Keine Debatte wurde in den vergangenen Jahren über einen so langen Zeitraum so intensiv und auch emotional geführt wie die zur Rechtschreibreform. Befürworter wie Gegner lieferten sich wahre „Wort“-Schlachten, selbst das Bundesverfassungsgericht wurde bemüht. Ergebnis: Die reformierte Schreibung durfte seinerzeit mit all den bekannten Unzulänglichkeiten verkündet werden. Goethe, nicht nur viel- und weitgereist, wußte schon zu seiner Zeit: „Jede Lösung eines Problems ist ein neues Problem.“ Fürwahr! Es rächt sich heute, daß die Kultusministerkonferenz (KMK) 1996 nicht die notwendige Einsicht und Kraft hatte, die sogenannte Rechtschreibreform anzuhalten. Auch nach sechs Jahren reformierter Schreibung gibt es Unsicherheit, aber auch Ärger und Unbehagen in breiten Teilen der Bevölkerung. Sie hat bei vielen Menschen eher zur Verwirrung als zu mehr Klarheit beigetragen. Es ist Konfusion und Beliebigkeit im Umgang mit der Orthographie eingetreten. Die Entscheidung der KMK von Anfang Juni bestärkt mich in dieser Auffassung. Klarheit, Deutlichkeit und Eindeutigkeit braucht die deutsche Sprache. Oder soll es wirklich so sein, daß die deutschen Schüler eine andere Rechtschreibung lernen als Günter Grass, Martin Walser und andere sie verwenden? Soll es wirklich so sein, daß im Land der Dichter und Denker die Schülerinnen und Schüler anders schreiben als jene zeitgenössischen Schriftsteller, deren Texte sie in der Schule bearbeiten? Deutschland als Land zweier Schreibungen? Tatsächlich ist die Beherrschung der Rechtschreibung eine Kernkompetenz, ohne die in vielen Lebenslagen und Wissensgebieten keine wirkliche Verständigung möglich ist. Die Stärkung dieser Kernkompetenz hat für mich eine hohe Vorrangigkeit. Deshalb setze ich mich seit Jahren für die Beibehaltung der klassischen Rechtschreibung ein. Die gegenwärtige Debatte über Zustand und Zukunft der deutschen Sprache sehe ich als Gelegenheit, die Rechtschreibreform noch einmal grundsätzlich in Frage zu stellen. Doch Niedersachsen allein kann diese Reform nicht umkehren. Hierzu wird die Unterstützung aller Bundesländer, der Bundesregierung und der anderen mitunterzeichnenden Staaten benötigt. Nur gemeinsam kann ein solcher Umkehrungsprozeß eingeleitet werden, damit Deutschland gestärkt aus der orthographischen Krise herauskommt und die geschriebene deutsche Sprache wieder eine höhere Akzeptanz in der Bevölkerung findet. „Auf dem Gebiete der deutschen Rechtschreibung herrscht augenblicklich ein unerquicklicher und namentlich für die zum Lehren Berufenen unbefriedigender Übergangszustand“ beschreibt Konrad Duden die Lage, als er 1872 versuchte, die Vielfalt der in Schulen, Dienststellen und Verlagen herrschenden Schreibung zu vereinheitlichen. Diesen Gedanken Dudens, nämlich die Einheitlichkeit der Schreibung zu wahren, sollten wir wieder stärker in den Vordergrund stellen und nicht unter seinem Namen die Vielfalt und Beliebigkeit zulassen. Wenn sich im Oktober die Ministerpräsidentenkonferenz und anschließend im Lichte dieser Beratungen die KMK mit der Rechtschreibreform befassen, täten wir gut daran, endlich den Knoten zu durchschlagen und zur bewährten Rechtschreibung zurückzukehren. Politik muß auch in der Lage sein, Fehlentscheidungen zu widerrufen. Hierin zeigt sich wahre Größe. Dann sind Kompromisse und behutsame Veränderungen allemal möglich. Christian Wulff ist niedersächsischer Ministerpräsident und stellvertretender Vorsitzender der CDU. Erschienen am 20. September 2004 in der 17. Ausgabe der DEUTSCHEN SPRACHWELT. http://www.deutsche-sprachwelt.de
Christian Wulff äußert sich in der Bild am Sonntag, 19. 9. 2004: „Ganz unabhängig vom Ringen um die Rechtschreibreform überlegen wir, den Staatsvertrag über die Kultusministerkonferenz zu kündigen. Gründe gibt es reichlich. Ich kann zum Beispiel nicht verstehen, warum die KMK ihren Mitarbeitern eine Luxus-Besoldung zuschustert. Die dramatische Finanzlage der Länder ist doch bekannt. Mir drängt sich der Eindruck auf: Da sitzen 250 Leute, die keinen Respekt vor anderen Meinungen haben und kein Gespür für das, was geht und was nicht mehr geht.“
Christian Wulff äußert sich in der FAZ, 21. 9. 2004: „Niedersachsen überweist 2,5 Millionen Euro im Jahr an die KMK, den Großteil dafür könnte das Land sinnvoll für die eigenen Schulen verwenden.“ Heike Schmoll, FAZ vom 21. 9. 2004 S. 5: „Den Knoten endlich durchschlagen“. Wulff fordert die Ministerpräsidenten zur Rücknahme der Rechtschreibreform auf / Scharfe Kritik an der Kultusministerkonferenz / Kündigung des Staatsvertrags möglich (…) „Die Kultusministerkonferenz geht zurück auf eine Verabredung der Länder aus dem Jahr 1948, eine Ständige Konferenz zur Selbstkoordinierung der Länder zu gründen. Denn die Zuständigkeit für Bildung, Wissenschaft und Kultur bildet das Kernstück der Eigenstaatlichkeit der Länder. Die Kultusministerkonferenz hat keinen Verfassungsstatus, und ihre Beschlüsse haben auch keine entsprechende Rechtswirkung. Nur wenige Beschlüsse wurden in die Form gegenseitig rechtlich verpflichtender Staatsabkommen gebracht. Dazu gehört zunächst das Abkommen über die Gründung der KMK: Am 20. Juni 1959 hatten die Länder ein Abkommen geschlossen, das die Grundlage der Ständigen Geschäftsstelle der KMK bildet. Das Sekretariat habe seinen Sitz am Sitz der Bundesregierung, heißt es in dem Abkommen. Das Land Berlin wurde damals verpflichtet, das Sekretariat, das seinen Hauptsitz heute in Bonn hat, jedoch über ein Berliner Büro verfügt, in seinen Haushaltsplan aufzunehmen. Die Länder erstatten den rechnungsmäßigen Zuschußbetrag nach Königsteiner Schlüssel anteilig. Das Abkommen von 1959 wurde auf unbestimmte Zeit geschlossen. Es kann mit einer Kündigungsfrist von einem Jahr jeweils zum Ende des Haushaltsjahres gekündigt werden. „Die Kündigung durch ein Land bewirkt, daß das Abkommen mit Wirkung für alle Länder außer Kraft tritt“, heißt es in dem Abkommen. Niedersachsen könnte also durch eine schriftliche Erklärung in der Tat das Ende des Sekretariats der Kultusministerkonferenz besiegeln. Bei einer Neugründung könnte das Sitzlandprinzip zur Grundlage gemacht werden, es könnte auch geprüft werden, ob der personelle Umfang (180 Beschäftigte, davon 49 Beamte) tatsächlich nötig ist. Angesichts der finanziellen Einschnitte, die die Länder ihren Beschäftigten aufgrund der wirtschaftlichen Situation zumuten müßten, sei es nicht hinzunehmen, daß bestimmte gemeinsame Einrichtungen der Länder sich kostspielige Regelungen erhielten, die in den Ländern längst nicht mehr möglich seien, heißt es in Niedersachsen. Allerdings hätte Niedersachsen auch zu bedenken, daß es eine Pflicht der Länder zur Zusammenarbeit nach dem Verfassungsgrundsatz der Bundestreue gibt. Diese hatte das Bundesverfassungsgericht etwa in seinem Urteil zum Numerus clausus bestätigt. Die Notwendigkeit zur Zusammenarbeit der Länder sei durch den Grundsatz des bundesfreundlichen Verhaltens begründet, der auch die Länder untereinander zur gegenseitigen Abstimmung, Rücksichtnahme und Zusammenarbeit verpflichte.“ Das „Abkommen über das Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland“ vom 20. Juni 1959 – geändert durch Abkommen vom 25. Oktober 1991 – finden Sie vollständig hier weiter unten im Wortlaut; Klickziel: http://rechtschreibreform.de/Forum/showthread.php?postid=26126#post26126 |