Passau 1997
Wege aus der Rechtschreibkrise
(Vorlage von Th. Ickler zur Sitzung des Präsidiums der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Passau am 1.5.1997, dem Inhalt nach in freier Rede vorgetragen )
1. Vorstellung, Arbeiten, Wirkung
2. Ein Blick auf das Reformwerk (Übersichtsblatt)
3. Lehren daraus und aus der Durchsetzung:
- Entstaatlichung
- Entkommerzialisierung
4. Lösungswege
- Kleine Lösung: am Duden etc. entlangarbeitende Bereinigung, Interpretation der bestehenden Regeln
- Größere Lösung: Eigene Forschungen an Korpora (CD-ROM)
- Regelwerk neu fassen?
1. Ich habe mich seit der 3. Orthographischen Konferenz vom November 1994 eingehender mit der geplanten Neuregelung befaßt und bin bald zu der Einsicht gekommen, daß sie die Erwartungen bei weitem nicht erfüllt. Aus den bruchstückhaften Informationen war damals noch nicht das ganze Ausmaß des Debakels erkennbar. Erst im Juli 1995 erschien das Regelwerk nebst Wörterverzeichnis, beides recht fehlerhaft. Seit jener Zeit bin ich auch mit kritischen Zusendungen beim IDS und beim bayerischen Kultusministerium, später auch bei der KMK vorstellig geworden. Die Vorlage von 1995 wurde bekanntlich noch einmal zurückgezogen. Im Juli 1996 erschien die Überarbeitung, gleichzeitig mit der Absichtserklärung der deutschsprachigen Staaten und mit dem Bertelsmannwörterbuch. Auch kündigten die Kultusminister einiger Länder an, sofort, d.h. mit Beginn des neuen Schuljahres, die Neuregelung in die Schulen einzuführen, obwohl der Stichtag des Inkrafttretens der 1.8.1998 ist. Viele Schüler schreiben also seither für zwei Jahre in einer amtlich nicht gültigen, fast nirgendwo sonst zu lesenden, von keiner Zeitung (mit unbedeutenden Ausnahmen) eingeführten Rechtschreibung. Einige Wochen später erschien auch der neue Duden. Zwischen den beiden Wörterbüchern gibt es nach einer öffiziösen Schätzung rund 1000 (Nachtrag Juni 1997: nach Mitteilung von Kommissionsmitgliedern 8000!) Abweichungen, was nur zum Teil auf Fehlern der Redaktionen beruht, zum Teil liegt es an der Unzulänglichkeit des Regelwerks, wie ich in meinen Schriften ausführlich nachgewiesen habe. Seither sind weitere Wörterbücher hinzugekommen, damit hat sich auch die Zahl der Abweichungen erhöht. Dieses Durcheinander hat bereits nachweisbar zu einer großen orthographischen Verwirrung geführt, sogar bei Lehrern.
Mit erheblicher Verspätung ist beim IDS eine Zwischenstaatliche Kommission eingerichtet worden, die eigentlich die Aufgabe haben sollte, die deutsche Rechtschreibung zu beobachten und fortzuentwickeln, nun aber daran arbeitet, die Abweichungen und Unklarheiten zu beseitigen, damit zum neuen Schuljahr einheitliche Wörterbücher vorliegen. Wie man hört, soll zu diesem Zweck eine Wortliste erarbeitet werden. Es gibt begründete Zweifel auch im Kreise der alten und neuen Kommissionsmitglieder, ob das gelingen kann. Das Regelwerk soll oder darf nicht geändert werden, wie der KMK-Vorsitzende gesagt hat. Auch ist schwer vorstellbar, wie die bisher rund 6 Millionen Wörterbuchkäufer zufriedengestellt werden können, von anderen Folgen der vorzeitigen Einführung ganz zu schweigen.
2. Ich möchte nun, um das Ausmaß der Katastrophe recht deutlich zu machen, die Neuregelung kurz vorstellen. Das geschieht am besten durch einen Blick auf ein Beispielblatt, das die gültige und die geplante Regelung einander gegenüberstellt.
(Tischvorlage: Die gültige und die geplante Rechtschreibung)
Man sieht, daß das Werk irreparabel mißlungen ist. (Vgl. auch meine Schriften Die Rechtschreibreform auf dem Prüfstand, Woran scheitert die Rechtschreibreform?, Getrennt- und Zusammenschreibung, Die verborgenen Regeln, Die sogenannte Rechtschreibreform ein Schildbürgerstreich (Buch) sowie Rezensionen und zahlreiche Beiträge in Zeitungen.)
Ich möchte neben den einzelnen Verstößen gegen die Grammatik, der Beseitigung von Unterscheidungsmöglichkeiten und der Vernichtung ganzer Wortreihen noch auf den reaktionären Charakter der Reform hinweisen. Wie auch Horst H. Munske hervorgehoben hat, wirft die Reform uns bei der vermehrten Getrenntschreibung ins 17. Jahrhundert zurück, bei der vermehrten Großschreibung immerhin ins 19. Jahrhundert. Die ursprünglich geplante, von der Mehrzahl der Reformer immer noch favorisierte Kleinschreibung der Substantive war mittelalterlich und wurde ja gerade deshalb von Jacob Grimm so geschätzt.
Zuletzt haben die Kultusbehörden zwar nicht mehr mit der Qualität der Neuregelung geworben, wohl aber mit dem Argument, die Reform bringe wenigsten den Schülern Erleichterung, sie vermindere nämlich ihre Fehlerquoten. Dabei ist viel mit einem Probediktat geworben worden, das unter den Reformern als Schaeder-Diktat bezeichnet wurde und eine phantastische Fehlerverminderung beweisen sollte, im Wortlaut aber weithin unbekannt war. Ich habe dieses Diktat vor einigen Wochen in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht, woraufhin es sogleich als Mogeldiktat durchschaut und mitsamt dem Argument der Fehlerverminderung aus der Debatte gezogen wurde. Seither stehen die Reformer völlig nackt da.
3. Folgerungen
- Die einheitliche Rechtschreibung des Deutschen ist zerstört.
- Das Dudenprivileg ist aufgehoben, seine Wiederherstellung undenkbar.
- Eine staatlich verordnete und von staatlich beauftragten Kommissionen erarbeitete Neuregelung scheint nicht möglich zu sein. Sie ist auch nicht nötig. In anderen Ländern wird die Einheit der Rechtschreibung durch angesehene Wörterbücher oder durch ebenso angesehene Akademien gewährleistet. Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung könnte eine solche Autorität sein.
- Unter den gegebenen Umständen sollte eine kleine Lösung der Rechtschreibkrise gesucht werden. Eine wirklich umfassende Neuregelung ist heute nicht durchsetzbar, weil sie nicht gewünscht wird und weil auch gar nicht abzusehen ist, daß irgendeine grundstürzende Reformidee konsensfähig wäre. Es gibt auch keinen dringenden Handlungsbedarf.
- Unter einer kleinen Lösung verstehe ich eine konservative, d. h. eine verbesserte Darstellung der geltenden Dudenregeln mit Beseitigung einiger Haarspaltereien und überflüssiger Einzelbestimmungen. Dafür werde ich gleich noch ein paar Beispiele geben.
- Eine kleine Lösung besteht in einer Wortliste und einem Regelwerk. Das Regelwerk enthält Verallgemeinerungen aus den Schreibungen der Wortliste. Es kann in beschränktem Maße wiederum die Schreibung einzelner Wörter (Varianten) beeinflussen und sie zu größerer Regelmäßigkeit bringen.
Das Regelwerk braucht aber zum Beispiel kein Kapitel über die Laut-Buchstaben-Zuordnung zu enthalten. Das entsprechende Kapitel in der Reformregelung ist aus systematischen Gründen fehl am Platz. Außerdem sollte das Akademiewörterbuch sich auf orthographische Angaben beschränken, also keine Hinweise auf die Aussprache, die Bedeutung und die Grammatik enthalten. Man vergleiche das Duden-Aussprache-Wörterbuch. Ferner enthält die Wortliste nur einfache Wörter und darüber hinaus solche Ableitungen und Zusammensetzungen, die orthographisch relevant sind. Es kann beliebig mit Fremdwörtern und Fachwörtern angereichert werden.
- Klein ist die Lösung auch im Hinblick auf die beschränkten Möglichkeiten der Akademie. Die Arbeiten könnten in etwa 1 Jahr abgeschlossen sein.
Was spricht für eine konservative Lösung?
1. Die Vorarbeiten zur Reform haben gezeigt, daß es außerordentlich schwer ist, die gewachsene, keineswegs von einigen Bürokraten zu Beginn des Jahrhunderts ersonnene geltende Orthographie grundlegend zu verbessern. Dies hat besonders Horst H. Munske eindrucksvoll dargestellt. Damit sind selbstverständlich Verbesserungen in der Darbietung des geltenden Regelwerks nicht ausgeschlossen, ebensowenig gewisse Bereinigungen.
2. Die geltende Rechtschreibung liegt Millionen von Texten zugrunde. Sie hat sich also bewährt, und eine Neuregelung wäre notwendigerweise mit einer Abwertung des schon Gedruckten verbunden, das danach mit einer Patina des Veralteten überzogen wäre.
3. Die geltende Rechtschreibung wird weithin akzeptiert. Die üblichen Klagen über die Kompliziertheit der Rechtschreibung sind kein Gegenbeweis. Im Kernbereich ist die geltende Rechtschreibung nicht schwer zu beherrschen, in Randbereichen wird man immer nachschlagen müssen. Das gilt zugestandenermaßen auch für die Neuregelung.
4. Wenn man, aus welchen Gründen auch immer, keine überzeugende Neuregelung vorlegen kann, muß man bei der alten bleiben. Das ist ehrlicher und entspricht auch dem Wesen der Rechtschreibung, die auf Kontinuität angelegt ist.
5. Eine konservative Lösung macht keinen Neudruck der Rechtschreibliteratur und keine Entsorgung vorhandener Software usw. erforderlich. Die Kosten sind hier wirklich gleich Null, wie bei der bisherigen Praxis der Dudenrevisionen: Man warf den alten Duden weg, wenn er aus dem Leim ging, und kaufte sich ein stabiles neues Exemplar. Nicht aber war es notwendig, jeweils die neueste Auflage zu erwerben. So sollte es auch in Zukunft sein. Die Kosten, die jetzt entstehen ob die Reform nun abgeblasen wird oder nicht haben allein die Reformer und ihre politischen Helfershelfer zu verantworten, vor allem durch das trickreiche Vorwegnehmen des Stichdatums in den Schulen.
6. Durch die Minimierung des Aufwandes bei einer konservativen Lösung wird auch der Weg zu einer künftigen Reform, die den Namen verdient, nicht verbaut.
7. Den Schulbehörden kann geraten werden, alle bisher üblichen, in der 20. Auflage des Dudens kodifizierten Schreibweisen weiterhin als gültig anzuerkennen und die geringfügigen Neuregelungen des Akademiewörterbuchs als zusätzliche Optionen hinzuzunehmen.
Die KMK sollte vom Vorhaben der Akademie in Kenntnis gesetzt, aber nicht in die Vorarbeiten einbezogen werden. Erstens lassen die bisherigen Aktivitäten der KMK keinerlei Bereitschaft erkennen, von ihrer Position abzugehen und das vorliegende Reform-Regelwerk zur Disposition zu stellen. Sie dürfte vielmehr darauf aus sein, alternative Pläne nach Kräften zu hintertreiben. Die Dresdner Erklärung der KMK ist ausgesprochen aggressiv formuliert; sie trägt die Handschrift des IDS. Überdies arbeitet sie auch mit falschen Behauptungen. Kritiker sind nicht gehört worden, man überstellt sie vielmehr an die Mannheimer Kommission.
4. Was tun?
Ich habe zunächst vorgeschlagen, für die Neufassung der Regeln die geballte Intelligenz der Deutschen heranzuziehen, und zwar durch eine Preisaufgabe. Es wäre aber auch ein ganz anderer Weg denkbar. Ich selbst z.B. habe große Teile des Regelwerks bereits versuchsweise rekonstruiert, und ein solcher Entwurf könnte auf einer kleinen Konferenz von Fachleuten verschiedener Herkunft diskutiert werden. Ebenso könnte man mit Proben aus dem Wörterbuch verfahren. Man könnte aber auch einen Entwurf dieser Art herumschicken und schriftliche Stellungnahmen einholen, zum Beispiel aus dem Kreis der Akademie-Mitglieder, die sich dafür interessieren.
Ich befürworte in jedem Fall, daß eine einzelne Person das Gesamtwerk ausarbeitet. Nur so kommt man aus den Zwängen der Kompromisse heraus, unter denen der Internationale Arbeitskreis in sich selbst und im Zusammenspiel mit den Kultusbehörden eingestandenermaßen gelitten hat. Friedrich Roemheld rief schon 1969 aus: Wann hätte je eine amtliche, halb- oder dreiviertelamtliche orthographische Konferenz etwas Vernünftiges zuwege gebracht! (Roemheld, Friedrich: Die Schrift ist nicht zum Schreiben da. 1969, S. 23) Das schließt natürlich Beratung und Hilfe nicht aus. Aber es muß wie seinerzeit bei Raumer, Wilmanns oder Duden ein verantwortlicher Kopf hinter der Sache erkennbar sein. Sonst verlieren sich die Verantwortlichkeiten, und die Sache selbst kommt verschwommen und verworren daher, wie es heute zu beobachten ist.
Die Schreibung der Wörter sollte an aktuellen Korpora überprüft werden, was mit Hilfe von CD-ROM ohne Mühe möglich ist. Es gibt nämlich einen Schreibgebrauch neben der Duden-Norm, und der Duden selbst ist auch immer wieder an diesen Gebrauch angepaßt worden.
Wenn das Wörterbuch vorliegt, sollte es als Angebot zur Verfügung gestellt werden. Die Kultusminister können es als Maßstab der Schulorthographie zugrundelegen. Die Verlage werden dann die eigentlichen Rechtschreibwörterbücher herausbringen. Sie können von der Akademie eine Art Prüfsiegel bekommen, wenn sie sich an das Akademiewörterbuch halten.
5. Aus der Werkstatt
Ich möchte nun skizzieren, wie die Arbeit aussehen könnte. Man hat dem Duden vorgeworfen, daß er sich im Laufe der Zeit immer mehr Einzelfallregeln ausgedacht und die Rechtschreibung durch Haarspaltereien unüberschaubar gemacht habe. Dieser Vorwurf ist teilweise berechtigt.
Beispiel 1: radfahren/Auto fahren
Nehmen wir zuerst die Getrennt- und Zusammenschreibung, die stellenweise mit Problemen der Groß- und Kleinschreibung einhergeht.
Ein Standardbeispiel ist die auch von Minister Zehetmair gern herangezogene unterschiedliche Behandlung von radfahren und Auto fahren. Wenn es eine Begründung dafür geben sollte, ist sie so fein gesponnen, daß sie niemanden überzeugt. Ich würde folgende Lösung vorschlagen:
1. Grundsatz: Die Zusammenschreibung von Substantiv + Verb ist zurückhaltend zu gebrauchen.
Die Verbindung Rad fahren ist ebenso wie ähnliche Verbindungen nach den Regeln der deutschen Grammatik jederzeit frei konstruierbar. Daher bedeutet die Zulassung von radfahren kein Verbot von Rad fahren. Eine solche Einschränkung des freien Ausdrucks ist gar nicht zulässig.
Beispiel 2: Der Bindestrich
In dem ominösen Schaeder-Diktat wird die Schreibweise Joghurt-Becher als falsch gewertet. Das ist nicht gerechtfertigt, da es im Ermessen des Schreibenden liegt, wo er einen Bindestrich setzen will. R 33 setzt fest: Zusammengesetzte Wörter werden gewöhnlich ohne Bindestrich geschrieben. Die genauere Analyse zeigt, daß der Bindestrich in größtem Umfang gesetzt wird, um Zusammensetzungen und Ableitungen aus semiotisch heterogenen Bestandteilen zu ermöglichen. Im vorliegenden Fall liegt eine leichte Heterogenität vor, weil Joghurt ein graphematisch deutlich markiertes Fremdwort ist.
Auch Mentrup (1968) ist unnötig streng. Man sollte den Bindestrich freigeben bei Seeelefant, seeerfahren usw.
Beispiel 3: so viel/soviel usw., stattdessen (§ 39 der Neuregelung)
Die Getrennt- und Zusammenschreibung von Konjunktionen, Adverbien und Korrelativa war bisher sehr verwirrend geregelt. Hier könnte man der Neuregelung folgen, die zwar mangels expliziter Beschreibung auch nicht klar ist, der Tendenz nach aber nur die Konjunktionen mit so und wie zur Zusammenschreibung zuläßt.
Stattdessen sollte zur Zusammenschreibung zugelassen werden, wie infolgedessen. Damit würde man einer natürlichen Neigung der Schreibenden folgen. (Das ist im Wörterverzeichnis geschehen, allerdings mit unklarer Abgrenzung.)
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Th. Ickler
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