Gremien sind mit Vorsicht zu genießen
FAZ, 28. 6. 2004:
Die Ministerpräsidenten müssen reden
Ein Gespräch mit Niedersachsens Regierungs-Chef Christian Wulff über die Rechtschreibreform
Herr Wulff, Sie haben die Rückkehr zur bewährten Rechtschreibung gefordert. Seit 1995 opponieren Sie gegen die Rechtschreibreform, zum Teil gemeinsam mit den sogenannten „Jungen Wilden“ Ihrer Partei. Was ist aus Ihren Mitstreitern von damals geworden, stehen Sie auch jetzt an Ihrer Seite?
Ich war ja, wie der Spargel, lange unter der Erde. Natürlich habe ich auch schon als Bundesvorstandsmitglied der CDU, gemeinsam mit den „Jungen Wilden“, mit der Fraktion darüber gesprochen. Damals sagten alle, das sehen wir genauso: Diese Reform ist ein Fehler. Zwischen 1995 und 2003 habe ich als Oppositionsführer 25 Pressemitteilungen gegen die Rechtschreibreform verfaßt.
Ist das alles wirkungslos verpufft?
Weitgehend, leider. Jetzt habe ich der Kommission noch einmal einen Brief geschrieben, einige meiner Vorschläge zur Getrennt- und Zusammenschreibung scheinen sogar Gehör gefunden zu haben. Die Kommission hat mir aber nie geantwortet. Das ist schon erstaunlich. Für mich ist die Entstehungsgeschichte der Rechtschreibreform mit der Sorge um eine Eigenentwicklung der DDR in der deutschen Sprache in den neunziger Jahren verbunden. Dieser Grund ist 1989/90 weggefallen, und man hätte das ganze Projekt beenden können. Ideologen haben dann diese Kommission in Gang gehalten, die sich verselbständigte und nie wieder einzufangen war. Warum sich viele Kultusminister die Argumente dieser Kommission zu eigen machten, habe ich nie begriffen. Aber ich weiß, daß von der Kultusministerkonferenz schon seit Mitte der neunziger Jahre keine Einsicht oder gar Umkehr mehr zu erwarten ist.
Aber als Niedersachsens Ministerpräsident können Sie doch Einfluß nehmen. Wäre der Mainzer Beschluß zustande gekommen, wenn Sie dafür gesorgt hätten, daß Ihr Kultusminister Busemann ein Veto einlegt?
Das ist eine berechtigte Frage. Ich glaube nicht, daß man im Bereich der Kultusministerkonferenz des Themas Herr werden kann. Nachdem die Rechtschreibreform sich verselbständigt hat und lange Jahre von der Kultusministerkonferenz gedeckt wurde, ist das entweder hinzunehmen oder auf höchster Ebene zwischen Bundesregierung und vor allem den Ministerpräsidenten noch einmal grundsätzlich in Frage zu stellen. Ich war beim „Großen Deutschtest“ bei RTL, daran haben 50 000 Fernsehzuschauer teilgenommen. Das Ausmaß der Fehlerquoten war unendlich. Dieses Erlebnis hat mich noch einmal zu einer intensiveren Beschäftigung mit der neuen Rechtschreibung geführt. Was ist aus der Reform geworden? Doppelzulässigkeiten, gleichberechtigte Varianten, Beliebigkeit. Ich werde in diesem Leben Briefe, an meine Frau, an meine Freunde, bei der Anrede groß schreiben. „Dir“ und „Euch“ werde ich niemals klein schreiben. Der Beliebigkeit ist aber inzwischen Tür und Tor geöffnet, alles ist zulässig. Es geht getrennt und zusammen, groß und klein. Das darf und kann sich eine Sprache nicht leisten, schon gar nicht, wenn sie sich im internationalen Vergleich behaupten muß. Ich erwähne nur das Stichwort „Denglish“. Wer sich differenziert ausdrücken kann, der kann auch differenzierter denken. Und wer es auf Vereinfachung anlegt, der macht es den Leuten nicht unbedingt einfacher, sondern unter Umständen schwerer, weil sie komplexere Vorgänge nicht mehr entsprechend verarbeiten können. Es gibt ja Untersuchungen, die besagen, daß die Zahl derer ständig wächst, die Sätze mit mehr als zwölf Wörtern schlicht nicht mehr begreifen können. Wir geraten zunehmend in einen Zustand der Verhunzung unserer Sprache. Das alles ist erschreckend und traurig.
Was wollen Sie dagegen tun?
Die Lage ist doch sehr überschaubar. Entweder wir haben die nächsten fünf Jahre diese als verheerend und diffus eingeschätzte Situation, um dann mit einem nächsten Reformakt neue Verunsicherung zu schaffen und womöglich noch mehr Beliebigkeit zu ermöglichen. Oder es gibt ein Echo. Ich will mich nicht überschätzen, aber nach der zustimmenden Reaktion meines saarländischen Kollegen Peter Müller stehen wir nun vor der Frage, wie wir in der Runde der Ministerpräsidenten noch mehr Kollegen dazu bewegen, sich der Sache anzunehmen. Die Ministerpräsidentenkonferenz sollte jetzt endlich über die mißlungene Rechtschreibreform reden. Und wenn ein sozialdemokratischer Ministerpräsident, Steinbrück oder Beck oder Simonis oder Scherf, morgen erklären würde, daß er die Sache genauso sieht, dann würde ich sofort eine parteiübergreifende Initiative noch für die nächste Ministerpräsidentenkonferenz starten.
Also wollen Sie endlich die Kultusministerkonferenz von einer Last befreien, der sie nie gewachsen war?
Aber dazu bedarf es notwendigerweise eines breiteren Fundaments, das Sie, Ihre Kollegen und viele andere ja vielleicht zur Zeit herstellen. Sie haben mich ja zu Recht gefragt, was ich vor und während meiner Amtszeit in der Sache unternommen habe. Vielen Kollegen, die länger als ich im Amt sind, stellt sich diese Frage ungleich drängender. Es gibt den alten Satz: Die Regierungen wechseln, und die Beamtenschaft bleibt die gleiche. Ich glaube nicht, daß man das auf der Ebene der Kultusminister retten kann. Das geht wirklich nur in der Ministerpräsidentenkonferenz, im Grunde genommen auch nur mit der Rückendeckung der Bundesregierung, weil wir die Schweiz und Österreich in ihrer Souveränität respektieren müssen.
Was dürfen Sie von der Bundesregierung erwarten?
Ach, manchmal denke ich, die Rechtschreibreform sei nur für Gerhard Schröder und Frau Bulmahn gemacht worden. Schröder hat sich wohl nie intensiv damit beschäftigt. Dieses Desinteresse macht ihn bei vielen populär. Frau Bulmahn kenne ich lange und gut. Bei aller Wertschätzung: Ich wäre nie darauf gekommen, sie zur Bildungsministerin zu machen.
Und wie sieht es in Ihrer Partei, der CDU, aus? Warum interessiert sich die Spitzenpolitik im allgemeinen so wenig für dieses Thema?
Annette Schavan hatte sich als KMK-Präsidentin vermeintlich schülerfreundlich verhalten. Irgendwie hat hier auf breiter Ebene eine Generalkapitulation vor den vermeintlichen Fachleuten stattgefunden.
Aber die vermeintlichen Fachleute waren ein paar Ministeriale, denen die Kultusministerkonferenz fahrlässigerweise die Rechtschreibreform überlassen hat.
Und ein paar Professoren, die den Eindruck erweckten, sie könnten das Rad neu erfinden. Natürlich entwickelt und verändert sich die deutsche Sprache. Sie lebt und atmet. Das wurde alles von der Mannheimer Duden-Redaktion beobachtet. Aber das ganze Vorhaben, die Vorstellung, daß man sich des Kulturguts Sprache in einer Kommission am grünen Tisch bemächtigen könnte, das war Irrsinn. Die Rechtschreibreform war abwegig und ist gescheitert. Wir reden über ein Kind, das im Brunnen liegt, und die Wiederbelebungsversuche sind relativ aussichtslos.
Die Reform ist wohl nicht zu retten, aber ist ihre Rücknahme überhaupt möglich? Wie wollen Sie Ihre Mitstreiter organisieren?
Es mag sich komisch anhören, aber ich glaube, es bedarf einer gewissen Bewegung in der Bevölkerung.
Die gibt es doch. Allensbach hat die prägnanteste Zahl gerade genannt: Die Reform hat eine Zustimmungsrate von dreizehn Prozent. Da müßte doch jeder Politiker hellhörig werden.
Einen Regierungswechsel wird man über ein Thema wie die Rechtschreibreform nicht herbeiführen können. Der Zustand unseres Landes läßt sich vielleicht an der deutschen Nationalmannschaft ablesen. Womöglich verrät die lange Debatte über die mißglückte Rechtschreibreform auch etwas über den gesamten Zustand unserer politischen Eliten.
Politiker meiden unbequeme Themen. Wenn Sie Mitstreiter finden, werden sich die Ministerpräsidenten den Vorwurf einhandeln, verantwortungslos mit den Schulkindern umzugehen, die jetzt schon nach der Neuschreibung gelernt haben.
Ich räume gern ein, daß es einer gewissen Nachschulung bedarf bei den Jahrgängen, die jetzt mit der neuen Rechtschreibung groß geworden sind. Das ist aber eine überschaubare Zahl von Jahrgängen.
Die in fünf Jahren natürlich größer ist.
Innerhalb von fünf Jahren verdoppelt sich diese Zahl. Da ich selbst eine zehnjährige Tochter habe, die betroffen wäre, bin ich mir der Tragweite bewußt. Aber wenn die deutsche Literatur danach wieder unverfälscht gedruckt werden könnte und wir den Streit mit den vielen Schriftstellern, die man nie angemessen einbezogen hat, beenden könnten, wäre es mir das wert. Ich sehe die Debatte über die deutsche Sprache als ausgesprochene Chance. In Niedersachsen haben wir den Deutschunterricht gestärkt und sind zu der alten Philologenweisheit zurückkehrt, daß Deutsch eigentlich in jedem Fach, zu jeder Zeit unterrichtet wird, daß auch jede Mathematikstunde eine Deutschstunde ist. Seit ich im Amt bin, haben wir zwei Tests eingeführt. Die Sprachtests im Kindergarten haben katastrophale Ergebnisse. Und wir haben in den dritten Klassen Mathematiktests gemacht. Wir stellen fest, daß Kinder, die die deutsche Sprache unzureichend beherrschen, im Schnitt mindestens eine Note schlechter abschneiden in Mathematik als jene Kinder, die die deutsche Sprache gut beherrschen. Offenkundig ist es diesen Kindern nicht möglich, die Aufgabenstellung sprachlich zu verarbeiten. Die zentrale Funktion von Sprache für Bildungschancen, für Lebenschancen in einer Welt mit gestiegenen Anforderungen an Sozialverhalten, Kommunikations- und Teamfähigkeit ist über viele Jahre einfach unterschätzt worden. Wir müssen diese Debatte jetzt führen, denn sie ist wichtig. Die Leute wollen schon richtig schreiben und sich richtig ausdrücken können.
Mein Kommentar:
Hat die Rechtschreibreform Rücksicht genommen auf die gewachsene Struktur der Rechtschreibung? Nein
Hat die Rechtschreibeform Rücksicht genommen auf die in der Bevölkerung seit langem eingebürgerten Schreibweisen, auf das, was die Menschen bereits in der Schule gelernt haben? Nein.
Hat die Rechtschreibreform Rücksicht genommen auf die Kenntnisse, die sich Korrektoren und Lektoren in jahrzehntelanger Arbeit erworben haben? Nein.
Hat die Rechtschreibreform Rücksicht genommen auf den Stand der heutigen Germanistik, daß eine deskriptive Darstellung der Rechtschreibung einem präskriptiven Vorgehen auf diesem Gebiet vorzuziehen ist? Nein.
Hat die Rechtschreibreform Rücksicht genommen auf den Gruppenantrag von über 50 Abgeordneten des Deutschen Bundestages und den Geist des Beschlusses des Deutschen Bundestages „Die Sprache gehört dem Volk “- ? Nein.
Hat die Rechtschreibreform Rücksicht genommen auf den zwei Jahre währenden Prozeß der Meinungsbildung in Schleswig-Holstein, der dann zum repräsentativen Volksentscheid über die Rechtschreibreform geführt hat? Nein.
Hat die Rechtschreibreform Rücksicht genommen auf die in Bibliotheken und gutbürgerlichen Haushalten millionen- und abermillionenfach vorhandenen Bücher und die Arbeit, die notwendig war, diese oft sorgfältigst gemachten Bücher zu erstellen? Nein.
Hat die Rechtschreibreform Rücksicht genommen auf die Schüler, die noch zur Schule gingen und bereits eine richtige, auch in der Gesellschaft akzeptierte Rechtschreibung gelernt haben? Nein.
Die Rechtschreibreform hat sich längst als eine Hydra entpuppt: Versucht man, ihr einen Kopf abzuschlagen, mißlingt dies in aller Regel, stattdessen kommen zwei neue Köpfe bzw. Varianten.
Es hat wahscheinlich nur wenig Sinn, ein Gremium einzuschalten und diesem die Frage vorzulegen, wie man der Hydra vielleicht den nächsten Kopf abschlagen kann, und sei dies die Runde der Ministerpräsidenten. Man erwarte jedenfalls nicht unbedingt, daß ein solcher Schritt allein eine befriedigende Lösung bringen wird.
Dann kommen nämlich doch wieder die alten Seilschaften angekrochen, schieben Staatstreue vor, man müsse Rücksicht nehmen auf die anderen Länder, Deutschland müsse doch ein verläßlicher Partner sein (indem dieser Staat alle, die im Ausland Deutsch lernen, vor den Kopf stößt). Die Bundesregierung wird hinzugezogen, Hardliner wie Schily, die von der Thematik keinen blassen Schimmer haben und für „Politik nach Gutsherrenart“ hinlänglich bekannt sind, werden aufs Parkett gebeten. Dann ist alles zu spät.
Hier ist wohl eher eine „einsame“ Entscheidung gefragt, die einen weisen und entschiedenen Weg findet, den ganzen Zirkus mittelfristig auslaufen zu lassen, eine Entscheidung, z. B. e i n e s Ministerpräsidenten, die von der tatsächlichen Sachlage ausgeht, und keine falschen Rücksichten auf irgendwelche internationalen Absprachen mit anderen Ländern nimmt. Man frage doch einmal die Leute auf der Straße in Österreich und der Schweiz, was diese von der Rechtschreibreform halten. Das Ergebnis dürfte kaum anders ausfallen als bei uns (Allensbach, nur 13 Prozent Zustimmung zur Rechtschreibreform).
Die Rechtschreibreform ist dabei, wie eine Dampfwalze rücksichtslos (siehe oben) alle bisherige Ordnung und gewachsene Struktur unserer Rechtschreibung plattzumachen und damit ihre Einheitlichkeit zu zerstören, auch das Lernen in der Schule zu behindern und die Schüler zu verunsichern. Gegenüber einer solchen Dampfwalze ist übertriebenes Zartgefühl fehl am Platze.
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