>>Der Bund darf nicht länger schweigen
– Fremde Federn –
Von Rupert Scholz
Die Rechtschreibreform ist gescheitert. Am grünen Tisch produziert oder diktiert, hat sie der Sprache buchstäblich Gewalt angetan und folgerichtig nicht die allseitige Akzeptanz gefunden, deren die Sprache als wichtigstes Mittel gesellschaftlicher Kommunikation bedarf. Und dies schon im sogenannten Erprobungsstadium. Deshalb bedarf es dringend der Revision, zumindest einer grundlegenden Reparatur. Aber wer sorgt dafür? Die Ministerpräsidenten der Länder sind gespalten, die eigentlich verantwortlichen Kultusminister zaudern oder suchen Zeit zu gewinnen, die Bundesregierung äußert sich zwiespältig oder gar nicht -- und für die Apologeten der Rechtschreibreform halten die inzwischen auf der Grundlage der neuen Rechtsprechung ausgebildeten Schulkinder als Ausrede für den begangenen Fehler her. Manche Verteidiger der Rechtschreibreform sprechen sogar davon, daß es doch „nur“ um die Orthographie, also nicht um die Sprache als Ganzes gehe. Dies ist grundfalsch. Denn die Rechtschreibung ist ein wesentlicher, ein grundlegender Teil jeder Sprache und Sprachkultur. Dies leugnet jetzt aber sogar der Vorsitzende der Zwischenstaatlichen Kommission für die Rechtschreibung, Blüml. Die Voraussage fällt nicht schwer, daß auch diese Kommission nichts anderes sein wird als ein Alibiunternehmen. Deshalb ist und bleibt die Politik gefordert.
Wenn man sich nicht rasch auf eine Rücknahme oder Reparatur der neuen Rechtschreibung einigt, dann droht ein Verfassungsproblem. In seiner Entscheidung vom 14. Juli 1998 hatte das Bundesverfassungsgericht die Rechtschreibreform allerdings noch nicht beanstandet. Damals ging es nur um die Frage, ob die schulische Umsetzung einer neuen Rechtschreibung der Gesetzesform bedarf. Dies hat das Bundesverfassungsgericht verneint. Aber es hat klare Maßstäbe für eine rechtmäßige Änderung der Rechtschreibung benannt. So hat das Bundesverfassungsgericht in aller Deutlichkeit festgestellt, daß „der Staat die Sprache nicht beliebig regeln kann“, daß „regulierende Eingriffe“ ihm, dem Staat, in der Regel oder grundsätzlich nur dann erlaubt sind, wenn es darum geht, „Vereinfachungen“ vorzunehmen oder „Widersprüche im Schreibusus und Zweifel an der richtigen Schreibung zu beseitigen“. Ebendiesen Maßstäben wird die Rechtschreibreform jedoch nicht gerecht. Sie verändert die Sprache, sie läßt diese sogar in ihrer bisherigen Mannigfaltigkeit verkümmern. Dies hat mit „Vereinfachung“ oder „Beseitigung von Widersprüchen oder Zweifeln“ nichts mehr zu tun. Dies ist vielmehr pure Willkür, geht an der Pflege gegebener Sprachkultur vorbei und ist damit in den Worten des Bundesverfassungsgerichts „beliebig“ und also verfassungswidrig. Deshalb fordert auch die Verfassung und hier vor allem die Grundrechte von Schülern wie Eltern die rasche Revision.
Zuständig hierfür sind zunächst die Länder: Sie sind für die schulische Ausbildung verantwortlich. Aber auch der Bund ist gefordert, stellt die Sprache doch als Grundelement nationaler Identität einen Grundtatbestand von gesamtstaatlicher Bedeutung dar. Einen verfahrensrechtlich tragfähigen Weg zur Lösung weist die Regelung des Artikels 91 b Grundgesetz, auf die auch das Bundesverfassungsgericht in seiner genannten Entscheidung hingewiesen hat.
Danach fällt der Komplex der „Bildungsplanung“, zu der naturgemäß die Pflege von Sprache und Rechtschreibung gehört, in die gemeinschaftliche Verantwortung von Bund und Ländern. Die Pflege der Rechtschreibung stellt sich also als Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Ländern dar, weshalb die Bundesregierung nicht länger schweigen darf. Abgesehen davon, daß die Rechtschreibreform auch einen außenpolitischen Regelungsgegenstand im Verhältnis zu den anderen deutschsprachigen Ländern darstellt, muß die Bundesregierung sich ihrer gesamtstaatlichen Verantwortung für das aufgetretene Problem besinnen. Bundesregierung und Länder sind deshalb aufgefordert, die Rechtschreibreform umgehend im Wege einer Vereinbarung gemäß Artikel 91 b Grundgesetz zurückzunehmen oder von Grund auf neu zu konzipieren. Zunächst sind jedoch die Länder selbst gefordert. Die Kultusminister stehen nicht nur vor einem sprachkulturellen Scherbenhaufen, sondern auch vor dem drohenden Verdikt eines evidenten Verfassungsverstoßes.
Der Verfasser lehrt Verfassungsrecht und war [Verfassungsrichter und] Bundesminister der Verteidigung. <<
Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 235 vom 8. Oktober 2004, S. 10
(übernommen von: http://www.vrs-ev.de/forum/viewtopic.php?p=2327&highlight=#2327 ;
Dank an Herrn Eicheler für den Hinweis!)
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Detlef Lindenthal
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