotischen Jahrhundertprojektes. Man ist versucht, vom „Unrat gegen die deutsche Rechtschreibung“ zu sprechen. Der obig erwähnte Doppel-Trend der Ent-Demokratisierung und Ent-Professionalisierung ist für mich das Endzeit-Faszinosum schlechthin. Die politische Klasse beansprucht die Handlungsvollmacht zu Lasten der Experten und des Volkes aufgrund ihrer Wahl durch das Volk und sieht das Volk gleichzeitig als hoffnungslos inkompetent und die Experten als nicht demokratisch legitimiert an. Diese von Selbstzweifeln unbelastete Selbst-Ikonisie-rung der Parlamentarier und ihrer Erfüllungsgehilfen erinnert mich ein wenig an den vollreifen real existierenden Sozialismus der DDR: Spießigstes Mittelmaß wird notdürftig dekoriert und als Exzellenz deklariert. Kritische Stimmen sind verfassungsfeindliche Krawallmacher und werden stumm gemacht oder dürfen auswandern wie Ickler.
Professor Dr. Matthias Huhn, Hannover

Voller Fragen
Zum Beitrag .„Weniger Unsinn -Elend beendet' – Reform der Rechtschreibung reformiert“ (F.A.Z vom 3. März): Wäre Eugene Ionesco ein zeitgenössischer deutscher Autor, hätte er ein absurdes Theaterstück schreiben können, mit dem Titel: Deutsche Rechtschreibung. Nach der Reform der Reform schlösse sich der Vorhang, und das Publikum bliebe entsetzt und sprachlos sitzen, den Kopf voller Fragen: Wie kann sich ein Volk seine Sprache von Politikern diktieren lassen? Wie können sich sprachohnmächtige Diktatoren jahrelang von Fehlentscheidung zu Fehlentscheidung hangeln, ohne daß sie aufgehalten werden, notfalls durch den Präsidenten der Republik, als oberster Hüter des Volkes und seiner Kultur? Und wie kann man es zulassen, daß diese Gewalt an der Sprache gerade an den Schwächsten des Volkes ausgelebt wird, an seinen Erstkläßlern, die sich gerade um den schriftlichen Eintritt in diese Sprachgemeinschaft bemühen? Doch es ist kein absurdes Theaterstück von Ionesco, dem wir beiwohnen, es ist Deutschland im Jahr 2006. Die Mehrheit des deutschen Volkes staunt stumm darüber, was da geschieht und offenbar von niemandem verhindert werden kann. Und das Fernsehen bringt nicht einmal eine Sondersendung, wie es sonst bei nationalen Katastrophen üblich ist. Vielleicht erscheinen bald große Todesanzeigen in den Tageszeitungen: Deutsche Rechtschreibung, geboren in der staatlichen Rechtschreibkonferenz 1901, in Berlin – gestorben 2006, nach einer langen Kultusminister-Konferenz-Agonie. Die Rechtschreibung wird zu Grabe getragen. Doch Vorsicht. Ihre Sprache atmet und lebt noch. Vorhang.
Professor Dr. Wolfgang Enzensberger,
Frankfurt am Main

Schwachsinn
Zum Artikel „Chronik eines fortlaufenden Schwachsinns“ von Theodor Ickler (F.A.Z. vom 25. Februar): Ich frage mich immer häufiger, wie Ickler, „in welchem Land ich eigentlich lebe“ – und nicht allein in bezug auf die Rechtschreibreform. Man kann die Verantwortlichen, die diesen „Schwachsinn“ verbrochen haben, nur noch mit Verachtung strafen. Die öffentlichen Gelder, die dadurch der Allgemeinheit verlorengehen, sollten diese Herren und Damen zurückerstatten.
Volkmar Marschall, Frankfurt am Main

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Dominik Schumacher
04.10.2004 13.39
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FAZ.net Frankfurter Allgemeine Zeitung

Tag der Deutschen Einheit
Köhler: Wir haben zuviel Staat



03. Oktober 2004 Bundespräsident Köhler hat die Deutschen in Ost und West zu einer gemeinsamen Anstrengung für Reformen im ganzen Land aufgerufen. „Nicht allein Ostdeutschland, sondern ganz Deutschland muß erneuert werden, um uns eine gute Zukunft zu sichern“, sagte Köhler in seiner Ansprache an die „lieben Landsleute“ während des zentralen Festaktes zum Tag der Deutschen Einheit in Erfurt.


Staatliche Aufgaben müßten beschränkt und der Eigenverantwortung der Bürger mehr Raum gegeben werden. Jeder könne ein „bißchen mehr“ für das Gemeinwohl tun oder auf etwas verzichten, „was ihm eigentlich ,zustehen' mag“. Der Staat solle nicht „alles Mögliche tun, sondern alles Nötige“. Er müsse sich auf seine wichtigen Aufgaben konzentrieren, das Volk gegen Bedrohungen von außen schützen, für Recht und Ordnung sorgen und seinen Bürgern gleiche Bildungs- und Aufstiegschancen bieten.

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Norbert Lindenthal
27.09.2004 10.26
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FAZ.net Frankfurter Allgemeine Zeitung

27.9.2004

Stoiber sucht einen Kompromiß im Streit um die Rechtschreibreform


Rechtschreibreform
Stoiber will einen „Rat für deutsche Rechtschreibung”


27. September 2004 Im Streit um die Rechtschreibreform strebt der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) einen Kompromiß an. Er werde bei der Jahreskonferenz der Ministerpräsidenten im Oktober als amtierender Vorsitzender einen „Rat für deutsche Rechtschreibung” vorschlagen, sagte Stoiber der Zeitung „Passauer Neue Presse”.


Der Rat soll sich bis Mai 2005 auf Veränderungen einigen, die allgemeine Akzeptanz finden. Stoiber glaubt, daß mit leichten Korrekturen der Konsens über die Rechtschreibung wieder hergestellt werde. „Es gibt ja auch Verbesserungen und Vereinfachungen. Also sollten wir das Gute behalten und das Schlechte ändern”, sagte Stoiber.

„Gewisse Disziplinlosigkeit”

Die Wirkung der Rechtschreibreform sei „außerordentlich problematisch”. Jeder schreibe heute so, wie er denke, ohne das Gefühl zu haben, Fehler zu machen. „Und damit haben wir eine gewisse Disziplinlosigkeit bei einem wichtigen deutschen Identitätsmerkmal”, sagte Stoiber.

Bayern will den früheren Wissenschaftsminister Hans Zehetmair (CSU) für den Rat nominieren. Zehetmair sei „einer der Hauptgestalter der Reform”, sagte Stoiber. Auch Zehetmair habe ihm erklärt, er würde die Rechtschreibreform nicht mehr so einleiten und vertreten. Stoiber: „Die ganze Welt schreibt Ketchup, wir aber sollen Ketschup schreiben.”

Text: FAZ.NET mit Material von ddp
Bildmaterial: dpa

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Dominik Schumacher
30.08.2004 13.14
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faz.net Frankfurter Allgemeine Zeitung

30.8.2004

Rechtschreibreform
Sprachakademie für Kompromiß – Dichter für Rücknahme

30. August 2004 Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung und andere Experten haben vor einer Spaltung der deutschen Sprache gewarnt und gleichzeitig einen Kompromiß im Streit um die Rechtschreibreform gefordert.


Bewährte Schreiber: Walser, Grass

Dafür müsse ein Expertenrat eingesetzt werden, der seine Vorschläge bis zum Ende der bisher festgelegten Übergangszeit im Sommer 2005 ausarbeiten sollte. Sie plädierten am Montag in der Berliner Akademie der Künste auch dafür, die Übergangszeit um ein Jahr zu verlängern, damit die „Ausgeburten bürokratischer Denkweisen“ bei der Reform beseitigt und der „Angriff auf die deutsche Sprache“ abgewehrt werden könnten.

Schriftsteller für völlige Rücknahme

Unterdessen bekräftigten namhafte deutschsprachige Schriftsteller wie Günter Grass, Martin Walser, Tankred Dorst, Siegfried Lenz und Elfriede Jelinek eine „völlige Rücknahme der überflüssigen, inhaltlich verfehlten und sehr viel Geld und Arbeitskraft kostenden Rechtschreibreform“. Dies entspräche dem erkennbaren Willen der großen Mehrheit der Bürger in Deutschland, Österreich und der Schweiz und wäre ein wichtiger Beitrag zur demokratischen Kultur. Literaturverlage und Schulbuchkonzerne gerieten durch die Umsetzung der Neuregelung in eine komplizierte Lage, wie es in der in Berlin veröffentlichten Erklärung der 37 Mitglieder der Akademie der Künste und der Akademie für Sprache und Dichtung heißt.

Auch der Potsdamer Sprachwissenschaftler Peter Eisenberg hält die alte Orthographie für besser als die neue und sogar besser als den jetzt vorgelegten Kompromiß, doch sei eine totale Umkehr „politisch unrealistisch und sachlich auch äußerst schwer zu verwirklichen“. Mit der jüngsten Entscheidung mehrerer großer Zeitungen und Zeitschriften, die neue Rechtschreibung nicht anzuwenden, sei eine Diskussion wieder in Gang gekommen, „die schon abgeschlossen schien – die Karre fuhr mit Hochgeschwindigkeit gegen die Wand“. Der Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Klaus Reichert, sprach in diesem Zusammenhang von einer „starren und vernagelten Haltung der Kultusminister“.

Unschlüssige Lehrer

Auch der Reformpädagoge Hartmut von Hentig warf der Kultusministerkonferenz vor, ihre Arbeit nicht getan zu haben. „Wir stehen vor einem großen Unglück. Die Lehrer sind unschlüssig und verstehen die neuen, komplizierten Regeln nicht.“ Die Vorschläge sehen vor, „Elemente der neuen Rechtschreibung, die nicht allzu störend sind“, beizubehalten „und die schlimmen, unsere Sprache entstellenden Fehler zu beseitigen“. So sei die Ersetzung des ß nach Kurzvokalbuchstaben durch ss sprachlich verantwortbar.

Andererseits müßten Neuregelungen, die gegen die Sprachstruktur verstießen, die Ausdrucksvielfalt des Deutschen beschädigten und zu falschen Schreibweisen verleiteten oder sogar zur Beseitigung von Wörtern führten, rückgängig gemacht werden. Selbstverständlich müsse man „anheimstellen“ zusammenschreiben dürfen, ebenso wie „haltmachen“. „Eislaufen“ und „Eis essen“ ebenso wie „Kennenlernen und Laufen lernen“ oder „wohlfühlen“ und „wohl fühlen“ seien grammatikalisch nicht das gleiche.

Gegen die „Schlammmasse“

Die Verdreifachung von Konsonantbuchstaben anstelle der bisherigen Beschränkung auf zwei Buchstaben (Bettuch) führe teilweise zu grotesken, die Lesbarkeit störenden Wortbildern wie „Schlammmasse“ oder „Schwimmmeister“. Auch gebe es keinerlei Grund für die Kleinschreibung von Höflichkeitsformen.

Die SPD-Spitze hatte am vergangenen Wochenende in Berlin deutlich gemacht, daß sie „im Interesse der Kinder und der Schulen“ an der Rechtschreibreform festhält. Dagegen begrüßte die FDP- Bundestagsabgeordnete Ulrike Flach, Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Bildung, am Montag den Kompromißvorschlag. Die kompletten Kompromißvorschläge der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung liegen in Buchform vor (Wallstein Verlag Göttingen).

Text: FAZ.NET mit Material von dpa, Bildmaterial: dpa

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Norbert Lindenthal
23.08.2004 13.17
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faz.net Frankfurter Allgemeine Zeitung Wellenreiter

23.8.2004

Wellenreiter
Gut gebrüllt, geschrien vor Schmerz und schwach gequiekt


23. August 2004 Adolf Muschg hat eine Frage: „Wenn der Zahnarzt erklärt, seine Operation tue gar nicht weh, und der Patient schreit vor Schmerz – wer hat Recht?“ Das steht in der „Neuen Zürcher Zeitung“, es geht um die Rechtschreibreform, und der schweizer Schriftsteller ist dagegen.

„Es ist der empfindlichste Teil der Sprachgemeinschaft, vorweg die literarischen Autorinnen und Autoren, der mit der Reform nicht leben kann und will“, sagt Muschg in besagtem Interview.

Tut ja gar nicht weh

Andere Angehörige des empfindlichsten Teils der Sprachgemeinschaft kommen in der „Literarischen Welt“ zu Wort. Sie werden nicht gefragt, in einem Interview oder Streitgespräch, sondern wurden gebeten, doch mal was zum Thema Rechtschreibreform zu schreiben. Damit es am Samstag in der Zeitung steht, bevor am Montag auf einem Wiener Kongreß Rechtschreibbeamte aus Österreich, der Schweiz und Deutschland über ihr weiteres Vorgehen beraten. Nur soviel dazu vorab: Es ist keine Krisensitzung. Haben die Beamten verlauten lassen.

Beamte sind bekanntlich der unempfindlichste Teil der Sprachgemeinschaft. Aber auch unter den Sensiblen geben sich einige in der „Welt“ so unerschrocken, abgeklärt und unterkühlt, daß einem der kalte Hauch durch Mark und Bein fahren will. Helmut Krausser zum Beispiel greift zum zynischen Zitat. Er überliefert den letzten schwach gequiekten Satz „der eben an Floridas Küste aus Protest gegen die Reform Selbstmord durch Zwangseinschläferung verübt habenden Delfine“. „Wir brauchen unser ph!“, sollen sie gequiekt haben. Schwach gequiekt.

Ein Sommerloch zum Schutz

„Ich fühlte mich nicht gar so zuständig“, erinnert sich Burkhard Spinnen an seine frühe Kontaktphase mit der Rechtschreibreform. Und die Indifferenz hält an: „Auch jetzt beziehe ich ungern Stellung. Lieber grabe ich zu meinem Schutz ein Sommerloch. Und winke daraus mit einer weißen Fahne ...“

Immerhin für Michael Lentz hat die Rechtschreibreform etwas Existenzielles: „Wäre die Sprache eineindeutig (sic!), wären wir alle längst schon tot“, warnt der Sprachinstallateur. Zwar findet er gerade Schriftsteller in der Reformdebatte „am wenigsten brauchbar“. Als Schreckgespenst allerdings taugen sie wohl prächtig: Man möge das Ganze so schnell wie möglich vergessen, rät Lentz. „Sonst kommt Kurti!“ Schwitters nämlich, der einst die phonetische Schreibung erfand.

Frank Goosen beschwichtigt: „Manchmal muß man die Sprache einfach machen lassen.“ Und will nur eins: „Nie wieder eine Kommission zur Rechtschreibreform.“ Monika Maron immerhin, deren Beitrag den Reigen in der Zeitung auch eröffnet, legt sich ins Zeug: Sie erzählt, welche Grausamkeiten, die ihr widerfuhren, „ausreichten, mich zu einer bekennenden Gegnerin der Rechschreibreform zu machen und denen, die sie angerichtet hatten – ganz offensichtlich Menschen, die weder Gefühl für die Sprache hatten, noch Respekt vor ihr – das Recht, sich an ihr zu vergreifen, rundum abzusprechen.“

Harte Worte. Und ein schöner Gruß nach Wien.

Text: @kue
Bildmaterial: FAZ.NET

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Norbert Lindenthal
23.08.2004 12.34
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faz.net Frankfurter Allgemeine Zeitung

23.8.2004

Rechtschreibung
Wiener Kongreß ohne konkretes Ergebnis

23. August 2004 Spitzenbeamte aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und Liechtenstein haben sich am Montag in Wien zu Beratungen über die Zukunft der Rechtschreibreform getroffen. Das Gespräch ging wie erwartet ohne konkretes Ergebnis zu Ende.

Diskutiert wurde unter anderem der deutsche Vorschlag, einen Rat für Rechtschreibung einzurichten, der die so genannte Zwischenstaatliche Kommission ablösen soll, deren Mandat im kommenden Jahr endet. Die Ergebnisse des Treffens sollen in einen Entwurf einfließen, der von deutscher Seite vorgelegt wird, wie eine Vertreterin des österreichischen Bildungsministeriums nach der Sitzung mitteilte.

Rat gegen Rat

Besprochen worden seien die Zusammensetzung und die Aufgaben des künftigen Rats sowie der Geltungsbereich der Rechtschreibregeln in Schule und Verwaltung, sagte Heidrun Strohmeyer laut einer Meldung der österreichischen Nachrichtenagentur APA. Über die Zukunft der Rechtschreibreform nach den jüngsten Entwicklungen habe man hingegen nicht gesprochen. Österreich stehe aber weiter zu den neuen Schreibregeln. An der Sitzung nahmen neben Strohmeyer unter anderen der Generalsekretär der deutschen Kultusministerkonferenz, Erich Thies, der Generalsekretär der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren, Hans Ambühl, und der Vorsitzende der Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung, Karl Blüml teil.

Am Sonntag hatten Reformgegner aus Deutschland, Österreich und der Schweiz in München einen unabhängigen „Rat für deutsche Rechtschreibung“ ausgerufen. Das Gremium, das sich für die Wiederherstellung der Schreibweisen vor der Reform einsetzen will, sprach den Kultusministern das Recht ab, „eine weitere Rechtschreibkommission zu berufen, deren einzige Aufgabe es sein kann, das offenkundige Scheitern der Rechtschreibreform hinauszuzögern“.

Text: FAZ.NET mit Material von AP

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Dominik Schumacher
23.08.2004 10.10
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faz.net Frankfurter Allgemeine Zeitung

23.08.2004, Nr. 195 / Seite 33

Rechtschreibreform
Geheimsache Deutsch
Von Hannes Hintermeier


Wer hat sich das mit der Majonäse ausgedacht?

22. August 2004 Er sei jetzt ein Jahr in Österreich gewesen und habe dort gelernt, was ein „scharfes s“ sei – nämlich das fälschlicherweise so bezeichnete Pendant des gemeinhin als „sz“ bekannten Buchstaben ß. Dies erklärte Dieter Nerius unlängst im Bayerischen Rundfunk.

Nerius war von 1975 bis 2001 Professor für germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Rostock, leitete von 1974 an die Forschungsgruppe Orthographie der Akademie der Wissenschaften zu Berlin und der Universität Rostock; er war von 1980 bis 1986 Mitglied des Internationalen Arbeitskreises für Orthographie, von 1993 bis 1997 zuerst Mitglied, später stellvertretender Vorsitzender der Kommission für Rechtschreibfragen des Instituts für Deutsche Sprache, Mannheim. Und er ist, man ahnt es, seit jenem Schicksalsjahr 1997 Mitglied der Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung, mithin einer der Väter der Reform.

Nerius glaubt fest an seine Berufung

Zeitlebens hat der knapp Siebzigjährige sich mit Fragen der Orthographie und Lexikologie beschäftigt, schon in seinen frühesten Publikationen unternahm er „Untersuchungen zur Herausbildung einer nationalen Norm der deutschen Literatursprache“ (1967); acht Jahre später legte er weitere „Untersuchungen zu einer Reform der deutschen Orthographie“ vor.

Dieter Nerius ist ein glühender Anhänger der Reform, ja ihr theoretischer Kopf: der Typ des Wissenschaftlers, der sein ganzes Berufsleben mit einem Thema zubringt. Der zu DDR-Zeiten dem Reisekader angehörende Orthographiefachmann ist fest davon überzeugt, daß nur der Staat die Kompetenz hat, die Sprache zu reformieren. Nerius glaubt fest an seine Berufung – auch wenn er in sieben Jahren Kommissionsarbeit vom „scharfen s“ noch nie etwas gehört hat.

Aufenthalt im akademischen Milieu

Die Kommissionsmitglieder verkörpern ein Spezialistentum, das sich als ungewöhnlich beratungsresistent erwiesen hat. Je stärker der Einspruch gegen die Details der Reform wurde, als desto unversöhnlicher, weil im Besitz der Reformhoheit, erwies sich das Gremium. Am Ende wollte es gar die totale Kontrolle (F.A.Z. vom 30. Januar) und nur noch alle fünf Jahre berichten.

Nun sind es germanistische Sprachwissenschaftler gewohnt, sich hinter den Reihen ihrer bibliographischen Befestigungsanlagen zu verschanzen. Öffentlichkeit meiden sie eher; sie bevorzugen den Aufenthalt im akademischen Milieu, wo sie Netzwerke und Zitierkartelle bilden. Dort, in den Schattenfugen germanistischer Zeitschriften, probten sie die Reform, lange bevor sie Wirklichkeit wurde.

Wer ist wer?

Wer Aufklärung im Internet sucht, wird auch auf der Homepage der Kommission kein vollständiges Bild erhalten. Ein Gruppenfoto zeigt die symbolträchtigen zwölf bei einer Art Klassentreffen, ohne Nachweis von Datum, Ort und Fotografen. Dem Vernehmen nach ist das Bild mehrere Jahre alt. Auf einer Treppe stehen, freundlich lächelnd, die Erfinder der neuen Rechtschreibung, 1986 eingesetzt von den Kultusministern der deutschsprachigen Länder. Wer ist wer?

Die Homepage bleibt die Aufklärung schuldig, offeriert aber kurze Lebensläufe, die immer erst dann einsetzen, wenn die jeweilige Biographie schon mitten in der Germanistik angelangt war. Zehn Männer und zwei Frauen, der Großteil, soweit auf der unvollständigen Homepage zu ermitteln, zwischen 1935 und 1948 geboren. Ein gut Teil davon Jahrgängen zurechenbar, die man als Achtundsechziger kennt, ein gut Teil heute in Amt und Würden ergraut. Sieben Deutsche aus Ost und West, drei Österreicher, zwei Schweizer.

Gerhard Augst und Karl Blüml

Gerhard Augst ist seit 1973 Professor für Germanistische Linguistik an der Universität-Gesamthochschule Siegen; sein Steckenpferd sind synchrone Etymologien beziehungsweise Volksetymologien; die Wissenschaft wollte seinen Herleitungen nicht folgen, weswegen sein „Wortfamilienwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache“ (1998) umstritten ist. Augst hat viel publiziert, rangiert aber nach Einschätzung von Fachkollegen im Mittelfeld. Er ist Mitarbeiter der Duden-Grammatik und einer der engagiertesten Vertreter der Reform. Schöpfungen wie „verbläuen“ oder „Zierrat“ gehen auf sein Konto.

Hofrat Karl Blüml ist ein Wiener Ministerialbeamter, der als derzeitiger Vorsitzender der Kommission die Klaviatur in Bürokratien zu spielen weiß. Fachlich weniger involviert, hat er sich in einem Zeitungsinterview auch schon mal aus dem Fenster gehängt und als Ziel der Reform die Entmachtung des Duden-Monopols genannt.

Dehn, Gallmann, Hauck und das ostdeutsche Dreiergespann

Über die Kompetenz in Rechtschreibfragen ist bei Mechthild Dehn wenig bekannt, da sie andere Felder beackert: Sie ist seit 1987 Professorin für Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der Universität Hamburg; in die Kommission rückte sie spät nach, sie gilt als Unterstützerin der Linie von Gerhard Augst.

Peter Gallmann war Korrektor der „Neuen Zürcher Zeitung“ und hat als Schüler von Horst Sitta schon an Sitzungen der Kommission teilgenommen, als er noch kein Mitglied war. Kollegen beschreiben ihn als dogmatisch und halsstarrig, aber auch als kreativ und wissenschaftlich potent: Der Duden-Autor ist für die größtmögliche Vermehrung der Großschreibung, „im Übrigen“ und „des Öfteren“ sind Neuerungen, für die Gallmann kämpft. Seit 2002 hat er einen Lehrstuhl für germanistische Sprachwissenschaft in Jena.

Werner Hauck leitet seit 1974 die Sektion Deutsch der Zentralen Sprachdienste der schweizerischen Bundeskanzlei, kommt also aus der Verwaltung und ist als Wissenschaftler nicht ausgewiesen. Klaus Heller bildet zusammen mit Dieter Nerius (dessen Mitarbeiter er war) und Dieter Herberg das ostdeutsche Dreiergespann. Seit seiner Dissertation beschäftigt er sich mit Fremdwortschreibung, zu DDR-Zeiten an der Ostberliner Akademie, später wurde er, wie viele andere auch, vom Institut für Deutsche Sprache in Mannheim (IDS) übernommen.

Experte in Fragen der Getrennt- und Zusammenschreibung

Der Sekretär der Kommission ist Autor des Hauses Bertelsmann. Dem Vernehmen nach fiel er weniger durch wissenschaftliche Brillanz als dadurch auf, daß er der freien Wirtschaft Seminare anbot, die Firmen auf die neue Rechtschreibung vorbereiten sollten. Auch Dieter Herberg kommt aus dem Stall von Nerius, auch er wirkt heute am IDS. Der hochspezialisierte DDR-Wissenschaftler gilt als ordentlich, aber unauffällig. Er ist Experte in Fragen der Getrennt- und Zusammenschreibung, deren neue Regelung besonders großen Unmut hervorruft.

Rudolf Hoberg lehrt seit 1974 in Mannheim germanistische Sprachwissenschaft, bekannter wurde er jedoch als Vorsitzender der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) in Wiesbaden, welche er gegen interne Widerstände auf eine Pro-Reform-Linie getrimmt hat; auch er ist Duden-Autor. Der Österreicher Richard Schrodt ist außerordentlicher Professor am Germanistischen Institut der Universität Wien, man hat ihn der Kommission empfohlen, weil er als glühender Reformverehrer galt; er ist nicht spezialisiert auf Fragen der Orthographie und zeigt in seinen Publikationen ein breiteres, auch historisch ausgerichtetes Themenspektrum.

Gegenspieler von Nerius

Der gebürtige Böhme Horst Sitta ist emeritierter Professor für Deutsche Sprache der Universität Zürich. Als Germanist ist er anerkannt, zu Fragen der Rechtschreibreform hat er nur wenig publiziert; er ist in der Kommission der Gegenspieler von Nerius, verfolgt aber im wirklichen Leben für den Duden-Verlag eine erfolgreiche Strategie der Besitzstandswahrung in der Schweiz.

Zusammen mit Peter Gallmann hat er mehrere Bücher zur neuen Schreibweise herausgebracht. Ulrike Steiner ist Redakteurin des Österreichischen Wörterbuchs, an dem auch Karl Blüml mitarbeitet. Dieses Wörterbuch zielt auf eine größere Abgrenzung des Österreichischen vom Hochdeutschen, in dem es Austriazismen kanonisiert. Frau Steiner ist das jüngste und am wenigsten beschriebene Blatt im Zwölferrat.

Zweckbündnis aufrechterhalten

Der langjährige Leiter der Duden-Redaktion Günther Drosdowski hat die Zustände in der deutschen Rechtschreibkommission in einem Brief an den Germanisten Theodor Ickler bereits im November 1996 festgehalten. Die Reformer, schreibt Drosdowski, „mißbrauchten die Reform schamlos, um sich Ansehen im Fach und in der Öffentlichkeit zu verschaffen, Eitelkeiten zu befriedigen und mit orthographischen Publikationen Geld zu verdienen. Selten habe ich erlebt, daß Menschen sich so ungeniert ausziehen und ihre fachlichen und charakterlichen Defizite zur Schau stellen.“

Die Kultusbürokratie, die diese Kommission einsetzte, sieht aus naheliegenden Gründen nicht ein, daß man einem Fluidum wie Sprache nicht mit dem germanistischen Schraubenschlüssel allein beikommt. Dazu hätte es feinerer Instrumente bedurft, als sie Politik und generative Grammatik zur Verfügung stellen. Aber beide schützten einander über die Jahre und hielten ihr Zweckbündnis noch aufrecht, als sich längst abzeichnete, daß der Auftrag „Vereinheitlichung und Vereinfachung“ gescheitert war.

„Einige wenige Personen“

Im Chor der Politikerstimmen, der sich seit kurzem erhebt, waren vereinzelt auch Kommissionsmitglieder zu vernehmen. Im „Tagesspiegel“ etwa brachte Gerhard Augst gleich schwere Geschütze in Stellung: Er glaube nicht, daß die Rechtschreibung das eigentliche Thema sei, man wolle „vielmehr den ganzen Unwillen gegen die anstehenden Sozialreformen auf der Rechtschreibung symbolisch abladen“.

Und Klaus Heller sattelte in der „taz“ noch drauf: Nur „einige wenige Personen“ versuchten aufgrund ihrer publizistischen Macht, „einen demokratischen Prozeß auszuhebeln, der über Jahrzehnte in vielen Ländern durch viele wissenschaftliche, politische und andere gesellschaftliche Gremien gestaltet worden ist“.

Es war nicht gut, daß die Kommission so lange die Deckung gesucht hat, aber es wird nun immer deutlicher, daß sie dies mit guten Gründen tat. Nun, auf dem Scherbenhaufen und kurz bevor im Herbst ein Rat für die deutsche Rechtschreibung die Aufräumarbeiten übernehmen soll, zeigt sich vollends, auf welch fragwürdigen Prämissen sie ihr Regelwerk gründete.

Bislang war stets zu hören, daß der künftige Rat für Rechtschreibung im Kern aus den Mitgliedern ebenjener Kommission bestehen soll, die er ablöst, weil ihr Scheitern sogar von den energischsten Verteidigern nicht länger abgestritten werden kann. Unglaublich? Ja, aber nicht unglaublicher als die Vorgeschichte der Kommission.

Heute trifft sich in Wien die Zwischenstaatliche Kommission für die deutsche Rechtschreibung zur Krisensitzung. Obwohl das Gremium die Verantwortung für das Scheitern der Reform trägt, ist es seinen Mitgliedern bisher gelungen, fast vollständig im Hintergrund zu bleiben. Kaum jemand kennt die Namen der Experten, die das mißlungene Regelwerk ausgeheckt haben. Auch in Wien wird wieder hinter verschlossenen Türen getagt. Wir haben sie einen Spalt geöffnet.

Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.08.2004, Nr. 195 / Seite 33
Bildmaterial: dpa

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Dominik Schumacher
22.08.2004 21.25
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faz.net Frankfurter Allgemeine Zeitung

Rechtschreibreform
„Sprache gehört dem Volk

22. August 2004 Einen unabhängigen „Rat für deutsche Rechtschreibung“ haben Bürger aus Deutschland, Österreich und der Schweiz am Wochenende in München gegründet. Das als Verein konstituierte Gremium will dem erklärten Willen der Bevölkerungsmehrheit entsprechen und sich für die Wiederherstellung der einheitlichen Rechtschreibung einsetzen, wie sie vor der Rechtschreibreform üblich war.

Die Gründungsversammlung sprach den Kultusministern das Recht ab, „eine weitere Rechtschreibkommission zu berufen, deren einzige Aufgabe es sein kann, das offenkundige Scheitern der Rechtschreibreform hinauszuzögern“.

Vernünftigster Weg

Die Rückkehr zur bewährten Schreibung, die allen, auch den Schülern nach wie vor bekannt sei, sei der einfachste, sicherste und wirtschaftlich vernünftigste Weg zu einer zweckmäßigen und modernen Orthographie. „Nur so werden die Kultusminister auch ihrer Verantwortung gegenüber den heutigen und künftigen Schülern gerecht“, schreiben die Gründungsmitglieder.

Zum Vorsitzenden des unabhängigen „Rates für deutsche Rechtschreibung“ wurde der Journalist Hans Krieger gewählt; seine Stellvertreter sind Gerhard Ruiss, der Geschäftsführer der IG Autoren in Wien, und der Schweizer Gymnasiallehrer Stefan Stirnemann. Zu den Gründungsmitgliedern gehören außerdem der Weilheimer Deutschlehrer Friedrich Denk, der Verleger Walter Lachenmann, der Konstanzer Rechtswissenschaftler Bernd Rüthers und der Münchner Rechtsanwalt und Lektoratsleiter Johannes Wasmuth.

Erste Ehrenmitglieder sind der Erlanger Sprachwissenschaftler Theodor Ickler, der Schweizer Verleger Egon Ammann, der frühere Generaldirektor der Bayerischen Staatlichen Bibliotheken Eberhard Dünninger und der Mainzer Sprachwissenschaftler Wilhelm Veith. Unter den Schrifstellern zählen Günter Kunert und Reiner Kunze sowie Wulf Kirsten und Elfriede Jelinek zu den Ehrenmitgliedern, außerdem der Münchner Didaktiker Karl Stocker und der Münchner Buchwissenschaftler Reinhard Wittmann.

Das Gremium wolle dem Grundsatz Geltung verschaffen, daß die Sprache dem Volk gehöre und die orthographische Selbstregulierung zurückgewinnen, heißt es in der Gründungserklärung.

Kein Krisentreffen

Am Montag treffen sich in Wien der Generalsekretär der Kultusministerkonferenz, Erich Thies, und die Vertreter Österreichs und der Schweiz, um über die Zusammensetzung des vereinbarten „Rates für deutsche Rechtschreibung“ zu beraten, der die sogenannte Zwischenstaatliche Kommission ablösen soll. Angeblich soll jedoch der Kern der Zwischenstaatlichen Kommission, welche die Rechtschreibreform zu verantworten hat, auch in dem neu zu gründenden staatlichen „Rat für deutsche Rechtschreibung“ mitarbeiten.

Über die genaue Zusammensetzung wollen die Kultusminister eigentlich im Oktober entscheiden. Das Treffen in Wien war bereits vor der derzeitigen Diskussion um die Rechtschreibreform vereinbart worden. Von einem Krisentreffen, wie verschiedentlich berichtet, kann nicht die Rede sein. Auch sind öffentliche Stellungnahmen der leitenden Beamten aus den drei Ländern nicht zu erwarten.

Text: oll. Frankfurter Allgemeine Zeitung

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Norbert Lindenthal
20.08.2004 19.36
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faz.net Frankfurter Allgemeine Zeitung

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.08.2004, Nr. 194 / Seite 35 Bildmaterial: dpa

Rechtschreibung
Auch ohne Reform: Österreich hat ganz eigene Sprachprobleme

Von Erna Lackner

20. August 2004 Wenn Rechtschreibung etwas zu essen wäre, wenn ein Wort bei orthographischer Veränderung anders schmeckte, dann hätte es in Österreich keine Rechtschreibreform geben können. Denn wenn es ums Kulinarische geht, sind Österreicher äußerst heikel, auf ihre Eigenarten bedacht – und sprachbewußt.


Rechtschreibreform?
Halb so schlimm. Beim Essen sind die Österreicher heikel

Sogar eine von der Europäischen Union anerkannte Liste mit dreiundzwanzig spezifisch österreichischen Wörtern gibt es, die den Eßgenuß schon mal verbal absichern sollen: Beiried (Roastbeef), Fisolen (grüne Bohnen), Kren (Meerrettich), Lungenbraten (Filet), Paradeiser (Tomaten), Ribisel (Johannisbeeren), Topfen (Quark), Vogerlsalat (Feldsalat). Und als im Vorjahr eine EU-Regelung den gebräuchlichen Ausdruck Marmelade auf Supermarktwaren durch Konfitüre ersetzen wollte, rief die „Kronen Zeitung“ zum Aufstand auf, und Österreichs Politiker hatten sich in Brüssel stark zu machen. Mit Erfolg: Österreich behielt seine Marmelade.

Rechtschreibregeln munden nicht richtig

Gemäß dem Satz, man ist, was man ißt, verteidigt Österreich sein kulinarisches Kapital bis aufs Messer. Hingegen wird die jetzt in Deutschland geführte Diskussion um die Rechtschreibreform in den österreichischen Medien grosso modo eher als eine typisch deutsche und wenig bedeutende Beckmesserei abgehandelt. Daß die Schwerpunkte der deutschen und der österreichischen Kultur unterschiedlich sind, sprach schon vor fünfzig Jahren Heimito von Doderer in den „Dämonen“ an, als er den Bankdirektor Altschul sagen ließ: „In Deutschland, besonders in Westdeutschland, woher ich stamme, wie Sie wissen, ist man sich weit mehr im klaren darüber, wie hier, daß Bücher, wenn ich so sagen darf, Lebensmittel sind.“

Weil Rechtschreibregeln so oder so, also ohnehin nicht richtig munden, ging die Reform in Österreich von Anfang an geschmeidig und ohne größeres Aufbegehren über die Bühne. Und auch zum frühestmöglichen Zeitpunkt. Schon im Herbst 1996, zwei Monate nach der „Wiener Erklärung“ am 1. Juli 1996, bei der sich die Kulturpolitiker der deutschsprachigen Länder auf einen Zeitplan einigten und sich verpflichteten, die neue Orthographie von 1998 an einzuführen, wurde an Österreichs Schulen mit der neuen Rechtschreibung begonnen: wenn schon, denn schon.

Was liegt, das pickt

Österreichs Lehrer gingen also wie Musterschüler voran – so daß „unsere Schüler“ heute, wie ministerielle Obrigkeiten in diesen Tagen gern betonen, schon acht Jahre problemlos nach den neuen Regeln schreiben. Soll heißen: Umkehr ausgeschlossen. In dem konservativen Land, das gleichwohl oder gerade deswegen punktuelle Modernitätsschübe braucht, um jung und zeitgemäß dazustehen, waren die anfangs gegen die Reform protestierenden Schriftsteller und altmodischen Bildungsbürger rasch auf verlorenem Posten. Auch die Zeitungen stellten, mit Ausnahme der bis vor einem Jahr widerständigen, aber dann doch umschwenkenden „Presse“, ihre Korrektorate und Rechtschreibprogramme rasch um, um nicht alt auszusehen.

Inzwischen ist zwar auch vielen Meinungsmachern ein Licht aufgegangen, daß es doch um mehr geht als um die Wahl zwischen „ss“ und "ß", daß man sich von ehrgeizigen Ministerialbürokraten und im Grunde desinteressierten Politikern hat über den Tisch ziehen lassen. Aber nun müssen „die armen Schüler“ als Hauptargument herhalten, damit man auf dem einmal eingeschlagenen, nun also bequemeren Weg bleiben kann und die Reform, ob recht oder schlecht, nicht zurücknehmen muß – ganz nach der Kartenspielregel: „Was liegt, das pickt!“

Auf dem diffamierenden, unsachlichen Niveau angekommen

Mit ihrem blitzschnellen Hinweis auf die drohenden Kosten bei einer Rückkehr zur bewährten Rechtschreibung zeigten sich die Schulbuchverleger als Pragmatiker, womit sie den theoretisch argumentierenden Reformgegnern den letzten praktischen Mut abgraben, für ihre Sache einzustehen. „In Deutschland nimmt man die Reform wichtiger, als es sein müßte, und macht eine Frage der Nation daraus. Zum Glück herrscht in Österreich in dieser Angelegenheit die Vernunft“, sagte einer der Schulbuchverleger, die mit Gratisschulbüchern (seit drei Jahrzehnten trägt der Staat die Kosten) ihr Geschäft machen.

Und fast alle Zeitungen, bis auf die „Kronen Zeitung“, die letzte Woche entsprechend der Mehrheit der Österreicher „Schluß mit neuer Rechtschreibung“ forderte, aber selbst vorläufig nicht zur Tat zu schreiten scheint, lassen in ihren Meinungsbeiträgen hoch die neuen Fahnen wehen, bespötteln die deutsche Debatte als Sommerlochgeschichte oder als das Anliegen älterer Herren, die nicht mehr umlernen möchten – womit man auf jenem persönlich diffamierenden, unsachlichen und emotionalen Niveau angekommen ist, das österreichischen Politikern stets als Unkultur vorgeworfen wird.

Er hat offenbar nicht vor, wichtige Autoren ernstzunehmen

Zwar gibt es einige Meinungsumfragen, deren Zahlen alle auf eine mehr oder weniger große Mehrheit von Befürwortern der alten Rechtschreibung hinweisen, doch die Medien des Landes wissen nur zu gut, daß Rechtschreibung kein angstbesetztes Thema ist, mit dem sich eine Anti-Atom- oder eine Anti-Gentechnik-Bewegung starten ließe. Sie wissen auch, daß ihr Einfluß auf die Politiker nicht groß genug ist, um eine Umkehr durchzusetzen, zumal der wirklich entscheidende Medienfaktor Österreichs, die öffentlich-rechtliche Fernsehanstalt ORF, naturgemäß kein Interesse an dem Thema hat.

Das Wochenmagazin „profil“ machte den „Krieg um die Rechtschraibung“ zum Titel und tat darunter mit der Frage „Zurück zu den schlechten alten Regeln?“ deutlich seine Meinung kund. Im Heftinnern erklärt Karl Blüml, der österreichische Vorsitzende der sogenannten Zwischenstaatlichen Rechtschreibkommission, daß die sachlich veranlagten Wissenschaftler nicht mit den Emotionen zum Thema konkurrieren könnten und wollten, um die emotionalen Reaktionen dann doch psychologisch auszuführen: „Niemand läßt sich gern etwas wegnehmen, was er mühsam erworben hat. Irgendwie ist das so, als hätte man bis jetzt in seinem Leben alles falsch gemacht.“ Daß dies auch für die Kommissionsmitglieder gelten könnte, bleibt ungesagt. Der Wiener Schulinspektor, der seit 1973 Mitglied der österreichischen Neuregelungskommission ist, spricht von einem „Hornberger Schießen“, in dem die Medien ihre Macht ausspielten und pädagogisch nicht verantwortungsvoll vorgingen. Über den Schriftsteller Robert Menasse, der die neue Rechtschreibung als „rassistisch, neoliberal und reaktionär“ geißelte, kann sich der Reformer Blüml, der die Bildungsministerin und auch den Bundeskanzler hinter sich weiß, belustigt hinwegsetzen mit dem Ratschlag: „Vielleicht sollte Menasse mit Franzobel darüber sprechen?“ Er hat offenbar nicht vor, wichtige Autoren ernstzunehmen.

„Eine fast nahezu eigenständige Sprache“

Liest man das Rechtschreibmanifest einer Schriftstellergruppe um Christian Ide Hintze, Leiter einer Schule für Dichtung in Wien, in dem dringlich die Erweiterung der dreiundzwanzig österreichischen Wörter auf der schon erwähnten EU-Liste und "Österreichisches Deutsch“ als Staatssprache in der Verfassung gefordert wird, „in einem europäischen Kontext“, mit einer eigens zu kreierenden österreichischen Rechtschreibung, dann ist man auch als Literaturfreund irritiert ob der bunt chaotischen Aufmüpfigkeit. "Österreich muß nicht immer dem deutschen Weg folgen“, fordert Marlene Streeruwitz, die auch etwas dagegen hat, daß österreichische Asylwerber „deutsches Deutsch“ lernen müssen und dann doch österreichisch sprechen.

Auch Robert Schindel, der dazu auffordert, bei künftigen Rechtschreibreformen nicht mehr mitzumachen, bläst vollmundig in das kleinteilig differenzierte Horn: "Österreich ist ein souveräner Staat. Die Deutschen haben trotz Schnitzler und Kafka nicht begriffen, daß es ein österreichisches Deutsch gibt.“ In seinen Büchern (auf Schindels ausdrücklichen Wunsch bei Suhrkamp verlegt in der neuen Rechtschreibung) achte er darauf, daß österreichische Ausdrücke nicht korrigiert würden. „Was uns am meisten von unseren deutschen Nachbarn trennt, ist die gemeinsame Sprache“, sagte Karl Kraus, an den auch der „Extremschrammler“ Roland Neuwirth erinnert. „Wir sind einfach die ältere Nation“, sagt der Autor und Musiker und behauptet, Österreichisch sei eine „fast nahezu eigenständige Sprache“. Fast nahezu.

Aber doppelt hält doch besser. Bisher schätzten sich viele österreichische Schriftsteller glücklich, in einer Sprache, die hundert Millionen Menschen verstehen, zu veröffentlichen, und zwar in den großen deutschen Verlagen. (Den Österreichischen Bundesverlag und zahlreiche andere Verlage, auch einträgliche für Schulbücher, hat ja der österreichische Finanzminister erst vor einem Jahr an den deutschen Klett Verlag verkauft.) Und nun spricht ein Dramatikerkerl wie Peter Turrini davon, daß die österreichische Literatur mehr mit der marokkanischen zu tun habe als mit der deutschen Literatur! Die österreichische Debatte um die Rechtschreibreform ist ein fahrender Bummelzug, auf den begeistert und profilisierungstüchtig die patriotischen Sezessionisten aufspringen.

Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.08.2004, Nr. 194 / Seite 35
Bildmaterial: dpa

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Norbert Lindenthal
19.08.2004 23.21
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faz.net Frankfurter Allgemeine Zeitung

Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.07.2004, Nr. 171 / Seite 29
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Hüter der Sprache: Enzensberger

Rechtschreibreform
Hans Magnus Enzensberger: An unsere Vormünder

26. Juli 2004 In memoriam Johann Balhorn. Daß das schöne Wort Reform in Deutschland einen fauligen Mundgeruch angenommen hat, liegt nicht zuletzt an der Skrupellosigkeit einer Mafia, die sich vor Jahren in irgendwelchen Hinterzimmern zusammengerottet hat, um mit der deutschen Sprache gründlich aufzuräumen.


Funktionäre, Didaktiker und Agenten des Duden-Monopols waren es, die sich anmaßten, über die Rechtschreibung als geheime Kommandosache zu verfügen. Ein Kreis von Legasthenikern, der es zu Ministerämtern gebracht hat, deckt, vermutlich aus Größenwahn und Eitelkeit, diese Leute und möchte uns vorschreiben, wie wir uns auszudrücken haben. Dieser Klüngel, die Ku-Mi-Ko, ist kein Verfassungsorgan. Sie hat uns nichts zu sagen.

Das demokratische Medium

Wer sich als Herrscher über die Sprache aufspielt, hat nicht begriffen, daß es sich um das einzige Medium handelt, in dem die Demokratie schon immer geherrscht hat. Selbsternannte Autoritäten kann es da nicht geben. Was eine Sprachgemeinschaft akzeptiert und was sie ablehnt, darüber entscheiden Millionen.

Ein einfacher Test dürfte als Beweis genügen: Welche Idiome haben es zu Weltsprachen gebracht? Das Lateinische mit seinen zahllosen Flexionen; das Arabische, das nur die Konsonanten schreibt und es dem Leser überläßt, die Vokale zu ergänzen; das Französische mit seiner abwegigen Orthographie und das Englische mit seinem blühenden Chaos; nicht aber Sprachen, die über eine vernünftige Rechtschreibung verfügen, wie das Italienische und das Finnische.

Eine dreiste Lüge

Es ist eine dreiste Lüge, wenn die Sprachplaner behaupten, es ginge ihnen ja nur um die armen Schüler, die von den alten, ach so schwierigen Schreibweisen überfordert wären. Woher kommt es dann, daß diese bedauernswerten Geschöpfe überall auf der Welt, und zwar besonders in Deutschland, fast alle fließend Englisch sprechen und mühelos jeden Hit buchstabieren, der in den Charts auftaucht?

Autoren, Linguisten, Gelehrte aller Fakultäten haben seit Jahren die Idiotie dieser verordneten Reform decouvriert. Inhaltlich ist dazu nichts Neues mehr zu sagen. Politisch bemerkenswert ist jedoch die Unbelehrbarkeit der ministerialen Ignoranten und die Feigheit derer, die ihnen auf die servilste Art und Weise gehorchen.

Die Feigheit der Lehrer

Damit meine ich zum einen die Schullehrer. Sie sind allesamt praktisch unkündbar; selbst einen Narren oder einen Alkoholiker loszuwerden, verbietet das heilige Beamtenrecht. Gleichwohl halten sich sogar Pädagogen, die aus Erfahrung wissen, daß die Reform ihre Schüler schädigt, sklavisch an die unsinnigen Vorschriften von Amtsinhabern, die selber nicht imstande sind, einen vernünftigen deutschen Satz hervorzubringen.

Zweitens sind es Verleger und Redakteure, denen keine Bürokratie etwas vorschreiben kann, die sich, wider besseres Wissen, in vorauseilendem Gehorsam dieser deutschen Hanswurstiade gebeugt haben, statt sich an eine schlichte Maxime des Großen Kriminellen Vorsitzenden Mao Tse-tung zu halten: „Es kommt darauf an, wer den längeren Atem hat.“

Es ist überflüssig, sich weiter über die Ignoranz und die Präpotenz der Ku-Mi-Ko zu ereifern; es genügt, ihre Anweisungen zu ignorieren. Dazu ist keine besondere Zivilcourage erforderlich. Ein kleiner Vermerk auf jedem Manuskript, auf jeder Schulaufgabe genügt: „Nicht nach Duden!“ Es gibt Schriftsteller und Redaktionen, die, mit wachsendem Erfolg, nach dieser Regel verfahren.

Wer sich als Herrscher über die Sprache aufspielt, hat nicht begriffen, daß es sich um das einzige Medium handelt, in dem die Demokratie schon immer geherrscht hat.

Der Verfasser ist Schriftsteller. Widmungsträger Johann Balhorn d. J. (1528 bis 1603) war ein Lübecker Buchdrucker, in dessen Verlag 1586 das mittelalterliche „Lübische Recht“ in einer angeblich korrigierten Neuauflage erschien, die jedoch viele Fehler enthielt. Angeblich leitet sich von seinem Namen der Begriff „verballhornen“ her.

Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.07.2004, Nr. 171 / Seite 29
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