Eine "Kompromißlösung" ist von allen Lösungen die unverantwortlichste!
Ein „Kompromiß“ und der „nicht nennenswerte“ Schaden
Auch wenn es schon tausendmal gesagt und geschrieben worden ist, erlaube ich mir noch einmal eine Zusammenfassung der Einwände, die gegen die ss-Schreibung vorzubringen sind. Zur Erweiterung der Argumente trägt die derzeitige Diskussion einiger Verlage bei, die eine zusätzliche, völlig neue Reformschreibung ins Leben rufen wollen, deren Kennzeichen vor allem das ss nach Kurzvokalen sein wird.
1. Ein alter Hut
Die Schreibung ss nach kurzem Vokal statt ß ist nicht neu. Diese scheinbar logische Regel ist eine Erfindung Johann Christian August Heyses, der 1829 starb, oder seines Sohnes Karl Wilhelm Ludwig Heyse. Erst 50 Jahre nach ihrer Erfindung wurde die Heysesche
„s-Schreibung“ erstmals offiziell eingeführt: Von 1879 bis 1902 galt sie in Österreich. Und wurde wieder ohne Bedauern zu Grabe getragen, weil sie den Lesefluß stört. Die Sprachgemeinschaft hat sich schon immer das an- oder abgewöhnt, was für die Leseökonomie wesentlich war. Dazu bedurfte es keiner Reglementierung staatlicherseits.
Die zweckentfremdende Reformschreibung (ss statt ß nach kurzem Vokal) beruht auf einem Irrtum (siehe Punkt 2). Die klassischen Regeln zur Schreibung von ss und ß sind logisch! Ohne die Logik der bisherigen bewährten s-Schreibung wäre die „Logik“ der reformierten
s-Schreibung von vornherein undenkbar. Die Reformschreibung baut auf der klassischen Rechtschreibung auf, ohne deren Kenntnisse die Regel nicht verstanden werden kann, wie sich auch an den steigenden Fehlerzahlen bei Schulkindern beweist.
Wichtig ist folgende Erkenntnis:
Wer die reformierte s-Schreibung richtig anwenden will, muß die klassische Verschriftung des s-Lautes kennen!
Oder anders ausgedrückt: die klassische s-Schreibung funktioniert auch ohne Reform, aber die Reformschreibung funktioniert nicht ohne die Regeln der klassischen Orthographie.
2. Das ß hilft beim Lesen
Die Verwendung des ß begründet sich nicht daraus, die Länge des vorhergehenden Vokals zu bezeichnen. Es wurde von der Schreibgemeinschaft vor Jahrhunderten „erfunden“, um den Silbenschluß zu kennzeichnen und damit das Schriftband optisch besser zu gliedern, im Sinne der besseren Lesbarkeit. Früher lasen alle Menschen laut und langsam. Seit es Bücher und Zeitungen gibt, liest man still für sich – und viel schneller. Daraus folgt, daß jede Veränderung der Schrift sich an der Ökonomie des Lesens orientieren muß.
Das ß ist durch seine prägnante Form (Ober- und in Schreibschrift auch Unterlänge) eine wichtige Lesehilfe. Schriftzeichen müssen in ihrer Form differenziert sein, damit das lesende Auge die Unterschiede rasch erfassen kann. Je rascher wir lesen, desto wichtiger ist ein gut differenziertes Schriftbild. Der Ersatz von ß durch ss nach kurzem Vokal verschlechtert in vielen Fällen die Lesbarkeit, weil sie die Oberlängen nivelliert: dass/daß, muss/muß.
Für das Lesen ist die ss-Schreibung hinderlich.
Ein Beweis für diese These ist, daß seit der Schreibung der Konjunktion daß mit ss, also dass, die Fehlerhäufigkeit deutlich zugenommen hat: Immer mehr Schreiber verwechseln das und dass, weil das optisch nivellierte Schriftbild beim schnellen Hinschauen wenig Unterscheidungskraft hat. Und richtiges Schreiben lernt man bekanntlich durch Lesen.
3. Das ß markiert den Silbenschluß
Das Deutsche ist reich an s-Lauten. Kaum ein anderer Konsonant kommt so oft in Silbenfugen und Wortzusammensetzungen vor wie s oder ß, nach der Reform auch ss. Mit gutem Grund galt (siehe Punkt 2): „ss am Schluß bringt Verdruß!“ Welch einfach zu lernende Regel! Und sie hatte ihren Sinn, denn sie gliederte für jeden Leser optisch sofort das Silben- bzw. Wortende:
bißchen, Schlußsatz, Eßsaal (bisschen, Schlusssatz, Esssaal).
Durch die ss-Schreibung entstehen eingeebnete Wortbilder, insbesondere bei der häufig vorkommenden Dreifachschreibung des s. Ein geübter Leser kommt damit zurecht. Doch die schwachen Leser, deretwegen man angeblich die Reform eingeführt hat, bekommen nicht nur beim Schreiben (Prof. Marx), sondern auch beim Lesen massive Probleme. Wer meint, er müsse der Schüler wegen die ss-Schreibung behalten, sollte das wissen.
Wenn wir die ss-Schreibung behalten wollen, entscheiden wir uns freiwillig für ein schlechter lesbares und zudem unästhetisches Schriftbild.
4. Schreiber tappen in die „Logikfalle“
Die ss-Schreibung lockt nicht nur Kinder in die „Logikfalle“ (Claudia Ludwig). Die Regel, mit der die ss-Schreibung überall vorgestellt wird, ist eine Regel für erwachsene Umlerner – welche die vorherige ß-Schreibung perfekt beherrscht haben. Dieser Personenkreis ist es denn auch, der die Regel fehlerfrei umsetzen kann.
Anders die Kinder. Sie werden mit der in allen Schul- und Lehrbüchern unvollständig wiedergegebenen und daher falschen Regel konfrontiert: „Nach kurzem Vokal (Selbstlaut) schreibe ss!“ Die Logikfalle führt dann zu Schreibweisen wie: Geheimniss, du hasst (haben), fassten (Diät halten) usw. Außerdem ist die Aussprache kein verläßlicher Indikator für das Schreiben, wie die deutliche Vermehrung von Schreibungen wie „Fussball“, „Strasse“, „ausserdem“ zeigt. Wem ist noch nicht ein „meisstens“ oder gar „meißtens“ begegnet? Fehler, die vor der Reform undenkbar waren und sofort auf einen Blick erkennen lassen, welcher Bildungsgrad hinter dem Schreiber steckt. Ist das sozial?
Die Fehlerträchtigkeit der ss-Schreibung ist kein Phänomen des Übergangs. Sie wird in den nächsten Jahren unweigerlich zunehmen, weil die nachfolgenden Jahrgänge nicht mehr gelernt haben werden, wo ß geschrieben stand, das nun durch ss zu „ersetzen“ ist. Gerade das Wort „ersetzen“ zeigt auch, daß es sich bei der Änderung der Schreibweise überhaupt nicht um eine Reform handelt, sondern um einen (vermeintlich) gleichwertigen Austausch der Systeme. Wir schreiben anders, aber dieses Andere ist nicht praktikabel, also schlechter.
5. Die Schweizer s-Schreibung: eine Lösung?
Es gibt Befürworter für die völlige Eliminierung des Buchstaben ß aus unserer Schriftsprache. Begründet wird dies nicht selten damit, daß dies für die Datenverarbeitung ohnehin notwendig sei. Der Trend geht jedoch in Richtung „Unicode“ zur Zeichencodierung. Damit kann man nicht nur die bisherigen Sonderzeichen der deutschen Sprache wie ß, ä, ö etc. darstellen, sondern auch Arabisch, Japanisch und andere Sprachen. Dieses Argument greift also nicht.
Anspruchsvolle Texte in der Schweiz erscheinen durchaus mit dem Buchstaben ß. Weshalb man in der Schweiß auf das ß verzichtet, hat nationale, nicht aber linguistische Gründe. Gebildete Schweizer geben zu, daß die ß-losen Texte ebenfalls zu Lesestörungen führen können, zumal dann jeder schriftliche Betonungshinweis entfällt. Gerade auf das Betonungskriterium aber sind die Reformbefürworter nach Heyse stolz: Kurzer Vokal vor ss. Das könne jeder Ausländer sofort lesen! Ein Fortfall des ß gäbe dem Schüler und Deutschlernenden neue Ausspracherätsel auf: die Autobusse, das Bussgeld, das Metermass, zu Fuss gehen ... Ganz abgesehen von der abenteuerlichen Vermehrung von sss-Wörtern:
Massstab, Süssspeise, Fleisssache, Fussschweiss ....
6. Das liebe Geld
Wer für die Kompromißlösung, und damit für die ss-Schreibung votiert, scheint nicht zu bedenken, daß er damit der teuersten Lösung überhaupt das Wort redet. Neben der klassischen Orthographie und der seit 1996 inkonsequent umgesetzten „Reformschreibung“ wird eine neuerliche Reformschreibung, und damit die dritte große Schreibvariante in die Welt gesetzt: die auf der Reform basierende „Kompromißschreibung“. Ergebnis: Der gesamte jetzige Buchbestand wird zu 100% unbrauchbar – sowohl die klassisch gedruckten wie auch die seit 1996 in Reformschreibung erschienenen Druckwerke – also ausnahmslos alle! Der „Kompromiß“ macht sie zur Makulatur.
Würde man bei der „neuen“ Orthographie bleiben oder aber zur „alten“ zurückkehren, wäre nur ein Teil des Schrifttums entwertet und der wirtschaftliche Schaden überschaubar.
Ich sage es noch einmal: Mit Einführung einer neuen Reformschreibung – und nichts anderes ist dieser „Kompromiß“ – würden die Buchbestände in den Bibliotheken nicht nur zu 30, 50 oder 80, sondern zu 100% entwertet!
Ist das bedacht worden? Wird man sich diesmal (anders als 1996) um die Folgen der Umsetzung von Ideen in die Praxis Gedanken machen?
Zusammenfassung
Die sogenannte Rechtschreibreform hat sich als undurchführbar erwiesen. Unter Fachleuten gibt es niemanden mehr, der dies bestreitet. Nun stecken Politiker, Presse, Verlage und Pädagogik in einer schmerzhaften Klemme. Wie sich daraus befreien?
Nach gutem politischen Brauch wird ein Kompromiß gesucht. Einen, aus dem die Schriftsprache „ohne nennenswerten Schaden“ hervorgeht. Das ist reiner Euphemismus.
Schaden ist Schaden. Ob etwas mehr oder weniger – mit einem „Kompromiß“ entscheidet man sich immer auch für einen Schaden an der Kultursprache, und dies, obwohl es eine Möglichkeit gäbe, diesen ganz zu vermeiden. Man will aber den „nicht nennenswerten“ Schaden. Und dieser „Kompromißschaden“ berührt nicht nur die Substanz unserer Schriftsprache, sondern verursacht auch immense Kosten.
Pisa und die Vergeßlichkeit des Volkes
Pisa hat unseren Schülern mangelnde Lesekompetenz bescheinigt. Nicht Schreibkompetenz! Wozu also benötigen wir einen „Kompromiß“, der „ohne nennenswerten Schaden hinnehmbar“ ist? Um das Gesicht jener zu wahren, die sich jahrelang für die Sache engagiert haben? Sie werden die Niederlage verkraften, man wird es vergessen.
Die Schrift aber, sie wird uns bleiben.
Wer den ss-Kompromiß befürwortet, handelt im Interesse einer kleinen Minderheit, die ihre Interessen lautstark zu vertreten weiß und es versteht, eine Schar von sachlich schlecht beziehungsweise bewußt falsch informierten Mitläufern zu mobilisieren.
Eine Zeitung lebt von ihren Lesern. Mit der sog. Rechtschreibreform sind die Lesefreudigen im Lande verärgert und verstört worden. Für wen aber werden Zeitungen gedruckt, wenn nicht für den Leser?
– geändert durch Karin Pfeiffer-Stolz am 06.10.2004, 18.47 –
__________________
Karin Pfeiffer-Stolz
|