Der neue Duden (2004) - Anfang
Das unmögliche Wörterbuch
(Eine gekürzte Fassung erschien in der FAZ vom 28.8.04)
Duden: Die deutsche Rechtschreibung. 23., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim u. a. 2004. 1152 S., geb., 20,00 Euro.
Unmittelbar vor dem Ende der Rechtschreibreform einen neuen Duden herauszubringen ist zweifellos mutig. Der Bertelsmann-Verlag verzichtet vorläufig darauf, seine Deutsche Rechtschreibung neu zu bearbeiten. Er reagiert damit auf den Beschluß der Kultusminister vom Juni dieses Jahres, erstmals die amtliche Neuregelung in zentralen Bereichen zu verändern, und will in anderen Publikationen sogar zur bewährten Rechtschreibung zurückkehren. Der neue Duden muß längst in Arbeit gewesen sein, als bekannt wurde, daß die Änderungen sich nicht im Rahmen des vierten Berichtes der Rechtschreibkommission halten sollten. Dieser Bericht war nach breiten Protesten der Öffentlichkeit überraschenderweise nicht verabschiedet worden. Die Verfasser suchten daraufhin ihr Heil in einer überstürzten Rettungsaktion, die sich hauptsächlich als unendliche Vermehrung der Varianten auswirkt, in einigen Bereichen jedoch zu einer grundsätzlichen und folgenreichen Umkehr führt.
Äußerlich scheint zunächst alles beim alten zu bleiben. Dem Wörterverzeichnis sind in bewährter Weise die von der Dudenredaktion formulierten Richtlinien vorangestellt und wie in der vorigen Auflage als Kennziffern K 1 bis K 169 durchnumeriert. Die Zahl entspricht also ziemlich genau den 171 orthographischen Richtlinien des alten Duden (die übrigen galten anderen Problemen); der Versuch, durch geänderte Numerierung eine Verminderung der Regeln vorzutäuschen, wird nicht noch einmal unternommen.
Am Ende des Bandes ist laut Ankündigung der unveränderte und vollständige 'Teil I: Regeln' der amtlichen Neuregelung abgedruckt. Das entspricht aber nicht der Wahrheit. Man findet dort vielmehr gerade den in zentralen Bereichen stark veränderten Regeltext. Da die amtliche Neufassung der Regeln falls die vor ihrer Auflösung stehende Kommission sie überhaupt fertiggestellt hat noch nicht veröffentlicht ist, läßt sich nicht beurteilen, ob der Text, der übrigens wiederum in abweisend winziger Schrift gesetzt ist, den Absichten der Kultusminister entspricht. Das gilt auch für die vielen geänderten Wörterbucheinträge. In der Einleitung zum Gesamtwerk ist nur von Präzisierungen und Ergänzungen die Rede, ganz im Sinne der kultusministeriellen Sprachregelung. In Wirklichkeit machen die Änderungen alle zwischen 1996 und 2004 veröffentlichten Wörterbücher wertlos.
Die Dudenredakteure dürften wissen, daß mit diesem Wörterbuch die letzte Runde der Rechtschreibreform eingeläutet ist. Sie spielen die orthographischen Probleme nach Möglichkeit herunter und werben statt dessen mit den obligaten 5.000 neuen Wörtern. Die hohe Zahl der 125.000 Stichwörter geht natürlich vor allem auf das Konto von orthographisch unergiebigen Zusammensetzungen. Einiges stammt aus dem unerschöpflichen Fundus des Vulgären: fremdficken, die Verarsche. Hinzu kommen die Stammformen starker Verben (glitt, ritt), die erstmals als eigene Einträge geführt sind. Im Duden-Universalwörterbuch, das nun wohl auch bald neu erscheint, haben über 5.000 weibliche Personenbezeichnungen (Erbsenzählerin, Kolonnenspringerin, Schrotthändlerin) andere, wichtigere Wörter verdrängt. So weit geht der Rechtschreibduden noch nicht, doch findet man auch im vorliegenden Band entlegene Einträge wie Ziegelbrennerin, Voltairianierin oder mechanisch hinzugefügte weibliche Personenbezeichnungen wie Globalisierungsgegnerin, Globetrotterin und Glockengießerin. Politisch korrekt (und neu) ist außerdem der Hinweis, daß man Schokokuss sagen soll und nicht N...kuss; auch unter Mohrenkopf und dem selten verwendeten Mohrenwäsche steht oft als diskriminierend empfunden ein Zusatz, der wohl kaum auf tatsächlicher Beobachtung beruht. Berliner und Frankfurter darf man weiterhin ungerügt essen. Wie in früheren Ausgaben straft der Duden die Nazigrößen Hitler, Goebbels und Göring (alle orthographisch relevant) sowie SA und SS durch Nichterwähnung, während Lenin, Stalin, Honecker und der SSD der DDR eingetragen sind eine wenig souveräne Art der Vergangenheitsbewältigung.
Auf das Vorwort folgt eine Liste der wichtigsten Regelergänzungen. Darin fehlt jedoch eine Änderung, die wahrscheinlich sogar die meisten redaktionellen Eingriffe verursacht hat: Die sogenannte Variantenführung ist aufgegeben, das heißt, alle Schreibweisen eines Wortes sind nun gleichberechtigt. Es war ja auch nicht einzusehen, warum Geographie gegenüber Geografie den Vorzug verdienen sollte, während es sich bei Pornografie und Pornographie gerade umgekehrt verhielt. Dafür sind nun die Neuschreibungen stets an erster Stelle angeführt, was gewiß den Eindruck erwecken soll, sie seien die moderneren und besseren. So steht Epoche machend vor dem erst jetzt wiederzugelassenen epochemachend. Bei blutbildend, blutreinigend, blutsaugend, blutstillend, Chansonnier, Ordonnanz, weitgehend sowie halbblind und ähnlichen Zusammensetzungen ist allerdings die herkömmliche Schreibung Hauptstichwort, und die Getrenntschreibung folgt als neue, rotgedruckte Variante.
Damit wenden wir uns der ersten wirklich auffallenden Änderung zu, der Getrennt- und Zusammenschreibung, die man zu Recht das Kuckucksei der Reform genannt hat. Paragraph 34, der die trennbaren Verben behandelt, ist weitgehend neu gefaßt. Unter dem Eindruck der sprachwissenschaftlichen Kritik wird erstmals der Begriff des Verbzusatzes eingeführt und das Kriterium der Betonung sowohl in die Regel als auch in die Erläuterungen aufgenommen. Die Reformer hatten sich bisher dagegen gewehrt, daß die Betonung als ein der gesprochenen Sprache entnommenes Kriterium auf die geschriebene Sprache angewendet werden soll (so der Reformer Burkhard Schaeder).
Die Liste der hundert Verbzusätze ist nicht nur um weitere Partikeln vermehrt (dahinter, darauf/drauf, darauflos/drauflos, darin/drin, darüber/drüber, darum/drum, darunter/drunter, davor, draus, hinter, hinterdrein, nebenher, vornüber), sondern außerdem geöffnet, so daß sie nunmehr mit einem ominösen usw. schließt. Da es um obligatorische Zusammenschreibung geht, kann man nur richtig schreiben, wenn man weiß, auf welche Wörter sich diese Vorschrift erstreckt. Noch im Frühjahr 2004 hatten die Reformer gegenüber ihren Auftraggebern darauf bestanden, die Liste müsse geschlossen bleiben, um nicht der Beliebigkeit Tür und Tor zu öffnen. Die nachträgliche, hastig eingearbeitete Änderung verrät sich noch an der linkischen Formulierung: Zusammensetzungen aus Partikel + Verb mit den folgenden ersten Bestandteilen, zum Beispiel ...
Die hinzugefügten Verbzusätze werden im Wörterverzeichnis ganz unterschiedlich behandelt. Der Informationskasten zu darauf ist falsch, da er immer noch die inzwischen aufgehobene Unterscheidung der vollen und der synkopierten Form (drauf) enthält und außerdem die Ausnahmeregel K 58 auf einen Fall von Getrenntschreibung anwendet, den es aufgrund der Revision nicht mehr gibt. Der Kasten zu darin/drin enthält ebenfalls noch die unkorrigierte Reformregel. hinterdrein laufen soll auch getrennt geschrieben werden können (Rotdruck), obwohl dies durch die Aufnahme in § 34 gerade unterbunden wird. darauflos fehlt als Eintrag gänzlich und ist unter drauflos falsch dargestellt. Zu draus und drum scheint der Duden kein einziges Beispielwort gefunden zu haben, bei hinter gibt es weiterhin nur ein paar seltene Dialektwörter (hinteressen).
Auf den Kopf gestellt wird ferner die Neuregelung von Zusammensetzungen mit einem Partizip gemäß § 36. Dieser umfangreiche Paragraph ist nun erst recht unverständlich, aber der Duden bringt das Entscheidende dankenswerterweise in die klarere und klar widersprüchliche Fassung der Richtlinie K 58: Partizipien richten sich nach den zugrunde liegenden Verbindungen mit Verben. Hier ist jedoch neben der Getrenntschreibung auch die Zusammenschreibung zulässig (§ 36 (39 U: E1, E2). Also richten sich die Partizipien gerade nicht nach den zugrundeliegenden Verben! Man kann sie nun wieder zusammenschreiben, und zwar nicht nur die steigerbaren, die unterderhand schon längst wiederhergestellt sind (aufsehenerregend), sondern auch die umfangreiche Restgruppe (blutsaugend, eisenverarbeitend, fleischfressend). Nicht unbedingt vorhersehbar war, daß dies auch für Zusammensetzungen mit dem Partizip Perfekt als Zweitglied gelten soll (verlorengegangen hier kommt noch ein Verstoß gegen § 36 E3 (4) [Partizip als Erstglied] hinzu). Beides zusammen ergibt Hunderte von wiederhergestellten Wörtern. Es folgt eine Liste der zusammengesetzten Partizipien, die durch die Reform von 1996 aus den deutschen Wortschatz getilgt, im Duden 2004 aber ausdrücklich wiederhergestellt sind:
abscheuerregend, achtunggebietend, ackerbautreibend, alleinerziehend, alleinseligmachend, alleinstehend, allgemeinbildend, andersdenkend, anderslautend, aneinandergrenzend, arbeitsuchend, aufeinanderfolgend, aufsehenerregend, aufsichtführend, aufwärtsfahrend, auseinanderfallend, außenliegend, beieinanderstehend, beifallheischend, bekanntwerdend, besorgniserregend, besserverdienend, bezugnehmend, blasenziehend, blutbildend, (blutreinigend), blutsaugend, (blutstillend), buchführend, buntschillernd, darauffolgend, datenverarbeitend, diensthabend, dienstleistend, diensttuend, doppeltwirkend, ehrfurchtgebietend, eierlegend, eisenschaffend, eisenverarbeitend, ekelerregend, enganliegend, entsetzenerregend, epochemachend, erdölexportierend, erdölfördernd, erfolgversprechend, erholungsuchend, (ernstzunehmend), fernliegend, festkochend, feuerspeiend, fischverarbeitend, fleischfressend, flottgehend, freilaufend, freilebend, freistehend, frohgelaunt, fruchtbringend, fruchttragend, funkensprühend, furchteinflößend, furchterregend, gefahrbringend, gegeneinanderstehend, getrenntlebend, (gewinnbringend), gleichbleibend, gleichdenkend, gleichlautend, glückbringend, glückverheißend, (grauenerregend), gutaussehend, gutsitzend, gutverdienend, haftenbleibend, händchenhaltend, handeltreibend, heilbringend, hellleuchtend, helllodernd, hierhergehörend, hilfesuchend, hintereinanderlaufend, hitzeabweisend, hochwachsend, holzverarbeitend, immerwährend, ineinanderfließend, insektenfressend, kaltlächelnd, klardenkend, knappsitzend, kohleführend, kostensenkend, kostensparend, kräfteraubend, kräftesparend, kraftraubend, kraftsparend, krebserregend, kreditsuchend, kriegführend, laubtragend, lebendgebärend, lebenspendend, lebenzerstörend, lederverarbeitend, leerstehend, leidtragend, linksstehend, maßhaltend, menschenverachtend, metallverarbeitend, mitleiderregend, naheliegend, nahestehend, nebeneinandersitzend, nichtsahnend, nichtssagend, notleidend, obenstehend, papierverarbeitend, parallellaufend, platzsparend, profitbringend, ratsuchend, raumsparend, rechtsstehend, respekteinflößend, rotglühend, schattenspendend, schaudererregend, scheelblickend, schlechtgehend, schleimabsondernd, schräglaufend, schreckenerregend, schwerwiegend, schwindelerregend, segenbringend, segenspendend, sicherwirkend, sinnstiftend, sporenbildend, sporentragend, sporttreibend, staatenbildend, staunenerregend, stressauslösend, stromführend, stromsparend, tiefgehend, tiefgreifend, tiefschürfend, tiefstehend, treusorgend, übelriechend, übelwollend, übereinanderliegend, unheilbringend, unheilkündend, unheilverkündend, untenliegend, untenstehend, untereinanderstehend, verderbenbringend, vertrauenerweckend, vielsagend, vielversprechend, vorwärtsweisend, wachestehend, walfangtreibend, wasserabstoßend, wasserabweisend, weißglühend, weitblickend, weiterbestehen, weitgehend, weitgreifend, weitreichend, weittragend, wichtigtuend, wildlebend, wildwachsend, wohlklingend, wohllautend, wohlmeinend, wohlriechend, wohlschmeckend, wohltönend, zähfließend, zeitsparend, zufriedenstellend, zugrundeliegend
andersgeartet, (andersgesinnt), außengelegen, auswärtsgerichtet, bekanntgeworden, bessergestellt, blankpoliert, blaugestreift, blaugefärbt, blaugefleckt, blindgeboren, blondgelockt, braungebrannt, breitgefächert, buntgefiedert, buntgemischt, dichtbehaart, dichtbevölkert, dichtgedrängt, dünnbesiedelt, dünnbevölkert, einwärtsgebogen, einwärtsgedreht, engbedruckt, engbefreundet, engumgrenzt, ernstgemeint, feingeädert, feingemahlen, feingeschnitten, feingeschwungen, feingesponnen, feingestreift, feinvermahlen, festgefügt, festgeschnürt, festangestellt, festbesoldet, festumrissen, festverwurzelt, fettgedruckt, fleischgeworden, frischgebacken, frühverstorben, frühvollendet, gargekocht, genaugenommen, geradegewachsen, gerngesehen, glattgehobelt, (gleichbeschaffen, gleichgeartet), gleichgestimmt, graugestreift, graumeliert, grellbeleuchtet, grobgemahlen, grobgestrickt, großangelegt, großgemustert, großgewachsen, großkariert, gutbezahlt, gutgebaut, (gutgelaunt), gutgemeint, gutgeordnet, gutgepflegt, (gutgesinnt), gutsituiert, gutunterrichtet, halbverhungert, hartgebrannt, hartgefroren, hartgekocht, heißbegehrt, heißersehnt, heißgelaufen, heißumkämpft, heißumstritten, hochangesehen, hochbegabt, hochbesteuert, hochbezahlt, hochdosiert, hochdotiert, hochentwickelt, hochgebildet, hochgeehrt, hochgelehrt, hochgelobt, hochgespannt, hochgesteckt, hochgestellt, hochgewachsen, hochindustrialisiert, hochkompliziert, hochmotiviert, hochqualifiziert, hochspezialisiert, hochtechnisiert, höhergestellt, ineinandergesteckt, kleingedruckt, kleingemustert, kleingewachsen, kleinkariert, knappgehalten, kurzgebraten, kurzentschlossen, kurzgefasst, kurzgeschnitten, langgehegt, langgestreckt, langgezogen, längsgestreift, leichtbehindert, leichtbeschwingt, leichtbewaffnet, leichtgeschürzt, leichtverletzt, leichtverwundet, liebgeworden, (nahverwandt), nassgeschwitzt, neubearbeitet, neueröffnet, neugeschaffen, (niedriggesinnt), obenerwähnt, obengenannt, obenzitiert, parallelgeschaltet, privatversichert, quergestreift, reichgeschmückt, reichverziert, rotgestreift, rotgeklinkert, rotgestreift, rotgeweint, rückwärtsgewandt, schiefgewickelt, (schlechtgelaunt), schwachbegabt, schwachbetont, schwachbevölkert, schwachbewegt, schwarzgerändert, schwarzgestreift, schwerbeladen, schwerbewaffnet, schwerverletzt, schwerverwundet, selbsternannt, selbstgebacken, selbstgebraut, selbstgedreht, selbstgemacht, selbstgenutzt, selbstgeschneidert, selbstgeschrieben, selbstgestrickt, selbstverdient, sogenannt, spätvollendet, strenggenommen, tiefbewegt, tiefempfunden, tiefergelegt, tieferschüttert, tiefgefühlt, tiefverschneit, totgeboren, treuergeben, treugesinnt, übelberaten, übelgelaunt, übelgesinnt, untenerwähnt, untengenannt, verlorengeglaubt, vielbefahren, vielbeschäftigt, vielbeschworen, vielbesprochen, vieldiskutiert, vielerörtert, vielgefragt, vielgekauft, vielgelesen, vielgepriesen, vielgeschmäht, vielgereist, vielumworben, vielzitiert, vollbeladen, vollbesetzt, vollentwickelt, vollgepfropft, weichgekocht, weißgekleidet, weitgereist, weitverbreitet, weitverzweigt, wohlausgewogen, wohlbedacht, wohlbehütet, wohlberaten, wohldosiert, wohldurchdacht, wohlerhalten, wohlerwogen, wohlerzogen, wohlgeformt, wohlgelitten, wohlgenährt, wohlgeordnet, wohlgeraten, (wohlgesinnt), wohlproportioniert, wohlsituiert, wohlüberlegt, wohlversorgt, wohlverwahrt, wohlvorbereitet, zartbesaitet
Nicht ausdrücklich erwähnt, aber nach derselben Regel ableitbar ist eine unbegrenzte Zahl weiterer Zusammensetzungen wie: abwärtsgegangen (auch mit anderen Verben, ebenso mit aufwärts usw.), leergelaufen, lebendgeboren, bekanntgegeben/-gemacht/-geworden, anheimgefallen, daheimgeblieben, fallengelassen, sitzengelassen, gefangengehalten, kahlgefressen, kennengelernt, lahmgelegt, rechtsgerichtet, saubergehalten, scharfblickend, schiefgegangen, vielgeliebt, vollgetankt, warmgehalten, zivildienstleistend, zufriedengestellt ...
Es ist also ungeachtet des vielen Rotdrucks auf den ersten Blick alles wieder so wie vor der Reform, denn selbstverständlich schrieb man seit je, daß zum Beispiel die blutsaugenden Tiere frisches Blut saugend ihr Leben fristen. Allerdings waren die Bedingungen, unter denen getrennt bzw. zusammengeschrieben wurde, früher klarer, denn jetzt wird zu Unrecht völlige Austauschbarkeit suggeriert. Einer der Gründe, warum die Varianten keineswegs gleichwertig sind, wird regelmäßig unterdrückt: bei prädikativem Gebrauch (... ist Epoche machend) wäre die Getrenntschreibung ungrammatisch. Dasselbe gilt für jene vielen Zusammensetzungen, die um der gesamthaften Steigerung willen wiedereingeführt sind: Heil bringend, auch heilbringend. Zwar wird angeführt, daß zu schreiben sei: göttliches Heil bringend, aber eine noch heilbringendere Botschaft. Wiederum fehlt der Hinweis, daß ... ist Heil bringend falsch wäre. Vor der Reform war all dies vollkommen klar und stand so auch in der Dudengrammatik (6. Aufl., S. 190 u. 193; ähnlich in der Bertelsmanngrammatik) sowie in der großen Grammatik des Instituts für deutsche Sprache (vgl. S. 2208 über die Unmöglichkeit prädikativer Verwendung von Part I, außer wenn es volladjektivisch ist).
Unentbehrliche Wörter wie schwerbehindert sollten zuerst beseitigt, dann unter Hinweis auf ihre Fachsprachlichkeit wiederhergestellt werden; nun genügt die Ableitung von K 58. Auch das Allerweltswort sogenannt gibt es wieder, die Auseinanderreißung ist nicht mehr verbindlich. Aber auch hier darf nicht wie früher zwischen sogenannten Reformen und von manchen Leuten nur so genannten unterschieden werden ein eklatanter Verlust an Deutlichkeit. Für anspruchsvollere Autoren und Leser ist die nochmals neu geregelte Sprache so unbrauchbar wie die vor acht Jahren konstruierte.
In welches logische Dilemma die hastig geänderte Neuregelung führt, zeigt das folgende Beispiel: Verbindungen wie leichtverletzt waren 1996 gemäß § 36 zugunsten der Getrenntschreibung beseitigt worden. Nun werden sie wiederzugelassen, wenn das Partizip adjektivisch gebraucht wird (was immer das heißen mag; eine Erklärung sucht man vergebens). Liegt als zweiter Bestandteil aber tatsächlich ein echtes Adjektiv vor, so ist nur Getrenntschreibung zulässig: leicht verdaulich, schwer löslich. Das ist an sich schon paradox; hinzu kommt aber noch, daß gerade das verbotene leichtverdaulich oft gesamthaft gesteigert wird (noch leichtverdaulicher) und damit als Zusammensetzung seine adjektivische Qualität beweist. Mit dem adjektivischen Gebrauch kann nicht der attributive gemeint sein, sonst wären Einträge wie der folgende unverständlich: da bist du aber schief gewickelt, auch schiefgewickelt. Hier liegt zweifellos ein unbewältigtes Problem der überstürzten Revision verborgen, das seine toxische Wirkung auf den gesamten Wortschatz erst noch entfalten dürfte.
Die ungeheure Vermehrung der Varianten geht hauptsächlich darauf zurück, daß die Reformer keine einzige neue Schreibweise zurücknehmen. Damit wollen sie vor allem den Kultusministern die beruhigende Behauptung ermöglichen, keine richtige Schreibweise werde durch die Revision falsch. Wie wir gesehen haben, trifft das nicht zu; außerdem werden falsche Schreibweisen nunmehr richtig, was für den korrigierenden Lehrer dieselbe Folge hat. Im übrigen ist aber die große Zahl von Varianten, die nicht einmal einer Beobachtung des Sprachwandels, sondern reiner Verlegenheit entstammen, von vornherein fragwürdig. Der führende Reformer Dieter Nerius schrieb schon 1980: Eine Änderung der Orthographie, die, von einer Übergangszeit abgesehen, darauf gerichtet sein sollte, in der Rechtschreibung große Bereiche der Variabilität zu etablieren, [dürfte] wenig erfolgversprechend sein. (Nerius/Scharnhorst, Hg.: Theoretische Probleme der deutschen Orthographie. Berlin 1980, S. 50)
Trotz der ungeheuren Zahl wiederbelebter Wörter bleibt noch viel zu tun, denn die Revision ist bei weitem nicht konsequent durchgeführt. K 58 erweist sich als schwarzes Loch, in dem zahllose Reformvorschriften auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Es gibt keinen Grund, großgeschrieben (in jeder Bedeutung) auszusparen, nachdem fettgedruckt, großgedruckt und das Kleingedruckte bereits wiederhergestellt sind. Die Kästen zu groß und klein, die übrigens aus unerfindlichen Gründen verschieden aufgebaut sind, geben keinen endgültigen Aufschluß. Zum eisernen Bestand der Reform gehört die Vorschrift, Zusammensetzungen mit Wörtern auf -einander und -wärts nicht mehr zuzulassen; und diese Regel wird ausdrücklich beibehalten. Zugleich überspielt aber K 58 sogar dies: aufeinanderfolgend, übereinanderliegend, auswärtsgerichtet, aufwärtsfahrend und viele andere sind wieder da. Deshalb ist nicht einzusehen, warum dieselbe systematische Ausnahme nicht auch für die besonders willkürliche Bestimmung gelten soll, keine Zusammensetzungen mit Adjektiven auf -ig, -lich und -isch zu bilden. Aus der Zwischenstaatlichen Kommission verlautet unterdessen, daß dies in der Tat so beabsichtigt sei: übriggeblieben, fertiggestellt usw. müßten ebenfalls im Sinne der neuen Regel wiederhergestellt werden. Diesen Weg könnte auch das bereits wiederaufgenommene alleinseligmachend weisen, ganz abgesehen von jenem richtiggehend, das als erratischer Eintrag im amtlichen Wörterverzeichnis von Anfang an eine nicht näher begründete Ausnahme darstellte. Eine weitere Ausnahme von der Ausnahme ergibt sich bei Verbindungen der Positionsverben mit bleiben und lassen: sitzengeblieben, stehengelassen usw. sind nicht angeführt, obwohl sie gemäß K 58 korrekt sind.
Die Folgen für die Schule kann man sich leicht denken: Deutschlehrer, die im Wörterverzeichnis nach fertiggestellt, saubergehalten oder sitzengeblieben suchen, finden zwar nichts, aber sie werden sich hüten, solche Schreibweisen als falsch anzustreichen, denn für einen intelligenten Schüler oder dessen rechtskundige Eltern sind sie aus K 58 ableitbar. All dies mag in der alsbald fälligen nächsten Auflage nachgeholt werden, und erst dann ist der Zustand, wie er vor der Reform zur allgemeinen Zufriedenheit der Lesenden und Schreibenden herrschte, vollständig wiederhergestellt. A propos: wiederherstellen darf laut neuester Dudeneinsicht nur zusammen-, wiederherrichten dagegen nur getrennt geschrieben werden, und bei wiederaufbereiten ist beides möglich. Es gibt Dutzende von unvorhersehbaren Entscheidungen dieser Art allein bei wieder-, wohl- und hoch-. Hinzu kommen völlig unrealistische Betonungsangaben, zum Beispiel Anfangsakzent bei zusammengeschriebenem wiederaufbereiten (was außerdem der Darstellung als bloßer orthographischer Variante widerspräche, wenn es zuträfe).
In Fällen wie offengesagt wird Zusammenschreibung sogar entgegen dem bisher Üblichen neu eingeführt. menschenverachtend wird ausdrücklich wiederzugelassen, das auf einem grammatischen Irrtum beruhende Menschen verachtend aber immer noch nicht aufgegeben. Hier besteht weiterer Änderungsbedarf. vollgefressen darf man zusammenschreiben, wenn es dickleibig bedeutet, sonst nicht. Damit haben die Reformer ihren allerdings recht seltsamen Grundsatz aufgegeben, die Schreibweise vom Transport semantischer Informationen entlasten zu wollen (Reformvorlage 1992, S. 147) als ob es beim Sprechen und Schreiben um etwas anderes ginge als Bedeutungsvermittlung. Wer hätte übrigens gedacht, daß schmerzstillend anders geschrieben wird als blutstillend, nämlich nur zusammen? Dieselbe Unterscheidung findet man bei kostendeckend gegenüber Kosten senkend, kräftezehrend und Kräfte raubend. Vielleicht hat die Redaktion keine Zeit mehr gehabt, diese Unstimmigkeiten auszuräumen in einem Leitwörterbuch der deutschen Orthographie wirken sie recht störend.
Abschließend kann man zu diesem Bereich sagen: Durch die Neufassung von § 34 werden Hunderte von richtigen Getrenntschreibungen falsch, durch den neuen Paragraphen 36 werden ebensoviele falsche Zusammenschreibungen wieder richtig. Die Folgen sind dieselben, ein Desaster für den Deutschunterricht und, nebenbei bemerkt, auch für die Schulbuchverleger, die immer noch verblendet genug sind, die Revision für harmloser zu halten als die entschlossene Umkehr. So wird um nur ein Beispiel zu nennen in dem bekannten Sprachbuch Verstehen und Gestalten (Bd. 7, 1997, S. 222) erwartet, daß die Schüler hochbegabt und vielversprechend getrennt schreiben. Das ist nun auch offiziell überholt und muß geändert werden.
Beim Bindestrichgebrauch sah die Neuregelung eine überflüssige Generalisierung vor, indem sie den Bindestrich auch für Zusammensetzungen mit arabischen Ziffern verpflichtend machte: 8-jährig, die 8-Jährige. Die jetzt eingeführte Schreibweise 8-fach, das 8-Fache widerspricht allerdings der reformierten Grundregel, daß nur Zusammensetzungen, nicht aber Ableitungen mit Bindestrich geschrieben werden (§ 40f.). Es gibt ja gar kein Faches. Ein Grund für diese neue Ausnahme ist nicht erkennbar. Im Wörterverzeichnis des neuen Duden ist sie zwar bei achtfach eingetragen, nicht aber unter ...fach und ...fache. Ein weiterer Widerspruch der Neuregelung bleibt erhalten: Auch Bindestrichkomposita sind Komposita (siehe die Vorbemerkungen zum Kapitel C); daher entsprechen die weiterhin zulässigen Schreibweisen wie römisch-katholisch nicht dem generellen Verbot von Zusammensetzungen mit Adjektiven auf -ig, -lich und -isch.
Ein weiterer Stein des Anstoßes war die reformierte Groß- und Kleinschreibung. Im Deutschen werden feste Begriffe in zunehmendem Maße groß geschrieben, weit über das laut Duden zulässige Maß hinaus: Erste Hilfe, Schneller Brüter usw. Dieser modernen Entwicklung stemmte sich die Reform entgegen, indem sie generelle Kleinschreibung verordnete: erste Hilfe, schwarzes Brett, hohes Haus. Sogar die reformfreundlichen Nachrichtenagenturen verweigerten hier die Gefolgschaft. Die Reformer wollen nun für den Gebrauch in manchen Fachsprachen die abgeschaffte Großschreibung fester Begriffe wieder zulassen. Bereits in der Einleitung wird darauf hingewiesen, daß zum Beispiel der Goldene Schnitt wieder erlaubt sei. Schlägt man jedoch im Wörterverzeichnis nach, so scheint die Botschaft dort noch nicht angekommen zu sein, denn es wird, gerade unter Hinweis auf den fachsprachlichen Gebrauch (Math.) ausschließlich Kleinschreibung erlaubt. Dasselbe gilt für das gelbe/Gelbe Trikot, die aktuelle/Aktuelle Stunde, die erste/Erste Hilfe, der letzte/Letzte Wille, die neuen/Neuen Medien und viele Ausdrücke, die nicht schon im Duden-Regelwerk angeführt sind. Die Umarbeitung des Wörterbuchs wurde hier anscheinend vorzeitig abgebrochen. Übrigens ist der Begriff der Fachlichkeit so weit gefaßt, daß eigentlich alles darunterfällt. Das hatte der Reformer Gerhard Augst schon in der Märkischen Allgemeinen Zeitung vom 2.5.2002 zu erkennen gegeben, wo er auch die Wiederherstellung der Ersten Hilfe ankündigte. Eine besonders knapp geratene Anfrage mag kleine Anfrage, ein mißfarbener Star grauer Star genannt werden, aber darum geht es hier natürlich nicht; die fraglichen Ausdrücke sind per se fachsprachlich und daher groß zu schreiben. Einerseits soll die Neuregelung nicht für Fachsprachen gelten, denen damit jeder Grund genommen wird, gegen den Eingriff zu protestieren, andererseits sind doppeltkohlensauer, Gelbe Rübe oder Klitzingeffekt genuine Fachausdrücke, und dennoch wird ihre Schreibweise durch rotgedruckte Einträge neu geregelt. Auch heiligsprechen könnte unter dem Fachsprachenvorbehalt über das ohnehin wankend gewordene Verbot von Zusammenschreibungen mit Adjektiven auf -ig hinweg gerettet werden. Daß die Fliegenden Fische neuerdings groß geschrieben werden sollen, wird ausdrücklich mit dem Hinweis auf das Fachgebiet der Zoologie begründet. Der systematische Unterschied zwischen Erster Hilfe und irgendeiner besonders früh geleisteten ersten Hilfe läßt sich aber mit der Reformschreibung weiterhin nicht zum Ausdruck bringen. Auch regeltechnisch ist die Formulierung mißlungen:Im nicht fachsprachlichen Zusammenhang ist die Kleinschreibung der Adjektive in solchen Wortgruppen der Normalfall. Das ist, abgesehen von der seltsamen Formulierung, als Anweisung unbrauchbar und als statistische Beschreibung des Üblichen offensichtlich falsch.
Mit der bereits seit Jahren angekündigten Ausweitung der Großschreibung (bei Weitem, von Neuem, das Meiste) wirft die Reform die Sprachentwicklung tief ins 19. Jahrhundert zurück. Das Antiquierte dieser Regelung wird an Beispielen wie Er sah vom Einen zum Anderen (im Kasten zu ein) unmittelbar deutlich. Die Neuregelung wirkt nach wie vor willkürlich und überflüssig (zu Nutze, zu Schulden kommen lassen, andererseits zurate, vonseiten usw.); teilweise bleibt sie grammatisch falsch (Pleite gehen, Recht haben, Leid tun). Die Revision wurde nicht als Gelegenheit genutzt, wenigstens die gröbsten Irrtümer zu beseitigen. Der alte Fehler der Reformer, die Adjektive feind, freund als Substantive zu verkennen, ist nicht korrigiert; es heißt immer noch jdm. Feind/Todfeind sein. Mit der Frage, aufgrund welches Paragraphen jenseits von gut und böse neuerdings klein geschrieben werden muß, könnte man eine gesellige Runde einen ganzen Abend lang beschäftigen.
(Fortsetzung folgt)
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Th. Ickler
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