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Rechtschreibung für freie Menschen
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margel
14.01.2005 14.14
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Suchet, so werdet Ihr fündig

Augst hat einmal in einem Interview, das zu suchen sich lohnen würde, selbst „eingeräumt“, daß der Antrieb zu seinem Reformeifer aus der eigenen Schulzeit, sprich einem Versagenstrauma datiert. Die psychologischen Abgründe so mancher Reformbewegten harren noch der Durchleuchtung.

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Wolfgang Scheuermann
14.01.2005 13.26
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Das ist alles wahrscheinlich ...

... aber in meiner Vorstellung ist das Bild noch nicht vollständig.

Es kommen für mich – speziell bezüglich Augsten – noch mindestens zwei Elemente hinzu.

1. Es muß ein auslösendes Erlebnis gegeben haben.

Dieses Erlebnis (das wahrscheinlich kein einzelnes Ereignis war) datiere ich in die frühe Schulzeit. Der kleine G. hat in der Schule mit der Rechtschreibung traumatisierende Erfahrungen gesammelt: Vorstellungen, die sich ihm geradezu aufdrängten (z.B. Stange -> Stängel), wurden ohne jeden Sinn (so muß es ihm erschienen sein) zurechtgestutzt. (Daß er wider seine derart treffliche Vorstellung gezwungen wurde, „Stengel“ zu schreiben, hat er zeitlebens nicht verwunden.)

Ohne das Erlebnis solcher Kränkungen kann ich mir die Augst kennzeichnende Besessenheit nicht erklären.

2. Augst wird – auch vor sich selbst – abstreiten zu lügen.

Er sieht sich im Dienste einer höheren Wahrheit. Dazu muß er in überdurchschnittlicher Weise die Fähigkeit ausgebildet haben, Deviationen nachträglich wieder „einzunorden“. (Wenn der eigene Lebensfaden vom rechten Weg immer wieder abrupt abweicht, wird er in gewissen Zeitabschnitten einfach wieder straffgezogen – und alles paßt wieder bestens zusammen.)


(Dazu kommt – vergleicht man z.B. einmal Texte von Augst mit solchen von Ickler – ein klar erkennbarer Mangel an sprachlichem Vermögen, vielleicht – s. o. – der Ausgangspunkt vons Janze.)
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Dr. Wolfgang Scheuermann

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Karin Pfeiffer-Stolz
14.01.2005 12.23
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Fürsorglichkeit - ein Deckmantel der Macht

Von der Verlogenheit der Argumente

Unter dem Deckmantel der Fürsorglichkeit wird Macht ausgeübt. Die Verlogenheit der Argumente wird von den meisten Menschen wahrgenommen – allerdings mehr intuitiv als bewußt. Weil sie dafür keine Worte haben, können sie die Ursache ihres Unbehagens auch nicht orten: Die fühlbare Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit jedoch ist schwer zu ertragen. In der Folge schlagen sich die meisten auf die Seite der Mächtigen, werden zu Mitläufern. Damit weichen sie ihrem dumpf empfundenen seelischen Unbehagen aus. Wem die Zusammenhänge jedoch ins Bewußtsein dringen, dem verschließt sich diese Möglichkeit; der Wissende muß sich entscheiden, muß handeln.
Die Vorgänge um die Rechtschreibreform zeigen, wie einfach es ist, die Menschen zu manipulieren, selbst wenn es um ihr Eigenes geht, um die Sprache.

Der Anspruch der Mächtigen, seien es nun Politiker, Experten oder Funktionäre, ist nicht der Gedanke sozialer Fürsorglichkeit. Wäre das Handeln von altruistischen und empathischen Motiven bestimmt, könnten sie sich nicht derartig dreist in meine, in deine, in unser aller Angelegenheiten einmischen und Dinge ändern, die weder geändert werden sollten noch einer willkürlichen Veränderung im Sinne von Verbesserung zugänglich sind.

Der Leser möge sich einmal in das Denken eines potentiellen Rechtschreib- bzw. Sprachreformers einfühlen:
Unser Alphabet behagt Ihnen nicht. Vielleicht haben Sie in der Schule Probleme damit gehabt und verfallen auf den Gedanken, daß man die Zahl der Buchstaben verringern könnte. Sie stellen Ihr Konstrukt Ihrem Nachbarn vor, der aber nimmt Sie nicht ernst. Sie sind jedoch von dem Wahn besessen, Ihre Idee dem Nachbarn, allen Mitbewohnern Ihrer Stadt, Ihres Landes, ja der ganzen Sprachgemeinschaft aufzuzwingen. Warum wollen Sie das überhaupt? Aus Liebe zu den Menschen? Oder weil Sie sich für klüger halten alle anderen zusammen es sind? Warum also?
Wie können Sie nun Ihre persönliche Obsession gegen den Widerstand Ihrer Mitmenschen am besten in die Tat umsetzen? Zunächst müssen Sie Weggefährten ködern. Womit? Dann wird an einem „Aufklärungsprogramm“ für die Öffentlichkeit gearbeitet. Das ist Verkaufspsychologie vom Feinsten. Ideologien geben sich dafür gut her. Ideologien sind das Vehikel primitiver, persönlicher Machtgelüste. Also werden Strategien ausgearbeitet. Jetzt ist ein ganzer Kader beisammen, Weggefährten, die nicht mehr nach dem WARUM und WOZU fragen, sondern nur noch ein ZIEL verfolgen: zu gewinnen. Schlagworte verfestigen sich. Das Unternehmen verselbständigt sich, gewinnt eine Eigendynamik. Gewinnler und Mitläufer schließen sich an.
Daß bei alledem weder fürsorgliche noch ethische Motive im Vordergrund stehen können, wird deutlich, wenn man sich auf dieses Gedankenexperiment einläßt und es von Anfang bis Ende durchdenkt.

Wie vergewaltigt man seinen Nachbarn, seine Mitbewohner, ein Millionensprachvolk? Man tut so, als sei das Vorhaben dringend nötig, sozusagen unerläßliche Reparaturarbeiten an der kaputten deutschen Sprache, die Rettung des Abendlandes, der Schlüssel zum Schlaraffenland intellektueller Verheißungen.
Und worum geht es wirklich? Der Weltverbesserer ist immer verlogen. Er kämpft allein um Verwirklichung des persönlichen Machtanspruchs, den er sich selbst anmaßt. Für diesen Anspruch tut er alles. Neugier, Sehnsucht, Naivität, vorauseilender Gehorsam und treuherziger Glaube der „Beglückten“ verhelfen ihm dazu, sein Vorhaben sogar realisieren zu können – womit er möglicherweise gar nicht wirklich gerechnet hat, und was ihn deshalb überrascht. Hier wird die „Herzensrührung“ eines Professor Augst verständlich, für den es nach eigenen Aussagen ein bewegender Moment war, als sein „Kind“, die sogenannte Rechtschreibreform, aus der gesellschaftspolitischen Taufe gehoben wurde: Er war am Ziel seiner egomanischen Begehrlichkeiten angelangt.
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Karin Pfeiffer-Stolz

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Karin Pfeiffer-Stolz
28.12.2004 08.27
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Das ist kein Scherz, Herr Kukulies. Sogenannte „Lückentexte“ – oft ist nur ein einziges Wort einzufüllen, haben die Klassenzimmer fest im Griff. Ich nenne das Patchworkpädagogik. So wird heute an den Schulen „gearbeitet“. Kluge Kinder sind bei dieser „Lückenbüßerei“ völlig unterfordert und fühlen sich irgendwie auch verschaukelt: Das kann doch nicht einmal ein Kind ernstnehmen, oder?
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Karin Pfeiffer-Stolz

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Christoph Kukulies
28.12.2004 07.28
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Re: Das will ich mal beantworten

Zitat:
Ursprünglich eingetragen von margel
Lieber Herr Kukulies, die Unterstriche bedeuten, daß das arme Kind dort Blödsinn einetzen soll: „Lamm“ und „blau“. – Das nennt man Verführung Minderjähriger.

Nein, das kann ich nicht glauben. Sie scherzen. Ist das wirklich so gewesen? Mir waren beim Überfliegen des Textes nur diese Leerstellen aufgefallen und ich dachte, es handele sich um einen dieser typischen Übertragungsfehler von Star-Office in HTML und es hätte da etwas unterstrichenes gestanden.
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Christoph Kukulies

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margel
27.12.2004 20.14
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Das will ich mal beantworten

Lieber Herr Kukulies, die Unterstriche bedeuten, daß das arme Kind dort Blödsinn einetzen soll: „Lamm“ und „blau“. – Das nennt man Verführung Minderjähriger.

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Christoph Kukulies
27.12.2004 11.12
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Vortrag a.d. Bayr. Akademie der Schönen Künste 1997

Lieber Prof. Ickler,

haben Sie diesen schönen Vortrag – aktuell wie eh und je – in einer für einen Computerausdruck etwas besser geeigneten Form? Ich würde ihn heute abend bei unserem alljährlichen Familientreffen gerne meiner Cousine und ihrem Mann, beide Gymnasiallehrer im Fach Deutsch in Niedersachsen, übereichen. Auch meine Schwägerin, Deutschlehrerin in Bayern, bekommt eine Kopie.

Insbesondere kommt die Passage:

Betrachten Sie bitte den folgenden Auszug aus einem an bayerischen Gymnasien benutzten Übungsbuch:
„Beim Partizip belämmert sieht man gleich die Verwandtschaft mit dem aus menschlicher Sicht manchmal hilf- und ratlos wirkenden _________ an der Schreibung.
Weil das lateinische Wort für Menge Quantum heißt, schreibt man die Verkleinerungsform mit ´ä´.
Bei den Verben einbläuen und verbläuen wird auch durch die Schreibung mit ´äu´ der Zusammenhang mit der Farbe _______ deutlich.“


etwas unleserlich herüber (was bedeuten die Unterstriche?).
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Christoph Kukulies

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Max Nix
26.12.2004 21.06
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Macks 1

Max ist schneller Mensch.
Max schreibt „ß“.
Max liest „ß“ manchmal wie „ss“ nach Kurzvokal,
manchmal wie „s“, weil davor Langvokal.
Max denkt global.
Aber Max will: Enterbte rächen.


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Theodor Ickler
26.12.2004 18.44
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Rechtschreibung für freie Menschen

Schrift und Sinn: Rechtschreibung für freie Menschen

Vortrag in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste am 3. 6. 1997

Theodor Ickler



Als meine achtjährige Tochter im vergangenen Herbst ihren ersten Aufsatz in der dritten Klasse zurückbekam, war sie trotz der guten Note und der liebevollen Kommentierung durch ihre Lehrerin nicht recht zufrieden. Sie hatte geschrieben es tut mir sehr leid, und nun stellte sie fest, daß das kleine l mit grüner Tinte durchgestrichen und ein großes L darübergeschrieben war. So entsprach es einer Empfehlung des Kultusministeriums an die bayerischen Lehrer. Dieser „Fehler“ zählte zwar nicht, aber ein Fehler sollte es doch sein, und dies wollte dem Mädchen nicht recht einleuchten. Mit ihrem Unbehagen lag sie richtiger als ein gutes Dutzend ausgewachsener Fachleute, die uns neuerdings einreden wollen, leid sei ein Substantiv und müsse daher groß geschrieben werden. Bekanntlich ist leid hier ein altes Adjektiv. Früher konnte es auch gesteigert werden, wie man noch am erstarrten adverbialen Komparativ leider sieht. Mancher von uns hat wohl auch die Nibelungenzeile im Ohr, mit der die Erzählung von Kriemhilds leider nur zu wahrem Falkentraum schließt: Ir enkunde in dirre werlde leider nimmer geschehen.
Vielleicht glauben Sie, ich hätte mir hier ein Versehen der Reformer herausgepickt, wie es auch dem Gescheitesten einmal unterlaufen könne. Das trifft nicht zu – „so Leid es mir tut“ (auch hier soll man Leid jetzt groß schreiben, es sieht entzückend aus). Die ganze Reform ist von dieser Art, sie ist sprachwissenschaftlich unbelehrt, von A bis Z in skandalöser Weise mißraten.
Dies ist der Sachverhalt, von dem auch die Kritik an den undemokratischen, wahrscheinlich rechtswidrigen, jedenfalls überaus anstößigen Methoden der Durchsetzung ihren Ausgang nimmt. Wäre die Reform einigermaßen gelungen und würde sie die meisten von uns überzeugen, so hätte sich niemand über die Art ihrer Durchsetzung beschwert oder sich über die Kompetenzen der Kultusminister Gedanken gemacht, und es wäre nicht so weit gekommen, daß sich nun sogar der Deutsche Bundestag – hart am Rande einer Verfassungskrise – mit der deutschen Rechtschreibung befassen muß.
Obwohl die schlechte fachliche Qualität der geleisteten Arbeit inzwischen allgemein bekannt ist und sogar die Reformer selbst schon lange nicht mehr mit konkreten Beispielen aus ihrem Werk, sondern nur noch mit Terminzwängen, Kostengründen, vollendeten Tatsachen und „Pacta sunt servanda“ argumentieren, möchte ich Sie zunächst bitten, mit mir zusammen einen – wenn auch angewiderten – Blick auf die Neuregelung selbst zu werfen. (Eine umfassende Darstellung findet sich in meinem Buch „Die sogenannte Rechtschreibreform – ein Schildbürgerstreich“. Leibniz Verlag, St. Goar 1997. Dazu kommen zwei größere Aufsätze in „Sprachwissenschaft“ (Jg. 22, 1/1997: 45-100) und „Muttersprache“ (3/1997, im Druck).)
Bei der sogenannten Laut-Buchstaben-Zuordnung ändert sich einerseits fast nichts, andererseits sind die sichtbaren Auswirkungen hier am größten. Am auffälligsten ist natürlich die Ersetzung von ß durch ss überall dort, wo bisher für eine korrekte Schreibung der Schülervers ausreichte: „ss am Schluß bringt Verdruß". Diese Veränderung ist für mehr als 80% aller Neuschreibungen verantwortlich, und die Hälfte davon betrifft wiederum das Wörtchen daß/dass. Da die Unterscheidungsschreibung der Konjunktion dass entgegen den ursprünglichen Plänen und eigentlichen Absichten der Reformer glücklicherweise erhalten bleibt, werden manche Schüler auch weiterhin das und dass verwechseln, so daß hier auch keine Erleichterung stattfindet. Die Beseitigung des ß nach kurzem Vokal hat den Nachteil, daß ein willkommenes Grenzsignal verschwindet, man denke an Wörter wie Missstand, Messergebnis, deren Lesbarkeit merklich herabgesetzt sein wird. Das Allerkurioseste ist aber folgendes: Wir haben Grund zu der Vermutung, daß zwar die ganze Rechtschreibreform bald abgeblasen wird, daß aber ausgerechnet die Doppel-s-Schreibung uns erhalten bleibt, obwohl es sich hier um die bloße Auflösung einer stellungsbedingten Ligatur handelt, also keine orthographische, sondern eine typographische Maßnahme, die überhaupt nicht zum Auftrag der Rechtschreibreformer gehörte. (Diese Deutung wird durch eine verbreitete Auslegung des Urherberrechts (§ 46) bestätigt, wonach etwa in Schulbüchern eine typographische Veränderung der Originaltexte, gerade auch die Ersetzung von ß durch ss, ohne besondere Genehmigung zulässig ist, nicht aber ein Eingriff in die eigentliche Orthographie, z. B. in die Zeichensetzung oder die Getrennt- und Zusammenschreibung. Auf diesen Punkt komme ich noch einmal zurück.) Schon heute gibt es Zeitschriften, die behaupten, mit reformierter Rechtschreibung zu arbeiten, in Wirklichkeit aber außer der ss-Schreibung so gut wie gar nichts übernommen haben.
Übrigens würde selbst eine Reform, die nichts anderes vorsieht als die Ersetzung des ß durch die überaus liebliche Buchstabenkombination ss, die das Bild reformierter Texte schon heute völlig beherrscht und in Zukunft die eigentliche Signatur deutscher Texte werden soll, – selbst diese minimale Änderung würde bereits den Neudruck zahlloser Bücher, zumindest der Schulbücher und Wörterbücher erforderlich machen. Wie man hört, mußte im vergangenen Jahr eine bereits gedruckte Fibel wieder eingestampft werden, weil ein einziges Wort „falsch“ gedruckt war, nämlich naß.
Viel Heiterkeit haben die historisierenden und sogar volksetymologischen Neuschreibungen ausgelöst, die das jahrzehntelang gerittene Steckenpferd eines einzigen Reformers waren. Im Jahre 1992 war es seinen Kollegen noch gelungen, die Gemse vor solchen Attacken zu retten, zwei Jahre später nicht mehr, und nun soll sie als Gämse (mit ä) behände (ebenfalls mit ä, obwohl sie keine Hände hat) durchs Gebirge klettern. Wir sehen es und schnäuzen uns, und zwar mit ä. Denn nach Ansicht der Reformer putzen wir uns nicht die Nase, sondern die Schnauze. Natürlich kam gleich die Frage auf, warum die etymologische Neuschreibung nur ein halbes Dutzend Wörter ergreifen soll: Warum nur Stängel wegen Stange, aber nicht Spängler wegen Spange, Stämpel wegen stampfen und Hunderte von anderen Kandidaten? „Leider nicht durchsetzbar“, ist die Antwort, die der Reformer darauf zu geben pflegt (so auch gestern nachmittag im Rechtsausschuß des Bundestages).
Das Tollste sind natürlich jene Anpassungen, von denen die Reformer genau wissen, daß die betroffenen Wörter in Wirklichkeit überhaupt nicht miteinander verwandt sind, Tollpatsch nicht mit toll, Quäntchen nicht mit Quantum, einbläuen nicht mit blau usw. Solche volksetymologischen Schreibungen werden von ihrem Verfechter mit dem Demokratiegebot begründet: Nicht wie die Wörter wirklich zusammenhängen, sondern wie die Mehrheit der Bevölkerung angeblich glaubt, daß sie zusammengehören, so sollen sie geschrieben werden. (Gerhard Augst in ders. et al. (Hg.): Zur Neuregelung der deutschen Orthographie. Begründung und Kritik. Tübingen 1997: 124f.) Allerdings fehlt bisher noch ein Ansatz zu Volksabstimmungen, in denen diese Mehrheitsmeinung zu jedem einzelnen Wort festgestellt wird. Dann könnte sich übrigens herausstellen, daß die meisten Leute bei weismachen an weiß und bei grobschlächtig an schlecht denken. Die Rechtschreibung geriete in ständige Bewegung, und so würde sich auf merkwürdige Weise doch noch das Programm der emanzipatorischen Pädagogik aus den frühen siebziger Jahren erfüllen, die Schüler sollten an der Veränderbarkeit der Rechtschreibung zugleich die Veränderbarkeit der spätkapitalistischen Gesellschaft erkennen.
Während diese „Etymogeleien“ die Reform in den Augen anderer Wissenschaftler bloß etwas schrullig erscheinen lassen, richten sie in der Praxis der Schule schwere Verwüstungen an. Der sprachgeschichtliche Unsinn, den die Reformer gleichsam mit einem Augenzwinkern in ihr Regelwerk hineingeschrieben haben, kommt unten, wo es ums Lernen und Einüben geht, als lautere Wahrheit an. Betrachten Sie bitte den folgenden Auszug aus einem an bayerischen Gymnasien benutzten Übungsbuch:
„Beim Partizip belämmert sieht man gleich die Verwandtschaft mit dem aus menschlicher Sicht manchmal hilf- und ratlos wirkenden _________ an der Schreibung.
Weil das lateinische Wort für Menge Quantum heißt, schreibt man die Verkleinerungsform mit ´ä´.
Bei den Verben einbläuen und verbläuen wird auch durch die Schreibung mit ´äu´ der Zusammenhang mit der Farbe _______ deutlich.“
...
„Für die Schreibung deutscher Wörter spielt die sogenannte Stammschreibung eine große Rolle. Das bedeutet, dass derselbe Wortstamm in unterschiedlichen Wörtern auf eine möglichst gleiche Weise geschrieben wird. Beispiel: blau – einbläuen.“
(Häcker/Häcker-Oßwald: Neue Schreibung leicht gelernt. Klett Verlag Stuttgart 1996.)
Aber auch im amtlichen Regelwerk heißt es ohne warnenden Hinweis:
„Für den Diphthong [oY] schreibt man äu statt eu, wenn es eine Grundform mit au gibt. (...) verbläuen (wegen blau)". (§ 16)
Zierrat, so lernen die Schüler, wird mit zwei r geschrieben, wie Vorrat. Und das Bemerkenswerteste: Hier kennen die sonst so liberalen und variantenfreudigen Reformer auch kein Pardon: Jede andere Schreibweise soll unzulässig sein. Nur unter dem Schutz einer dogmatischen Festlegung hat der offenkundige Unsinn eine gewisse Überlebensaussicht.
Sobald die Neuschreibung verbindlich und versetzungsrelevant wird, erhebt sich die interessante Frage: Was soll ein Lehrer mit einem Schüler anfangen, der zufällig weiß, daß Zierat von Zier abgeleitet ist wie Heimat von Heim, und dieses Wort falsch, also richtig, also falsch schreibt ...? Dürfen Hochschullehrer der Germanistik überhaupt noch die wissenschaftliche Wahrheit lehren, oder müssen sie das Falsche, von der Staatsmacht jedoch für wahr Erklärte verkünden? – Das wird erst am Ende der Übergangszeit, also 2005 virulent, aber manche Juristen reiben sich schon heute die Hände.
Die Neuregelung tritt als „Erlaß" auf, wie Gerhard Augst mit Recht hervorhebt. (Gerhard Augst et al. (Hg.): Zur Neuregelung der deutschen Orthographie. Begründung und Kritik. Tübingen 1997: 128 u. ö. – Wann haben Germanisten in ihrem Elfenbeinturm schon einmal die Gelegenheit, einen Erlaß auszuarbeiten? Es sei ihnen gegönnt.) Der Staat kann ein gewisses praktisches Verhalten der Bürger auf dem Erlaßwege erzwingen, er kann aber nicht dekretieren, daß sie bestimmte Sätze für wahr halten. Solche Sätze sind im neuen Regelwerk enthalten, und zwar meist als Implikationen bestimmter Schreibvorschriften: leid, feind (todfeind, spinnefeind) und freund sollen Substantive sein, besorgniserregend und Zeitlang keine Zusammensetzungen mehr usw. – All dies ist nachweisbar falsch und kann nicht als Glaubenswahrheit verordnet werden.
Was die Eindeutschung von Fremdwörtern betrifft, so haben die Reformer hier fast nichts erreicht – außer einer forcierten Zusammenschreibung englischer Wörter wie Gingerale, Highsociety usw., die uns, bei unverändert fremder Aussprache, die Fremdwörter keine Spur vertrauter macht, sondern nur das Lesen erschwert. (Es war wohl auch nicht sehr geschickt, ausgerechnet mit Rytmus und ähnlichen Bildungsgütern zu beginnen, statt sich zunächst einmal so populären Gegenständen wie dem Poppkorn (nach wie vor Popcorn) zuzuwenden.) Ein Grund für diese Änderungen ist nicht zu erkennen, auch nicht dafür, daß es nur englische Wörter treffen soll.
In ihrer Dresdner Erklärung vom 25. Oktober 1996 haben die deutschen Kultusminister behauptet:
„Kein einziges deutsches Wort geht durch die Neuregelung der Rechtschreibung verloren.“
Daß dies nicht zutrifft, zeigt sich nirgendwo deutlicher als bei der neuen Getrennt- und Zusammenschreibung, die heute allgemein als der am schlimmsten mißlungene Teil der Reform angesehen wird.
Hier kommt es zunächst zur völlig willkürlichen Auseinanderreißung einiger – aber keineswegs aller – sogenannten „trennbar zusammengesetzten Verben“. Zwischen Kindern, die aneinander hängen, und solchen, die unglücklicherweise aneinanderhängen (als siamesische Zwillinge nämlich), wird nicht mehr unterschieden. Das ist sehr bedauerlich und vom Ansatz der Reform her kaum zu verstehen, denn ein solcher Unterschied ist ja gut hörbar, genügt also der Vorliebe der Reformer für formale Kriterien.
Mit Adjektiven, die auf -ig, -isch oder -lich enden, sollen keine Zusammensetzungen mehr gebildet werden. Eine Begründung dieser sonderbaren Regel sucht man vergebens, aber das Ergebnis ist, daß fertigstellen und heiligsprechen künftig getrennt geschrieben werden, bereitstellen und freisprechen aber wie bisher zusammen. Das ist nicht nachvollziehbar, aber noch schlimmer ist die regelrechte Vernichtung echter Komposita. Besorgniserregend und tiefschürfend und hundert andere Zusammensetzungen dieser Art sollen getrennt geschrieben werden, weil man ja auch sage: es erregt Besorgnis, er schürft tief. Aber Steigerungsformen wie sehr besorgniserregend und am tiefschürfendsten beweisen, daß es sich hier um echte Zusammensetzungen handelt. (Der Fehler beruht auf der Verkennung folgender – hier vereinfacht dargestellten – Tatsachen: Ein Partizip des Präsens ist einerseits eine Verbform und kann als solche eine Ergänzung regieren, aber nicht gesteigert werden; es ist andererseits ein Adjektiv und kann als solches gesteigert werden, aber dann entfällt die Rektion. Die Reformer vernachlässigen den adjektivischen Charakter und verkennen damit das Wesen der Zusammensetzung.) Geradezu aberwitzig wird es, wenn die zerhackten Komposita dann auch noch substantiviert werden: das bei weitem tief Schürfendste usw. – das ist wohl der Gipfel der Sprachverwirrung, zu der uns die Reform anstiften will. Die folgenden Beispiele aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung habe ich eigenhändig reformatorisch verhunzt:
Entwicklung immer weit reichenderer Enteignungspraktiken (F.A.Z. 4.11.1994)
die immer noch weit reichendste ästhetische Theorie des Jahrhunderts (F.A.Z. 8.8.1995)
Noch schwer wiegender ist das Fehlen von Trinkwasserversorgung und Kanalisation. (F.A.Z. 24.1.1994)
der angeblich schwer wiegendste Spionagefall (F.A.Z. 26.2.1994)
Wäre es hier nicht viel versprechender gewesen ... (F.A.Z. 7.1.1994)
eine der viel versprechendsten Änderungen (F.A.Z. 13.1.1994)
Sehen Sie sich bitte auch die folgenden, aus anderen Quellen stammenden Beispiele an, die ich der gleichen Prozedur unterworfen habe:
das bei weitem tief Schürfendste
noch Furcht einflößender
am Besorgnis erregendsten
(Der für diese neue Regelung verantwortliche Reformer behauptet neuerdings, mit der Substantivierung gehe auch die Zusammenschreibung einher, so daß es zwar adjektivisch Besorgnis erregend heiße, substantiviert jedoch das Besorgniserregende. Seine Mitreformer stellen jedoch zutreffend fest: „Bei Adjektiv- und Partizipgruppen wird nur das Adjektiv selbst substantiviert, die Getrennt- und Zusammenschreibung entspricht also derjenigen beim attributiven Gebrauch (Stellung vor einem Substantiv). Es entsteht also keine substantivische Zusammensetzung.“ (Gallmann/Sitta: Die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung. Mannheim 1996: 130) Übrigens würde die frei erfundene Sonderregel nicht einmal etwas retten, denn auch ohne Substantivierung ergibt sich Ungrammatisches: das Besorgnis erregendste Ereignis.)
Eine andere Art der Wortvernichtung treffen wir im Bereich der Groß- und Kleinschreibung. Über Leid tun habe ich anfangs schon gesprochen. Auch Not tun sollen wir künftig groß schreiben, wehtun allerdings nicht. Nehmen wir noch hinzu, daß die Erste Hilfe klein geschrieben werden soll, auch wenn keineswegs irgendeine beliebige erste Hilfe gemeint ist, sondern diejenige medizinische Versorgung, die ein Laie bis zum Eintreffen des Arztes leisten muß und die auch in verschiedenen Gesetzen eine Rolle spielt, – nehmen wir dies hinzu, dann ergibt sich die verblüffende Neuschreibung:
Hier tut erste Hilfe Not
statt bisher:
Hier tut Erste Hilfe not.
Die Neuschreibung ist vom Sinn her beinahe das Gegenteil dessen, was ein solcher Satz eigentlich ausdrücken soll. (Sogar Hilfe ist Not soll neuerdings geschrieben werden! Es ist wirklich kaum zu fassen.)
Die Reformer brüsten sich, sowohl bei der Getrenntschreibung als auch bei der Kleinschreibung gewissen Tendenzen der deutschen Schriftsprache „entgegenzuwirken“. Eine sonderbare Aufassung von den Aufgaben einer Rechtschreibreform. Die Tendenzen der deutschen Sprache sind schließlich Willensbekundungen der Sprecher und Schreiber. Ihnen entgegenwirken zu wollen ist ein anmaßendes Unterfangen, zu dem wohl nur eine staatliche Kommission in ihrer machtgeschützten Oberflächlichkeit imstande ist.
In unserem Fall kommt hinzu, daß die Reformer unbedingt etwas verändern wollten, auch wenn sie das zu Verändernde noch gar nicht verstanden haben. Ich möchte das am Beispiel der Groß- und Kleinschreibung erläutern.
Die Großschreibung der Substantive wird oft als alter Zopf des Deutschen, gar als „deutscher Sonderweg“ dargestellt, den man im Sinne einer Angleichung an die Nachbarsprachen schleunigst abschneiden sollte. In Wirklichkeit ist die Großschreibung ein hochmodernes Mittel der sinnbezogenen Textgestaltung. Wir schreiben ja die Substantive nicht um ihrer selbst willen groß, sondern wir kennzeichnen durch die Großschreibung dasjenige, wovon in einem Text die Rede ist, also den Redegegenstand oder, wie man sagen könnte, das „thematische Material“. Man hat eingewandt, die wichtigen Aussagen stünden oft gerade im Prädikat, im Verb, und würden klein geschrieben. Aber ich habe nicht gesagt, das Wichtige oder die Aussage werden groß geschrieben, sondern das, wovon die Rede ist. Daraus folgt die Großschreibung aller Eigennamen und dann auch der eigentlichen (prototypischen) Substantive. Sobald Substantive oder Substantivierungen in den grammatikalischen oder phraseologischen Hintergrund treten, werden sie klein geschrieben – Wortart hin, Wortart her. Es geht nicht um die Wortart, es geht um die Textsemantik.
Wenn ich sage: Man soll auch im Geringsten seinen Nächsten achten – dann spreche ich von einem sehr geringen Menschen und sage, daß man ihn als Mitmenschen behandeln soll. Wenn ich aber sage: Das gefällt mir nicht im geringsten – dann meine ich einfach „gar nicht“ und schreibe das „geringste“ klein. Ein Philosoph mag vom Allgemeinen sprechen, das ist dann das Thema seiner Rede und wird groß geschrieben. In der Floskel im allgemeinen schreibt man das Wort natürlich klein.
In allen diesen Fällen soll künftig groß geschrieben werden, damit kein Schüler mehr einen Fehler machen kann. Das zeigt den ganzen Unverstand: Der Sinn der Groß- und Kleinschreibung wird vollkommen verfehlt. Horst Haider Munske hat dazu geschrieben:
„Nach meiner Auffassung gewinnt in der Neuregelung der Groß- und Kleinschreibung die Rücksicht auf Schreiblerner die Oberhand vor der Beachtung möglichst differenzierter Informationen für den Leser. Hierin sehe ich einen Rückschritt gegenüber der Entwicklung deutscher Rechtschreibung seit dem 16. Jahrhundert, die in erster Linie leserbezogen war.“ (Horst H. Munske: Orthographie als Sprachkultur. Frankfurt 1997: 398)
Statt „leserbezogen“ kann man immer auch sagen „sinnbezogen“, denn Rücksicht auf den Leser ist Rücksicht auf den Sinn. Die Rechtschreibreform ist bedeutungsfeindlich und „sinn-los“. Die Reformer haben es etwas vornehmer ausgedrückt: Es sei einer der Grundsätze der Reform, „die Schreibung vom Transport semantischer Informationen zu entlasten“ (Deutsche Rechtschreibung. Vorschläge zu ihrer Neuregelung. Hg. vom Internationalen Arbeitskreis für Orthographie. Tübingen 1992: 147). Wir sehen also: Es wird ganz bewußt und vorsätzlich die „Sinn-losigkeit“ der Orthographie zum Programm ihrer Reform erhoben. Dem Schreibenden andererseits geht es ganz im Gegenteil um nichts anderes als den Sinn; kein Wunder, daß eine solche Reform für ihn wenig Anziehendes hat.
Auf die neue Zeichensetzung werde ich aus gegebenem Anlaß noch ausführlicher eingehen. Hier nur soviel: Man hat behauptet, die zweiundfünfzig Kommaregeln des Duden würden durch die Reform auf neun reduziert. Das ist doppelt irreführend, denn es hat nie zweiundfünfzig Kommaregeln gegeben, und die neun Paragraphen der Neuregelung sind bis zu drei DIN-A-4-Seiten lang und umfassen eine unüberschaubare Menge von Unterregeln. Trotzdem ist die Neuregelung so unbefriedigend, daß einer der besten Kenner unter den Reformern selbst dargelegt hat, für die Schule möge das ausreichen, aber der professionelle Schreiber solle zur bewährten Dudenregelung zurückkehren, die man allerdings etwas übersichtlicher darstellen könne. Wir werden sehen, daß die neue Kommaregelung in ihren schlimmen Auswirkungen allenfalls noch mit der gewaltsamen Getrenntschreibung verglichen werden kann. Schrulliges findet sich auch hier, vor allem das pedantische neue Komma nach wörtlicher Rede, die bereits mit einem Satzschlußzeichen und Anführungszeichen schließt:
„So?“, fragte sie.
Pädagogen sind sich jetzt schon sicher, daß die Schüler dieses völlig überflüssige Komma, das bisher noch niemand vermißt hat, vergessen werden – eine neue Fehlerquelle.
Vielleicht sollte ich aber doch an dieser Stelle etwas zum neuen Mythos von der Verringerung der Kommafehler sagen. Wer ihm Glauben schenkt, kennt die Abgründe des Paragraphen 77 noch nicht. Die folgenden Schreibweisen sind künftig korrekt:
Sein größter Wunsch ist es, eine Familie zu gründen. (§77 [5])
Sein größter Wunsch ist eine Familie zu gründen.
Er beabsichtigt eine Familie zu gründen.
Er schafft es nicht, eine Familie zu gründen.
Es kam ihm der Gedanke eine Familie zu gründen.
Er hat keine Lust mehr eine Familie zu gründen.
Er hat es satt, eine Familie zu gründen.
Wer hieraus den jeweiligen Grund der Kommasetzung bzw. -nichtsetzung erschließen kann, verdient größte Hochachtung. Es geht, kurz gesagt, darum, ob der übergeordnete Satz ein „hinweisendes Wort oder eine hinweisende Wortgruppe“ enthält, die das Infinitivgefüge ankündigt. Das Ganze ist irrigerweise auch noch unter „Einschübe und Nachträge“ subsumiert, was ich aber nicht weiter kommentieren möchte. Die besondere Schwierigkeit besteht einerseits darin, daß das Wörtchen es zu den hinweisenden Wörtern gezählt wird und daß es andererseits mindestens vier verschiedene Arten von es gibt, von denen aber nur ein einziges – das sogenannte Vorgreifer-es – in Betracht kommt. Im ersten und im vierten Satz ist das es ein solcher Vorgreifer, im fünften aber nicht. Hier liegt vielmehr ein „vorfeldfüllendes es“ vor. (Man erkennt es u.a. daran, daß es bei einer Umkehrung der Wortfolge verschwindet: Ihm kam der Gedanke ... Mit grammatischen Tests läßt sich übrigens auch beweisen, daß das Vorgreifer-es nicht zur selben Kategorie gehört wie die korrelativen Pronominaladverbien darauf, daran usw.) Deshalb steht hier kein Komma. Außerdem ist befremdlich, daß die Wortgruppen der Gedanke und keine Lust nicht als solche Ankündigungen betrachtet werden sollen, obwohl sie das der Funktion nach gewiß sind. Von alldem steht übrigens kein Sterbenswörtchen im Regelwerk, ich habe es nur aus den Beispielen erschlossen. Dies mag genügen, um die außerordentlichen Anforderungen zu verdeutlichen, die eine ebenso falsche wie komplizierte Neuregelung den Schülern und den Lehrern abverlangt.
Bei der Silbentrennung führt die neue Abtrennbarkeit einzelner Vokale zusammen mit der neuen Nichttrennbarkeit von ck zu wahrhaft pittoresken Ergebnissen, die aber in einer offiziösen Darstellung wie dem bayerischen „Elternbrief“ als besondere Errungenschaften angepriesen werden:
Beim letzten A-
bendessen hus-
tete unser Da-
ckel in der E-
cke vom Zimmer.
Darauf hätten wir gern noch ein Weilchen verzichten können, und mehr will ich dazu auch nicht sagen. (Das ck hat weder den Status einer Behelfsschreibung wie ch (lachen) noch den einer Luxusschreibung wie th (Theater), sondern ist als Ligatur (= kk) zu werten; das steht übrigens in § 3 der Neuregelung.)
Wahrscheinlich fragen Sie sich schon lange: Was ist der Sinn dieser Veränderungen? Wo liegt der Vorteil?
Der Vorteil liegt darin, daß alle Bücher neu gedruckt werden müssen.
Aber vom Geld wollen wir später noch reden.
Zur Beschwichtigung der Kritiker wird oft betont:
„Das Regelwerk ist die Grundlage für die Rechtschreibung in denjenigen Einrichtungen, in denen der Staat berechtigt ist, die äußere Form von Schriftstücken zu bestimmen. Das sind die Schule und die Verwaltung.“ (Peter Gallmann/Horst Sitta: Handbuch Rechtschreiben. Zürich 1996: 19)
Darüber hinaus könne wie bisher jeder schreiben, wie er will. Das widerspricht aller Erfahrung. Minister Zehetmair hat mit Recht gesagt, die Reform lege fest, wie das deutsche Volk schreibt.
Der Staat interessiert sich nicht für „die äußere Form von Schriftstücken in der Schule“. Er will vielmehr sicherstellen, daß die Kinder dort lernen, wie man schreibt. Das ist ja der Grund, warum wir unsere Kinder überhaupt in die Schule schicken, daß sie dort lernen, sich so zu verhalten, wie man sich außerhalb der Schule, im sogenannten „Leben“ verhält. (Dasselbe ließe sich auf lateinisch sagen, aber auf deutsch geht´s auch.)
Wie man Grußformeln in Privatbriefen schreibt, interessiert den Staat nicht, und ob man die Briefanrede du groß schreibt oder klein, geht den Staat nichts an. Indem er die Schüler anweist und üben läßt, das Du in Briefen klein zu schreiben, und sie dafür bestraft, daß sie es groß schreiben, versucht er, den Schreibbrauch der gesamten Gesellschaft zu verändern und wird es selbstverständlich erreichen.
Bei einer vergleichbaren Gelegenheit erklärte der liberale Abgeordnete Stephani 1880 im Reichstag:
„Die Schule soll den Schülern das, was in den gebildeten Kreisen des Volkes zur festen Gewohnheit in Bezug auf Rechtschreibung geworden ist, als Regel beibringen; nicht aber soll die Schule selbst vorangehen, indem die Schulen das Volk zwingen wollen, eine neue Gewohnheit der Rechtschreibung anzunehmen.“
Diesen Satz sollten sich die Rechtschreibreformer übers Bett hängen. Der Staat kann und muß sich um den Rechtschreibunterricht und um die Benotung von Rechtschreibleistungen kümmern, aber nicht um die Rechtschreibordnung selbst. Die ist unsere Sache. Wenn wir Erwachsenen einmal meinen sollten, wir brauchten eine neue Rechtschreibung, dann werden wir uns eine schaffen, und dann mag die Schule nachziehen und sie den Kindern beibringen.
Alle Entwürfe unserer Reformermannschaft – es waren über die Jahre hin immer dieselben Personen – zeichnen sich durch einen Mangel an Respekt für das historisch Gewachsene aus, das ja nicht bloß deshalb Respekt verdient, weil es das Althergebrachte ist, sondern weil es das Ergebnis unablässiger gemeinsamer Anstrengung ist, die Schrift zum Ausdruck des Gedankens fähig zu machen. Den konstruktivistischen Übermut der Reformer will ich an drei Beispielen verdeutlichen.
Das kürzeste und komischste zuerst:
Nachdem es ihnen nicht gelungen war, Bot und Al einzuführen, wollten sie noch vor wenigen Jahren in kindischem Trotz wenigsten durchsetzen, daß die Verkleinerungsformen Böötchen und Äälchen geschrieben werden. Die krasse Abweichung vom Gewohnten, der absolute Mangel an Handlungsbedarf focht sie nicht an. Schon dieser abstruse Einfall hätte genügen sollen, solchen Experten wegen erwiesener Unseriosität den Auftrag zur Neugestaltung der deutschen Orthographie zu entziehen. (Wohlgemerkt: Es ist nicht an sich abstrus, Bot und Böötchen zu schreiben. Man hat es früher getan. Der Usus hat sich anders entwickelt, und vor ihm muß sich jede Neuerung durch gute Gründe rechtfertigen.)
Der Reformentwurf von 1992, der einzige, der je einer – wenn auch etwas dubiosen – Expertenanhörung ausgesetzt wurde, sah noch ganz anders aus als das, was uns heute aufgedrängt werden soll. Zum Beispiel waren damals alle Reformer der Meinung, die Unterscheidung zwischen das und daß sollte zugunsten der Einheitsschreibung das aufgehoben werden. Diesen Plan mußten die Reformer zwar aufgeben, aber die meisten von ihnen halten ihn heute noch für die beste Lösung eines Problems, das ein typisches Anfängerproblem ist. Sie berufen sich wieder und wieder auf eine Ostberliner Dissertation von 1983, in der nachgewiesen wurde, daß halbwüchsige Schüler mit der Einheitsschreibung das weniger Fehler machen und in ihren Leseleistungen nur unwesentlich beeinträchtigt sind. Ich will das Für und Wider in dieser Frage gar nicht erörtern, vielmehr erwähne ich diesen Fall nur, um auf die Geistesart der Reformer aufmerksam zu machen, die es tatsächlich wagen, eine einzige Doktorarbeit, die ja ganz tüchtig sein mag, in Stellung zu bringen gegen den 600 Jahre lang und in Millionen von Texten von Millionen Schreibenden immer wieder, zuerst zögernd und ungleichmäßig, in den letzten 250 Jahren aber vollkommen unnachgiebig bekundeten Willen, just diese Unterscheidungsschreibung durchzuführen.
Eine ähnliche Anmaßung enthält der jetzt vorliegende Entwurf, dem die Politiker, die sich für zuständig halten, ihren Segen schon erteilt haben. Das Du in Briefen soll, wie angedeutet, künftig klein geschrieben werden. In der weitverbreiteten Dudenbroschüre vom Dezember 1994 heißt es dazu:
„Duzt man jemanden, so besteht kein Anlaß, durch Großschreibung besondere Ehrerbietung zu bezeugen.“
Im Duden-Taschenbuch schreiben dieselben Reformer:
„Dieses Pronomen (du) drückt Vertrautheit aus, die Anwendung der Großschreibung für die distanziert-höfliche Anrede ist daher nicht angemessen.“
Darauf ist zunächst zu erwidern: Das geht die Rechtschreibkommission nichts an! Dann aber ist dieser Fall gut geeignet, den Reformern auf die Schliche zu kommen. Schreibe ich an einen guten Freund, so bin ich natürlich von „Ehrerbietung“ weit entfernt; „distanziert-höflich“ will ich auch nicht sein, einfach höflich aber schon. (Übrigens gibt es oft die vertrautesten Beziehungen zwischen Freunden, die gleichwohl zeitlebens beim Sie bleiben.) Dies scheint aber die Vorstellungskraft der Reformer zu übersteigen, die es wohl lieber grob und herzlich hätten. Außerdem läuft die zitierte Behauptung auf die erschütternde Einsicht hinaus, daß wir selbst und unsere Vorfahren bis hinauf zu den Urururgroßeltern uns bisher in Briefen nicht angemessen ausgedrückt haben, wir waren sozusagen aus Versehen ehrerbietig – und keiner hat es bemerkt!
Die beherrschende Frage auf allen Orthographie-Konferenzen war immer: Was ist „durchsetzbar“? Denn die meisten Leute meckern zwar über den Duden, wollen aber im Grunde keine Neuregelung, vor allem dann nicht, wenn sie bloß ändert, ohne zu verbessern. Um ihre Reform dennoch durchzusetzen, haben die Reformwilligen eine Doppelstrategie gewählt: Erst einmal möglichst wenig vom Inhalt der geplanten Änderungen an die Öffentlichkeit dringen lassen, dann aber blitzartig und mit Hilfe der Staatsmacht vollendete Tatsachen schaffen, die eine Rücknahme der Reform untunlich und allzu kostspielig erscheinen lassen. Das alles haben sie aus früheren Reformversuchen gelernt.
Den geheimnistuerischen Charakter einer Pressemitteilung beim Reformversuch von 1956 kommentieren die Reformer so:
„Der Verzicht auf jegliche inhaltliche Information war nach den bisherigen Erfahrungen sicher richtig.“ (Hiltraud Strunk: Stuttgarter und Wiesbadener Empfehlungen. Entstehungsgeschichte und politisch-institutionelle Innenansichten gescheiterter Rechtschreibreformversuche von 1950-1965. Frankfurt 1992: 313)
Vor zehn Jahren soll eine wunderschöne Rechtschreibreform allein daran gescheitert sein, daß die F.A.Z. in ihrer unendlichen Bosheit den Inhalt der geplanten Änderungen ein paar Wochen vor dem vereinbarten Termin bekannt machte.
Auch nach der Wiener Konferenz vom November 1994 war die Reform lange Zeit nur in Form von harmlos daherkommenden Kurzfassungen greifbar, an denen nur ein ausgepichter Kenner der Probleme – und der Reformer – den Pferdefuß erkennen konnte. Als dann das Regelwerk nebst Wörterverzeichnis erstmals veröffentlicht wurde, sollten auch sogleich endgültige Beschlüsse gefaßt werden. Die „Gesellschaft für deutsche Sprache“ drückte in einer Pressemitteilung ihre „Sorge“ darüber aus, „daß jetzt wieder eine inhaltliche Diskussion über die Rechtschreibung begonnen habe“. In Wirklichkeit verhielt es sich so, wie es zur gleichen Zeit unser Kultusminister in einem Interview sagte. Auf die Frage „Wissen denn die Deutschen in etwa, was auf sie zukommt?“ antwortete er:
„Nein, überhaupt nicht. Die breite Öffentlichkeit ist so gut wie gar nicht informiert. Deshalb werden viele erschrecken, wenn es nun zu einer Reform kommt, und zwar auch dann, wenn noch einiges geändert wird. Viele haben gar nicht mehr an eine Reform geglaubt, nachdem seit fast hundert Jahren alle Vorschläge gescheitert sind. Man wird uns, die Kultusminister, fragen: Was habt ihr denn da angestellt? Es wird große Aufregung und viel Streit, sogar erbitterten Streit geben, und es würde mich nicht wundern, wenn er mit der Schärfe von Glaubenskämpfen ausgetragen würde.“ („Der Spiegel“ vom 11.9.1995. – Die neue Mannheimer Reparatur-Kommission scheint wieder auf einen Überraschungscoup hinzuarbeiten, denn sie läßt sich keine Silbe über das Ergebnis ihrer Arbeitssitzungen entlocken.)
Diese zutreffenden und geradezu prophetischen Worte brachten allerdings manchen auf den ketzerischen Gedanken, ob es wirklich Aufgabe der Kultusminister sein kann, uns mit einer neuen Rechtschreibung zu „erschrecken“.
Nun, wie wir wissen, gab es nicht zuletzt dank der verdienstvollen Intervention des Ministers dann noch einen Aufschub, aber im Sommer 1996 war es soweit: Die Reform wurde beschlossen, die internationale Absichtserklärung am 1. Juli unterzeichnet, am 2. Juli, also buchstäblich über Nacht, erschien das Bertelsmannwörterbuch, und sogleich erging auch die Anweisung, bereits im neuen Schuljahr, also zwei Jahre vor dem vereinbarten Inkrafttreten, mit der Einführung an den Schulen zu beginnen. Sofort ergoß sich die entsprechende Flut von neuen Büchern in die Schulen. Das nennt man „vollendete Tatsachen schaffen“. Schon war auch das Kostenargument da. Ein Reformer, der an der Reform Geld verdient, verstieg sich zu der Behauptung, die Reform selbst sei kostenneutral, aber ihre Rücknahme würde Milliarden kosten.
Wenige Wochen nach dem Erscheinen der ersten Wörterbücher kam der geballte Protest, vor allem ein Verdienst des unermüdlichen Friedrich Denk, den sein Sohn auf die Orwellschen Aspekte der Reform hingewiesen hatte.
Wenn man die zutreffenden Worte von Minister Zehetmair noch im Ohr hat, klingt es geradezu zynisch, was die KMK in ihrer Dresdner Erklärung behauptet hat:
„Nun ist der demokratische Entscheidungsprozeß für die Neuregelung der Rechtschreibung im ganzen deutschsprachigen Raum abgeschlossen.“
Dabei war noch in der Dudenbroschüre vom Dezember 1994 zu lesen gewesen, wie man sich damals die „Durchsetzung“ der Reform vorstellte:
„In Deutschland werden die Kultusbehörden der einzelnen Bundesländer sowie das Bundesinnenministerium sich zunächst eine Meinung zu bilden und dann auf gesetzgeberischem Weg zu entscheiden haben.“
Das ist bekanntlich nicht geschehen. Minister Zehetmair hat auch gesagt, wenn die Reform erst durch die Parlamente müßte, sei sie schon erledigt. Das heißt: Die Bevölkerung will die Reform nicht. Was von der wiederholten Beteuerung zu halten ist, es sei alles demokratisch zugegangen, haben die Reformer bei der Darstellung früherer Reformversuche selbst einmal ausgeplaudert:
„In späteren Auseinandersetzungen, besonders in den öffentlichen Diskussionen, trifft man immer wieder auf diese Strategie, mit Abstimmungsergebnissen zu argumentieren, offensichtlich in der Absicht, hier besonders demokratische Vorgehensweisen zu dokumentieren.“ (Strunk a.a.O.: 77)
Daß die Reformer untereinander und im Kampf mit der Ministerialbürokratie Mehrheitsbeschlüsse gefaßt haben, ist für uns Betroffene ohne jedes Interesse. Auch scheint sich die Frage, ob die Bezeichnungen der Kardinalzahlen klein und die der Ordinalzahlen groß geschrieben werden sollen, wenig für demokratische Abstimmungen zu eignen. Wenn eine Gruppe von Rechenkünstlern das Quadrat von 25 ausrechnen soll und mit dem demokratisch abgestimmten Ergebnis „623,7“ abschließt, lachen wir sie aus und schicken sie nach Hause. Von dieser Art sind aber zahlreiche sogenannte Kompromisse, auf die sich Orthographieforscher und Ministerialbürokratie geeinigt haben. Einer schreibt mir, auch er sei dafür gewesen, wenn man schon Hämorriden schreibe, das zweite r fallen zu lassen, er sei aber überstimmt worden. „Vergessen Sie bitte nicht“, so fährt er fort, „daß wir mit dem Vorschlag (und das gilt für alle seine Teile) einen – wohl nur auf solche Weise zustande zu bringenden – Kompromiß vorliegen haben.“
Die bloße Vorstellung, daß eine Handvoll wenig inspirierter Rechtschreibexperten das Zufallsergebnis ihrer „Kompromisse“ zur Richtschnur für neunzig Millionen Menschen machen kann, läßt uns schaudern.
Wenn wir einmal den Sinn der Groß- und Kleinschreibung erfaßt haben, können wir nicht um eines Kompromisses willen dafür sein, daß im allgemeinen groß geschrieben wird. Wir können auch nicht zustimmen, daß der allgemein anerkannten Kleinschreibung bei aufs schönste nun noch eine völlig überflüssige groß geschriebene Variante zur Seite gestellt wird, die genau dasselbe bedeuten soll. Denn die Großschreibung brauchen wir für einen ganz anderen Fall: Er verzichtete aufs Schönste, was er besaß. Solche Dinge können auch nicht in Kommissionen entschieden werden, denn die Sprachgemeinschaft hat sie längst entschieden.
Durch die handstreichartige Einführung der Reform war es der Öffentlichkeit, besonders den Lehrern und den Sprachwissenschaftlern unmöglich, ihren Gehalt und ihre Auswirkungen ruhig und gründlich zu prüfen. Die manchmal so genannte „Vorlaufphase“ bis zum Inkrafttreten wurde durchweg als Teil der endgültigen, mit größter Entschlossenheit durchgesetzten Rechtschreibreform selbst ausgegeben. Eine praktische Erprobung, nach der man das Regelwerk selbst entsprechend zu revidieren haben könnte, war offenbar gar nicht ins Auge gefaßt worden.
Die Überrumpelungsstrategie hätte nie Erfolg gehabt, wäre ihr nicht ein Untertanengeist entgegengekommen, den man wohl immer noch für typisch deutsch halten muß, denn die Franzosen zum Beispiel hätten bestimmt jeden Minister zum Teufel gejagt, der ihnen mit einer solchen Reform zu Leibe gerückt wäre (was allerdings ohnehin undenkbar ist). Herren brauchen Sklaven. Ein pensionierter Hamburger Studienrat und Seminarleiter für Deutsch, der auch als Verfasser von Deutschbüchern für bayerische Gymnasien auffällig geworden ist, schrieb mir, er halte zwar auch manche der neuen Regeln für falsch. Dann fährt er wörtlich fort: „Ich werde aber der Norm gehorchen, weil sie die Norm ist.“ Ein deutscher Mann, Erzieher unserer Kinder und Ausbilder weiterer Lehrer. Dabei war „die Norm“ damals noch gar nicht die Norm, sie ist es auch heute nicht und wird es nie werden. So heruntergekommen sind wir denn doch nicht.
Der deutsche Untertanengeist äußert sich auch in dem unscheinbaren Wort selbsternannt (oder selbst ernannt, wie die absurde Neuschreibung will), mit dem man die Reformkritiker zu diffamieren beabsichtigt. In Deutschland muß man wohl, um Kritik üben zu dürfen, eigens zum Kritiker ernannt werden. Buchstäblich selbst ernannt haben sich übrigens die Reformer, die nicht nur die Einrichtung einer permanenten zwischenstaatlichen Rechtschreibkommission angeregt, sondern sich auch gleich selbst als deren Mitglieder empfohlen haben – „um der Kontinuität willen“, wie sie sagten (in einem Brief an die Kultusminister und den Bundesinnenminister vom 25.10.1994), und tatsächlich sitzen sie jetzt alle wieder beisammen in jener Mannheimer Kommission. Zur Strafe müssen sie das Durcheinander sanieren, das sie angerichtet haben.
Das unfreie Wesen mancher Reformanhänger äußert sich manchmal in winzigen Kleinigkeiten. Die Neuregelung hält sich etwas darauf zugute, das Wort selbstständig wieder eingeführt zu haben, was allerdings mit Orthographie gar nichts zu tun hat, da es sich hier nicht um eine andere Schreibweise, sondern um ein anderes Wort handelt, das der alte Duden aufgrund eines obskuren Gelehrtenstreites im 19. Jahrhundert einfach nicht aufnehmen wollte. Manche Leute sprechen und schreiben neuerdings immer selbstständig, als könnten sie sich endlich einen langgehegten Herzenswunsch erfüllen. So verfahren auch die beiden Schweizer Reformer in ihrem Handbuch, aber in ihrem Duden-Taschenbuch haben sie sich schon wieder darauf besonnen, daß dies ja gar nicht ihre normale Redeweise ist, und sind zu selbständig zurückgekehrt. Dabei war es natürlich nie verboten, selbstständig zu sagen und zu schreiben. Ein Rechtschreibwörterbuch kann dazu auch nichts sagen.
Es soll Menschen geben, die das Du in Briefen neuerdings klein schreiben, weil die KMK dies für richtig hält. Vor jedem Geßlerhut beugt irgendein Dummkopf das Knie, daran wird sich wohl nie etwas ändern.
Sieht man nach, wer in vorauseilendem Gehorsam die geplante Neuschreibung übernommen hat und sich damit einer zur Zeit gar nicht gültigen Rechtschreibung bedient, so stößt man auf eine wenig beachtenswerte Wochenzeitung und einige Kunden- und Vereinszeitschriften. Sie allesamt zeichnen sich dadurch aus, daß sie außer der ss-Schreibung fast nichts verstanden haben und demgemäß in einer Mischorthographie erscheinen, die das Lesen doppelt unerfreulich macht. Das gilt auch für Kinderzeitschriften, die sich umgestellt haben, um nicht von der Empfehlungsliste des Kultusministeriums gestrichen zu werden und einen Fuß in den Klassenzimmern zu behalten. Hier herrscht wirklich bereits heute das Rechtschreibchaos, und seine Wirkung wird noch jahrelang anhalten, so daß die Lehrer, soweit sie nicht selbst schon ganz verwirrt sind, für die nächste Zeit viel Nachsicht mit ihren Schülern werden aufbringen müssen.
Als sich abzeichnete, daß die Reform wegen ihrer Mängel wohl keinen Bestand haben werde, fingen die Reformer damit an, die Köpfe mit falschen Daten zu verwirren. Um ihren Ramsch noch loszuwerden, schrieben manche Wörterbuchmacher wahrheitswidrig, die Reform sei bereits 1996 in Kraft getreten. Die gültige Rechtschreibung wurde als die „frühere“ bezeichnet und die geplante als die „amtliche“. Auf dem Einband des neuen Rechtschreibduden steht 18mal das Wort neu. Die dritte Auflage des Duden-Universalwörterbuchs aus dem Jahre 1996 enthält keinen Hinweis darauf, daß die Reform noch gar nicht in Kraft ist; dabei wird die bevorstehende Entsorgung dieses dickleibigen, ehemals so schätzenswerten Werkes besondere Mühe machen. (Andere Wörterbücher werden auch nach dem Ende der Reform benutzbar bleiben, weil sie die „alten“ Schreibungen wenigstens noch enthalten.) Am falschen Spiel beteiligten sich sogar offizielle Einrichtungen wie das „Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung“ in München, das die bayerischen Lehrer mit einer schlampig gemachten Broschüre über die Reform mehr desinformierte als aufklärte.
Keine Empfehlung der Reform kommt ohne den Hinweis aus, die Reformer hätten zehn, zwanzig Jahre oder noch länger daran gearbeitet. Um so schlimmer, möchte man sagen. Und außerdem: Wenn mir ein Teppichhändler einen Teppich aufschwatzen will, den ich nicht brauche, wird er mich auch durch den Hinweis auf die lange und mühsame Arbeit, die hineingeknüpft sei, nicht zum Kauf überreden können.
Reden wir also vom Geld!
Im Internationalen Arbeitskreis für Orthographie gab es eine Absprache, daß kein Mitglied mit der selbstgemachten Reform Geld verdienen solle – an sich eine Selbstverständlichkeit. Die Tinte unter dem Wiener Abschlußbericht vom November 1994 war noch nicht trocken, da kamen schon die ersten Rechtschreibbücher der Reformer in den Buchhandel. Während die Öffentlichkeit noch ein Dreivierteljahr auf Regelwerk und Wörterverzeichnis warten mußte, vermarkteten einige Reformer ihre Insiderkenntnisse. Seither ist die Mehrheit der Reformer in solchen Privatgeschäften tätig geworden, und die geschäftstüchtigsten gehören auch wieder der neuen und auf Dauer angelegten Mannheimer Kommission an. Die gegenwärtige Reform soll ja nur ein Anfang sein. Sie erlaubt schon jetzt hübsche Gewinne mit wenig Mühe, aber das ganz große Geschäft steht erst noch bevor, wenn die Reform in Kraft ist und permanente Veränderungen eine ständig sprudelnde Einnahmequelle erschließen.
Ein bisher zu wenig beachteter Aspekt ergibt sich vom Standpunkt der auswärtigen Sprach- und Kulturpolitik. Die Reform, ja die bloße Ankündigung einer Rechtschreibreform, schadet der Stellung der deutschen Sprache im Ausland. Zunächst schon durch die Verunsicherung, die dadurch ausgelöst wird, zumal die ausländischen Germanisten und potentiellen Deutschlerner das Ausmaß der Veränderungen meist überschätzen. Immerhin, sie sehen ja, daß neue Wörterbücher angeschafft werden müssen. Die schlechte Qualität der Reform ist den Auslandsgermanisten allerdings nicht verborgen geblieben. In einer schwedischen Germanistenzeitschrift hieß es kürzlich:
„Wir Auslandsgermanisten fragen uns seit einiger Zeit besorgt, was die sonst verehrten Kollegen in Deutschland dazu hat verleiten können, die sog. Rechtschreibreform überhaupt ´Reform´ zu nennen, anstatt sie schon im Keim ersticken zu lassen.“ („Germanisten“ Jg. 1, 1996: 23)
Außerdem darf man aber die Kosten nicht vergessen, die bei den Verlagen entstehen und selbstverständlich in die Preise der Deutschbücher eingehen werden. Der Cheflektor für Deutsch als Fremdsprache eines großen Verlags schrieb mir:
„Wir sind alles andere als begeistert von dieser Reform, die gerade uns als Verlag enorme Kosten verursacht und keinerlei Vorteil bringt – das Gerede von der angeblichen ´Kostenneutralität´ klingt aus unserer Sicht wie purer Hohn.“
In vielen Ländern der Erde haben die Studenten einfach kein Geld, um sich teure Bücher zu kaufen. Während die Engländer und Amerikaner durch ihre bekannten „Low-priced editions“ für sich werben, machen wir unsere Bücher mutwillig teurer. Wieviel Schaden dies alles zusammen dem Deutschlernen in aller Welt zufügt, wird sich wohl nie feststellen lassen.
Zum Glück haben die Reformer längst damit begonnen, das Ende der Reform selbst herbeizuführen, sei es aus lauter Übermut oder aus Mangel an Phantasie.
In der Neubearbeitung eines Sprachbuches für bayerische Gymnasien ist neben anderen literarischen Texten der Anfang der „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ abgedruckt. Der erste Satz liest sich so:
Indem ich die Feder ergreife um in völliger Muße und Zurückgezogenheit – gesund übrigens, wenn auch müde, sehr müde (sodass ich wohl nur in kleinen Etappen und unter häufigem Ausruhen werde vorwärts schreiten können), indem ich mich also anschicke meine Geständnisse in der sauberen und gefälligen Handschrift, die mir eigen ist, dem geduldigen Papier anzuvertrauen beschleicht mich das flüchtige Bedenken, ob ich diesem geistigen Unternehmen nach Vorbildung und Schule denn auch gewachsen bin. (Thomas Mann: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, aus „Sprachbuch 10“, Bayerischer Schulbuch-Verlag München 1997: 107)
Man braucht den berühmten Text weder vor sich noch genau im Kopf zu haben, um zu bemerken, daß die Bearbeiterinnen das Original an sechs Stellen geändert haben. Nur zwei dieser Änderungen, nämlich das Doppel-s bei sodass und die Getrenntschreibung von vorwärts schreiten, wären von der geplanten Neuregelung der deutschen Rechtschreibung geboten. Die Zusammenschreibung der Konjunktion und die Auslassung von drei Kommas sollen in Zukunft zwar möglich sein, aber nur als Varianten. Man hätte das Original also in allen diesen Punkten getreu wiedergeben können. Dann wäre allerdings die Relevanz der Rechtschreibreform nicht so deutlich geworden, und der staatseigene Schulbuchverlag hätte sich der Staatsregierung nicht so ganz besonders gefällig erweisen können. Andere Schulbuchverlage treiben es übrigens ebenso. Die Schulbuchverlage sind ja in einer rechtlichen Grauzone ganz und gar auf das Wohlwollen der Kultusministerien angewiesen; einen Rechtsanspruch auf die Zulassung ihrer Bücher haben sie nicht. Und so kommt es, daß seit dem letzten Sommer kein Schulbuch mehr die geringste Chance hat, wenn es nicht den Regeln der neuen Rechtschreibung folgt, obwohl die erst im August 1998 in Kraft treten würde – wenn sie denn in Kraft träte, was aber mit Ihrer Hilfe sicherlich verhindert werden kann. Es sollen im letzten Jahr bereits gedruckte Schulbücher im Wert von 45 Millionen Mark eingestampft worden sein. Diese Kosten mußten die Verlage tragen, wenn sie nicht gänzlich in den Ruin geraten wollten.
Doch zurück zu unserem Text! Die Kommasetzung ist nach der gültigen Rechtschreibung, an die sich auch Thomas Mann hielt, so geregelt, daß unsere Sprachdidaktiker sie aufgrund ihrer Fehleranalysen für zu differenziert halten, um sie Kindern und Halbwüchsigen zumuten zu können. Das gilt insbesondere für die Abtrennung der Infinitiv-, Partizipial- und Adjektivsätze sowie von absoluten Akkusativ- und Nominativkonstruktionen. In allen diesen Fällen soll das Komma künftig freigegeben werden, was eigentlich nur bedeutet, daß die Lehrer es nicht mehr als Fehler werten sollen, wenn ein Schüler schreibt:
Er sah den Spazierstock in der Hand tatenlos zu.
Endlich allein nahmen sie ihre Lektüre wieder auf.
Obwohl frühzeitig auf diesen Fehler aufmerksam gemacht korrigierten sie ihn nicht.
Sprachwissenschaftlich gesehen, wird diesen Konstruktionen die Satzwertigkeit abgesprochen. Das ist meiner Ansicht nach falsch und widerlegbar, doch will ich mich damit nicht länger aufhalten. Wichtig ist, daß die fehlerpädagogische Maßnahme, die durchaus eine gewisse, freilich teuer bezahlte „Erleichterung“ für den Schüler mit sich bringt, nicht als Korrekturanweisung an die Lehrer daherkommt, sondern schon in die Rechtschreibordnung aufgenommen ist. Das ist so, als wenn ein Komponist die falschen Töne, die einem Klavierschüler wahrscheinlich unterlaufen werden, vorsorglich schon in den Notentext hineinschreibt, damit beim Vorspiel niemand sagen kann, der arme Tropf habe sich verspielt.
Dadurch kommt es bereits in der Normierung selbst und nicht erst in der Schule zu einer orthographischen Zweiklassengesellschaft. Manche Reformer haben – wie bereits erwähnt – den Vorschlag gemacht, der professionelle Schreiber sollte sich unter Ausschöpfung des liberalen Spielraumes an die alte Ordnung halten. Die neue ist eher etwas für Anfanger und Stümper. Nun sehen wir endlich klar, was hier gespielt wird: In den neuen Lesebüchern wird Thomas Mann ohne langes Fackeln in die Klasse der Anfänger und Stümper gesetzt. Dort sitzen auch sein Sohn Klaus, Robert Musil sowie zahlreiche Lebende wie Christa Wolf, Reiner Kunze und Wolfgang Hilbig.
Auch die eigentliche Wortschreibung bleibt nicht verschont. Hier ein Beispiel aus dem „Doktor Faustus“; es geht um die Beschreibung von Leverkühns Mutter, nach dem bekannten Dürerschen Bildnis:
der feste, wie wir sagten: eigengemachte Rock
Hier greift der Erzähler also bewußt zu einem alten, regionalen Ausdruck, der sich auch im Grimmschen Wörterbuch findet:
EIGENGEMACHT, sua ipsius manu factus, selbstgemacht, eigengemachtes zeug, garn. (Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 3, Leipzig 1962: Sp. 92)
Es ist ein Stilmittel zur Erzeugung des altdeutschen und bodenständigen Kolorits, das diesen Teil der Erzählung kennzeichnet. Obwohl der Erzähler ausdrücklich sagt, so habe man sich damals ausgedrückt, wissen die superklugen Bearbeiterinnen es besser: Nicht eigengemacht, sondern eigen gemacht habe man gesagt! Sie wissen also nicht nur besser als Thomas Mann, wie man erzählt, sondern auch was es überhaupt zu erzählen gibt.
Sehen wir uns noch kurz an, wie mit Christa Wolf umgesprungen wird („Sprachbuch 10“: 139f.):
Christa Wolf: Lenka war, wie immer, gut getroffen, nach eurer Meinung.
Sprachbuch 10: Lenka war wie immer gut getroffen, nach eurer Meinung.
Christa Wolf: Das Kind würde (...) die Puppe in den Arm nehmen, würde, verabredungsgemäß, in vorgeformter innerer Rede darüber staunen (...)
Sprachbuch 10: Das Kind würde (...) die Puppe in den Arm nehmen, würde verabredungsgemäß in vorgeformter innerer Rede darüber staunen (...)
Hier ist der typische zögernd-nachdenkliche Duktus von Christa Wolfs Prosa schlicht zerstört, zugunsten einer glatten Zeitungssprache. Auch diesmal bleibt die Wortschreibung nicht verschont:
Christa Wolf: Nimm bloß den Sonnenplatz, dessen alten Namen du nicht ohne Rührung ins Polnische übersetzt auf den neuen blauen Straßenschildern wiederfandest.
Sprachbuch 10: Nimm bloß den Sonnenplatz, dessen alten Namen du nicht ohne Rührung ins Polnische übersetzt auf den neuen blauen Straßenschildern wieder fandest.
Bei diesem Beispiel kommt noch der allgemein verbreitete Irrtum hinzu, die „trennbaren Verben“ mit wieder würden künftig getrennt geschrieben. Das ist zwar falsch, aber der berüchtigte Paragraph 34 der Neuregelung ist so unklar formuliert, daß nach und nach fast alle neuen Wörterbücher zu dieser Fehlinterpretation gelangt sind.
Ich habe die Verlage auf diesen Skandal aufmerksam gemacht und auch das bayerische Kultusministerium gebeten, solchen Sprachverhunzungsbüchern die Zulassung zu verweigern. Kein gewissenhafter Lehrer kann damit arbeiten. Es sind expurgierte Texte im übelsten Sinn des Wortes: Unsere Kinder sollen gar nicht erst erfahren, welchen Gebrauch wir Erwachsenen oder gar die Schriftsteller von einer differenzierten Rechtschreibung machen. Auf diese Weise werden sie es bestimmt nie lernen. Allerdings befindet sich der Rechtschreibunterricht heute durch das Vorpreschen der Schulverwaltung sowieso in einer pädagogisch unmöglichen Situation, da die Schüler etwas lernen müssen, wovon man ihnen zugleich sagt: „Wenn ihr aus der Schule heraus seid, braucht ihr euch nicht mehr daran zu halten – der Bundespräsident tut es auch nicht.“
Die namhaftesten Schriftsteller haben soeben gegen diesen flegelhaften Umgang mit ihren Texten protestiert, und die Verleger werden Schritte unternehmen, um auch die verstorbenen Dichter vor widerrechtlichen Eingriffen zu schützen. Zahllose Schulbücher werden eingestampft werden müssen. Die Folge wird sein, daß in Zukunft entweder kein bedeutender Autor des 20. Jahrhunderts in die Schulbücher aufgenommen werden kann oder daß alle diese Texte in einer gleichsam historischen Schreibweise erscheinen, die im Widerspruch zu dem steht, was die Schüler sonst lernen. Die Klassiker wie Goethe, Eichendorff, Kafka sind den Anschlägen der pädagogisch irregeleiteten Rechtschreibdesperados schutzlos ausgeliefert, so daß sich die Lesebücher in Zukunft wahrhaft paradox darstellen werden: Alte Autoren in neuer Schreibung, neue Autoren in alter Schreibung! Die Klassiker kommen bei diesem Handel schlecht weg, da sie sich durchweg mit einer minderwertigen, nämlich weniger differenzierten Schreibweise abfinden müssen.
Ein noch größerer Skandal steht unmittelbar bevor: Haben die Reformer bis vor kurzem noch behauptet, die Tausende von Widersprüchen zwischen den neuen Wörterbüchern beruhten auf fehlerhafter „Umsetzung“ der neuen Regeln und seien daher von den Wörterbuchmachern allein zu verantworten, so geben sie unter dem Druck der Tatsachen neuerdings zu, daß auch die Regeln verändert werden müssen. Zwar sprechen sie meist von einer besseren Formulierung der Regeln, aber soeben hat ein Oberreformer erstmals öffentlich zugegeben, daß zum Beispiel die ominöse Partikelliste aus § 34 ergänzt werden müsse. („Rheinischer Merkur“ vom 30. Mai 1997) Ich weise seit Jahr und Tag darauf hin, daß gemäß dieser Liste hintenüberfallen zusammengeschrieben werden muß, vornüber fallen jedoch getrennt – absurd genug, aber doch nur eine einzige von Hunderten von Absurditäten. Wenn die Reformer nun die Partikel vornüber nachtragen wollen, so werden diejenigen Wörterbücher, die den Vorgaben in gutem Glauben gefolgt sind, dumm dastehen und sich irgendwie wehren müssen. Gutgläubig bei aller Verwerflichkeit ihres Tuns haben aber auch die Bearbeiter von Sprachbuch 7 des Bayerischen Schulbuchverlags gehandelt, die in einem Text von Gerd Gaiser die Form vornüberwarf gegenüber der vorigen Auflage nunmehr getrennt geschrieben haben, sicherlich auf eines der Wörterbücher gestützt. Das ist aber nur einer von vielen Fällen, denn allein in jener Partikelliste gibt es noch weitere Lücken, die gefüllt werden müssen. Jede solche Maßnahme hat, wie sich ahnen läßt, einen Dominoeffekt, denn nicht nur die Wörterbücher, sondern auch die darauf gestützten Schulbücher werden in Mitleidenschaft gezogen. Im amtlichen Wörterverzeichnis ist ein so geläufiges Wort wie richtiggehend mit der gewohnten Zusammenschreibung aufgeführt – zweifellos ein Versehen, denn nach § 36 muß es unbedingt getrennt geschrieben werden. Auch diese Korrektur wird sich auf die Wörterbücher auswirken. Von dieser Art sind noch sehr viele Fälle. Darüber hinaus ist klar, daß die offensichtlich ungrammatischen Folgen der neuen Getrennt- und Großschreibung durch Revision der Regeln beseitigt werden müssen. Da wird kein Stein auf dem andern bleiben. Wörterbücher, nach denen Leid tun groß und so genannt getrennt geschrieben werden müssen, gehören auf den Müll, das ist ganz unvermeidlich. Sechs Millionen betrogene Wörterbuchkäufer sind auch keine Kleinigkeit. (Von der ersten Auflage der Bertelsmann-Rechtschreibung sind schätzungsweise 1 Mill. Exemplare verkauft worden. Die Käufer erfahren nichts davon, daß inzwischen rund 200 orthographisch relevante Veränderungen vorgenommen worden sind (darunter die Verschlimmbesserung wieder sehen.)
Das kostspielige Ende dieses Massenexperiments war durchaus voraussehbar. Voraussehen mußten es vor allem die Sprachwissenschaftler und Germanisten, denen ja die Widersprüche und absurden Folgen der geplanten Reform keinen Augenblick verborgen bleiben konnten. Und in der Tat fanden und finden alle Germanisten die Reform vollkommen mißlungen. Aber wie viele von ihnen haben sich zu Wort gemeldet? Ein halbes Dutzend. Eine Germanistik, die eine solche Reform schweigend hinnimmt, aus welchen Rücksichten auch immer, hat keinen Ruf mehr zu verlieren. Das ist eine der bittersten Lehren aus dieser Geschichte.
Wie soll es weitergehen? Das sogenannte Dudenmonopol – das eher Dudenprivileg heißen sollte, denn verkaufen kann jeder ein gültiges Rechtschreibwörterbuch – ist unwiederbringlich dahin. Daß nach dem Zusammenbruch der Reform das große Chaos ausbrechen würde und wir allesamt plötzlich nicht mehr wüßten, wie wir schreiben sollten, oder daß wir gar auf den Stand von 1901 zurückgehen, die hundert Jahre Arbeit der Dudenredakteure also praktisch ignorieren müßten – dieses Gespenst ist zwar erst kürzlich wieder von einem der Reformer an die Wand gemalt worden, aber das brauchen wir nicht ernst zu nehmen. Im Grunde wissen wir alle, wie wir schreiben sollen, und brauchen gar kein einheitliches Rechtschreibwörterbuch. Wir brauchen auch kein Benimmbuch, um zu wissen, wie wir uns benehmen sollen. Die Rechtschreibung selbst gehört ja nicht dem Duden. Wir brauchen nicht beim Duden um Erlaubnis nachzufragen, wenn wir radfahren zusammenschreiben wollen.
Andererseits ist es praktisch, die geltende Rechtschreibsitte in einem Referenzwerk nachschlagen zu können. Es sollte wie bisher beides enthalten: ein Regelwerk, aus dem der Sinn der graphischen Techniken hervorgeht: der Sinn der Getrennt- und Zusammenschreibung, der Sinn der Großschreibung, der Sinn der Satzzeichen. Andererseits ein Wörterverzeichnis, das uns der Mühe enthebt, die Regeln in jedem einzelnen Fall selbst anzuwenden.
Eine unabhängige, weder staatliche noch kommerziell interessierte Instanz wie etwa die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung könnte ein solches Referenzwerk herausgeben, ein ganz bescheidenes reines Orthographikon wie zu Beginn des Jahrhunderts, ohne Angaben zur Aussprache, Grammatik und Bedeutung. Es sollte dem Inhalt nach die geltende Rechtschreibung darstellen, so daß im Gegensatz zur Rechtschreibreform auf keinen Fall etwas falsch wird, was bisher richtig war. Allenfalls könnten – wie es ja bisher schon die Praxis der fortlaufenden Selbstüberholung des Duden war – einige weitere Schreibmöglichkeiten als Zusatzoptionen hinzugefügt werden. Niemand würde aber sein altes Rechtschreibbuch wegwerfen und ein neues kaufen müssen.
An dieser Stelle möchte ich noch einmal in Erinnerung rufen, worin sich die bisherige Dudenpraxis grundsätzlich von der gegenwärtig geplanten Reform unterschied. Der Duden hat über die Jahrzehnte hin die tatsächliche Schreibpraxis beobachtet und ist ihr in einem gewissen Abstand gefolgt. Dadurch hat er sich zwar vom amtlichen Regelwerk von 1902 immer weiter entfernt, aber ihm dies vorwerfen zu wollen würde ja bedeuten, daß man einen Status quo dogmatisch festschreiben wollte bis zur völligen Versteinerung, die von der Sprachgemeinschaft überhaupt nicht mehr ernst genommen würde. Aber wie Sie selbst wissen, war es niemals notwendig, sich jeweils die neueste der ungefähr im Fünf-Jahres-Turnus erscheinenden Dudenauflagen zu kaufen. Mit einem dreißig Jahre alten, halbzerfetzten Duden können Sie immer noch korrekt schreiben, nur daß manche neueren Wörter einfach nicht drinstehen. All dies ist bekanntlich mit der Neuregelung völlig anders. Trotz der Geringfügigkeit der Änderungen müssen alle Rechtschreibbücher neu gekauft werden, und an den Schulen wird mit großem Trara umgelernt, bis hin zu Gämsen, Schlammmassen und ähnlichem Unfug.
Dem sollten wir ein schnelles Ende bereiten durch ein Wörterbuch, das auf den Weg der allmählichen Anpassung an den sichtbaren Willen der Sprachgemeinschaft zurückkehrt: Pflege statt Reform der Rechtschreibung.
Ein solches Büchlein könnten die Wörterbuchmacher ihrer Arbeit zugrundelegen, wenn sie dann solche Wörterbücher produzieren, wie sie der Markt verlangt.
Bei der Vorbereitung eines solchen Buches wird man bemerken, daß der noch gültige Duden keineswegs duchgehend so rigide Regeln enthält, wie man ihm unterstellt und wie er es manchmal in lukrativem Selbstmißverständnis zu behaupten pflegt. Ich möchte diesen interessanten Gesichtspunkt abschließend ein wenig ausführen:
Man hat viel Aufhebens von der augenscheinlichen Unsinnigkeit gemacht, uns vorschreiben zu wollen, daß man radfahren anders schreibt als Auto fahren. Viele glauben, daß man radfahren zusammenschreiben müsse, und der Duden fördert diesen Glauben durch seine Darstellungsweise. (Übrigens enthielt der Duden schon zu Beginn des Jahrhunderts auch den Eintrag radeln, was denn doch darauf hindeutet, daß das Radfahren sich durch größere Volkstümlichkeit ein wenig vom Autofahren unterschied; ein entsprechendes Wort für das Autofahren gab und gibt es im Deutschen nicht.) In Wirklichkeit kann keine Macht der Welt mich hindern, die Wörter Rad und fahren zu einer frisch gebildeten Konstruktion zusammenzufügen und ganz ebenso zu schreiben wie Auto fahren, nämlich getrennt und mit großem Anfangsbuchstaben beim Substantiv. Ich kann dieses Vorgehen jederzeit rechtfertigen, indem ich einfach sage: Ich meine nicht radfahren, sondern Rad fahren – was immer der feingesponnene Unterschied sein mag, den ihr Orthographen euch dabei ausgedacht habt. Die Getrenntschreibung ist hier, wie die Reformer mit Recht betonen, der Normalfall, sie ergibt sich aus den Regeln und braucht nicht für jeden einzelnen Fall im Wörterbuch registriert zu sein: Traktor fahren, Roller fahren, Fahrrad fahren und eben auch Rad fahren.
Mit anklagendem Zeigefinger wird auch gern darauf verwiesen, daß heiligsprechen und seligpreisen zusammengeschrieben werden, glücklich preisen aber nicht. Natürlich kann man, entgegen einer oberflächlichen Dudenlektüre, selig preisen auch getrennt schreiben; dann handelt es sich allerdings nicht um eine Seligpreisung im Sinne der Bergpredigt. (Glücklichpreisungen gibt es in der Bibel nicht.) Das Heiligsprechen und Seligpreisen sind sozusagen performative Sprechakte, die nicht Krethi und Plethi zustehen. Nicht jeder hat Sinn für solche Unterscheidungen, aber das macht sie nicht obsolet. (Das von manchen Reformern bei jeder Gelegenheit hervorgekramte Beispiel seligpreisen/glücklich preisen dürfte der eigentliche Anlaß für die absurde -ig/-isch/-lich-Regel gewesen sein, die völlig überraschend und ohne eigene Numerierung in § 34 der Neuregelung eingeführt wird.)
In dem berüchtigten Mogeldiktat (unter den Reformern auch als „Schaeder-Diktat“ bekannt, nach seinem Erfinder. Seit seiner Veröffentlichung in der Süddeutschen Zeitung vom 22.3.1997 spielt es in der Argumentation der Reformer keine Rolle mehr), mit dem die Überlegenheit der Neuschreibung bewiesen werden sollte, ist die Schreibung Joghurt-Becher (mit Bindestrich) als Fehler im Sinne der gültigen und als Nichtfehler im Sinne der geplanten Rechtschreibung berechnet worden. Das ist falsch. Regel 33 des Duden („Zusammengesetzte Wörter werden gewöhnlich ohne Bindestrich geschrieben.“) stellt bloß den Normalfall dar, die weiteren Regeln eröffnen durchaus die Möglichkeit, Joghurt-Becher mit Bindestrich zu schreiben. Überhaupt ist der Bindestrich nach den geltenden Dudenregeln nahezu unbegrenzt einsetzbar; die Behauptung, erst die Neuregelung sorge hier für mehr Freiheit, ist einfach nicht wahr. So gelangen wir durch das Prinzip der wohlwollenden Interpretation zu vielen vernünftigen Lösungen, die sich allesamt im Rahmen des gültigen Duden halten.
In anderen Fällen würde ich bewußt von der Dudennorm abweichen. Die Reformvorlage tut meiner Ansicht nach recht daran, stattdessen zur Zusammenschreibung zuzulassen, wie bisher schon infolgedessen.
In einigen Fällen scheint mir eine Abweichung sowohl vom bisherigen Duden als auch von der Reformvorlage sinnvoll. Das Neue Jahr, zu dem man sich Glück wünscht, sollte auch groß geschrieben werden dürfen. Ernstnehmen sollte man auch zusammenschreiben können. Beides geschieht übrigens schon in größtem Umfang, und viele gebildete Zeitgenossen sind überrascht, wenn man ihnen mitteilt, das es „eigentlich“ falsch ist.
Eigentlich ist es falsch, aber noch eigentlicher ist es richtig.
Das ist vielleicht die kürzeste Formel für die Einsicht, die am Anfang und am Ende unsere Betrachtungen stehen sollte. Die Rechtschreibung ist im Gegensatz zu ihren mehr oder weniger geglückten Kodifikationen ein Werk der kollektiven Vernunft, des objektiven Geistes, der unsichtbaren Hand. Wir bemühen uns, ihrem Sinn auf die Spur zu kommen, und tragen unser Scherflein dazu bei, sie weiterzuentwickeln.

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Th. Ickler

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