Rechtschreibung 1950 und 2005
Als Begründung für eine Rechtschreibreform ist nahezu gebetsmühlenartig der Wunsch nach Vereinfachung komplizierter Regeln ... (und) das Ziel, den Zugang zur Schriftkultur zu erleichtern, genannt worden. So stellt es auch Horst Haider Munske im Vorwort seines unlängst erschienenen Buches 'Die angebliche Rechtschreibreform' dar. Ich habe diese Begründung immer für einen fadenscheinigen Vorwand gehalten: Hinter gutmenschlicher Maske sollte das banale Anliegen der Reformer und ihrer Unterstützer verschleiert werden, mit wichtigtuerischem Hokuspokus die eigene Eitelkeit zu befriedigen und ganz nebenbei Geld zu verdienen. Natürlich hat es immer wieder Texte in fehlerhafter Rechtschreibung gegeben – hätte man sie aber deshalb ausgerechnet den halbwissenschaftlichen Didaktikern zum Fraß vorwerfen sollen, jener Zunft, die ihre Moden und Methoden schneller wechselt als andere ihre Unterwäsche? Genährt wurde meine Skepsis obendrein durch Erfahrungen mit Schreibern anderer Sprachen. Ich bekam z.B. Briefe aus England oder Italien, die nicht wenige Rechtschreibfehler enthielten. Schwierigkeiten mit der Orthographie waren und sind weiß Gott also keine Besonderheit des Deutschen.
Hat die normale deutsche Rechtschreibung die Sprachgemeinschaft aber wirklich so brisant vor die behaupteten Probleme gestellt? Gab es überhaupt ein orthographisches Tohuwabohu, das auch nur den Gedanken an eine Reform gerechtfertigt hätte? Mein ohnehin schon kräftiger Unglaube hat in diesen Tagen noch tiefere Wurzeln geschlagen.
Dazu muß ich zunächst kurz ausholen. Als Kind und Jugendlicher habe ich eine Zeitlang Ansichtskarten gesammelt, die ich später zu einer Sammlung vereinigte. Mit Photoecken brachte ich die Karten damals auf weiße DIN-A4-Blätter auf. Nach langen Jahren habe ich die Sammlung jetzt wieder einmal betrachtet und dabei mehrere Karten aus ihren Photoecken herausgenommen und gelesen.
Acht davon hatte einer meiner Onkel (Jahrgang 1931) 1950 und 1951 aus Frankreich und Spanien nach Hause geschickt und sich dabei keineswegs auf die Übermittlung herzlicher Urlaubsgrüße beschränkt. Obwohl der damals ganz junge Mann – fast noch ein Jugendlicher – die Volksschule mit vierzehn Jahren verlassen hatte, weisen die Karten nicht einen einzigen Rechtschreibfehler auf. Gleiches kann ich von den Karten seines vier Jahre älteren Bruders, meines Patenonkels, behaupten, der mir einige Karten von der Weltausstellung in Brüssel 1958 schickte. Der gleiche Schulabschluß und auch hier die gleiche orthographische Souveränität: nicht ein Fehler. Ich könnte noch mehrere mir bekannte Leute anführen, für welche die gleichen Voraussetzungen gelten, will mich aber mit einem Hinweis auf den Großvater meiner Frau beschränken. Der alte Herr ist im November 1910 geboren, hat von 1917 bis 1925 die Volksschule besucht und anschließend, wie damals üblich, ein Handwerk erlernt. Vor ein paar Jahren hat er sich aus Verärgerung noch einmal hingesetzt und einen längeren Brief geschrieben, den ich später zu Gesicht bekam. Auch dieses Schreiben des damals Neunzigjährigen war orthographisch tadellos – bis auf zwei einsame Kommafehler. Und über die durfte man doch wohl hochachtungsvoll hinwegsehen.
Ich weiß, meine Beobachtungen sind nicht repräsentativ. Sie beweisen aber, daß selbst Leute, die nur acht Jahre Volksschule absolviert hatten und dann in eine Lehre gegangen waren, die herkömmliche deutsche Rechtschreibung zu beherrschen wußten. Dafür liegen mir die angeführten und weitere Beispiele vor, die nicht aus der Welt zu disputieren sind. – –
Wechseln wir Zeit und Schauplatz. Im Februar 2005 erhielt ich die E-Mail eines Studenten, eines künftigen Hochschulabsolventen also: Hallo Herr Docktor, ich möchte sie fragen, wann ...
__________________
Heinz Erich Stiene
|