Größere Logik in der neuen ss-Regel?
Ich möchte hier nicht die etwas ermüdende Diskussion um Feinheiten der Heyse-Schreibung vermehren, will aber doch einen (gering veränderten) Text zur Diskussion stellen, den ich ins SPIEGEL-Forum gesetzt habe, um die angeblich größere Logik der Heyse-Regel etwas in Frage zu stellen.
[Zitat:] Ich habe mich hier z.B. von der größeren Logik der neuen ss-Regel überzeugen lassen,…
Es ist nicht möglich, die „Logik“ des „neuen“ ss-Systems von 1829 nach Heyse mit derjenigen der seit sechshundert Jahren gebräuchlichen, von Adelung um 1780 geringfügig modifizierten Darstellungsweise zu vergleichen, denn diese Systeme wirken in unterschiedlichen Ebenen. Letztlich zählt das Ergebnis.
Das „ß“ wurde vor 1400 entwickelt zur graphischen Markierung eines scharfen „s“ am Wort- oder Silbenende.¹ Innerhalb eines Wortstammes wurde dagegen zweimal lang „ss“ geschrieben. Seit Adelung wird das „ß“ auch dann gesetzt, wenn der s-Laut nur der zweiten Silbe angehört: „Ma-ße“ gegenüber „Mas-se“. Bei stimmhaften „s“ in tonloser Endstellung und unbetonten Endsilben wird nur ein einfaches „s“ geschrieben: „Mus“ wegen „Gemüse, Muse“ und „Erlebnis“.
Insgesamt ergibt sich ein leicht lernbares und lesefreundliches Schriftbild.
Die phonetische „Umfunktionierung“ des „ß“ nach dem Gymnasiallehrer Heyse (gest. 1829) nimmt auf seinen eigentlichen Entstehungsgrund, die Ästhetik und Lesefreundlichkeit, keine Rücksicht, sondern will das Zeichen nach einem langen Vokal geschrieben haben, während nach kurzen betonten Vokalen „ss“ eintreten soll. Dieses eingängige, scheinbar leicht lernbare Prinzip ist aber erst mit zahlreichen Zusatzregeln anwendbar:
Das s in einem Stamm-st wird auch nach kurzem Vokal nicht verdoppelt (nicht „Masstschwein“) und nach einem langen Vokal nicht als „ß“ geschrieben, trotz neuer s-t-Trennung (nicht „Huß-ten“). Bei kurzem, unbetontem Vokal soll ebenfalls nicht verdoppelt werden (nicht „Wildniss“). Wenn der Stamm in anderen Formen ein stimmhaftes „s“ enthält, soll auch nach einem Langvokal nur „s“ geschrieben werden (nicht „Muß“), es soll kein „ss“ gesetzt werden, auch wenn die neue Silbentrennung das nahelegt (nicht „Diss-tanz“, „rass-ten“) oder ähnlich klingende Wörter dazu anregen (nicht „Nazissmus“ wegen „Narzissmus“). Es darf auch nicht ausgenutzt werden, daß nun die Längenmarkierung des „ie“ überflüssig ist (nicht „sie lißen“), oder daß nun das „ß“ als Längenhinweis entbehrlich ist (schweizerisch „sie liessen“). Gerade letzteres führt, in Konkurrenz zur parallel weithin gebräuchlichen ß-losen (Schweizer) Schreibung, zu einer großen Unsicherheit, wie auch, daß Vokallängen landschaftlich unterschiedlich sind und von vielen nicht sicher erkannt werden. In Großbuchstaben scheitert das phonetische System, wenn man nicht das kleine „ß“ in ihre Reihe einschleust – ein ziemlich häßlicher Einfall.
Die Heyse-Schreibung ist nur kurze Zeit vor 1900 in Österreich experimentell erprobt worden. Den Teilnehmern der orthographischen Konferenz von 1901 war sie durchaus bekannt. Aber schon auf der Ersten Orthographischen Konferenz 1876 wurde gesagt, es könne der „Redner bezeugen, daß auch wer danach unterrichtet werde, die Heysesche Regel später wieder aufzugeben pflege.“ Ein wichtiger Grund für die allgemeine Ablehnung dürfte aber auch die Tatsache gewesen sein, daß sich die damals überwiegend übliche Frakturschrift im Heyse-System nicht mehr stilrichtig schreiben läßt. Seit Hitlers Abschaffung der Fraktur an den Schulen 1941 ist ihr Gebrauch stark zurückgegangen. Die „Rechtschreibreform“ wird dieser aussterbenden Kulturtradition den Todesstoß versetzen. Dank unserer heutigen Wegwerfkultur werden viele das sogar gut finden und manche andere überhaupt nicht bemerken. Zu denen zählen wohl die meisten unserer Politiker.
Übrig bleibt, daß die „neue“ ss-Schreibung als das leicht kontrollierbare Zeichen der Unterwerfung unter das Diktat der Kulturbürokraten wirkt, während das eigentliche Ziel der „Reform“, das leichtere, fehlerfreiere Schreiben, ins Gegenteil umgeschlagen ist. Schließlich muß alle Literatur, die seit 1900 gedruckt vorliegt, in Zukunft für den Schulgebrauch konvertiert werden und ebenso für die breite Masse. Dies verlockt zu weiteren Eingriffen, so daß wir nie sicher darüber sein können, was der ursprüngliche Ausdruckswille des Verfassers war – ein Zustand, den wir seit 1900 beendet glaubten. Wir sollten uns nicht ohne Not auf diese neue „Missschreibung“ einlassen.
Anmerkung:
¹) Das „ß“ entstand aus mittelalterlichen Kürzeln und ist seit 600 Jahren untrennbar mit der „deutschen“ Frakturschrift verbunden. In der italienischen Antiqua tritt es vor 1500 als Ligatur von lang und rund „s“ auf, naturgemäß nicht am Ende. Im Deutschen werden beide ß-Formen gleichwertig verwendet, sichtbar im Wort „GeneralBaß“ in beiderlei Schriftarten bei Michael Prätorius (1619). Durchgängige Antiquatexte auf deutsch werden allerdings erst um 1800 häufiger. Das „ß“ ist also keineswegs „Fraktur in meiner Buchstabensuppe“, wie ein Titel der FAZ vom 6.11.2002 suggeriert.
(Korrekturen und Anregungen sind erwünscht.)
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Sigmar Salzburg
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