Nachtrag zu »Kritik auf zwei Ebenen«
Mir ist aufgefallen, daß mein langer, ausführlicher Beitrag am Anfang dieses Stranges noch nicht lang bzw. ausführlich genug ist, denn bei der Diskussion der Umsetzung der Heyseschen s-Schreibung durch das neue Regelwerk habe ich die Hinweise auf die Verwendung des ss (und die Ausnahmen davon) vergessen. Dies möchte ich hier nachtragen und außerdem ein paar Überlegungen zum Vergleich mit der Adelungschen Regel sowie zur Stammschreibung anfügen.
Die Schreibung von ss für ein scharfes [s] ergibt sich nach den reformierten Regeln wie folgt (und entspricht der Heyseschen s-Schreibung): Zitat: "§ 2: Folgt im Wortstamm auf einen betonten kurzen Vokal nur ein einzelner Konsonant, so kennzeichnet man die Kürze des Vokals durch Verdopplung des Konsonantenbuchstabens.
Das betrifft Wörter wie:
... Hass, dass (Konjunktion), bisschen, ...
Wie schon bei § 25 versteht man das nur, wenn man weiß, was mit dem Wortstamm gemeint ist, und das hilft einem auch nur dann weiter, wenn man jeweils in der Lage ist, den Wortstamm zu erkennen. -- Und auch hier gibt es Ausnahmen: Zitat: "§ 4: In acht Fallgruppen verdoppelt man den Buchstaben für den einzelnen Konsonanten nicht, obwohl dieser einem betonten kurzen Vokal folgt.
Dies betrifft
1. eine Reihe einsilbiger Wörter (besonders aus dem Englischen), zum Beispiel:
Bus, ...
[...]
6. eine Reihe einsilbiger Wörter mit grammatischer Funktion, zum Beispiel: ... bis, das (Artikel, Pronomen), des (aber dessen), ... plus, ... was, wes (aber wessen)
[...]
Das As -- und nur dieses -- wurde als Ausnahme abgeschafft; es lautet jetzt Ass.
Fazit 1: Die Heysesche s-Schreibung (incl. der Ausnahmen bzw. Einzelfallregelungen) wird durch das neue Regelwerk in Form (von Teilen) der Paragraphen 2, 4, 23 und 25 wiedergegeben. In voller Schönheit handelt es sich damit um eine relativ komplexe Darstellung dieser ss/ß-Regel -- die ja in Wirklichkeit offenbar eine komplette s/ss/ß-Regel ist und es wegen der Orientierung an dem vorhergehenden Selbstlaut (langer oder kurzer Vokal) bzw. Diphthong auch sein muß. In der vorliegenden aufwendigen Formulierung und wegen des notwendigen Bezugs auf den Wortstamm halte ich sie für nicht allgemeinverständlich und nicht leicht handhabbar; ich bin mir aber nicht sicher, ob das eine prinzipielle Eigenschaft der Heyseschen s-Schreibungsregel ist oder ob dies lediglich durch ihre konkrete Umsetzung im Regelwerk bedingt ist.
Fazit 2: Eine sinnvolle Faustregel für die Heysesche s-Schreibung muß (u. a. wegen der Ausnahmen) berücksichtigen, daß es sich um eine komplette s/ss/ß-Regel handelt. Es kommt daher nur die Formulierung "Nach kurzem Vokal 's' oder 'ss', nach langem Vokal oder Diphthong 's' oder 'ß'" dafür in Frage. Eine Verkürzung auf die Unterscheidung zwischen ss und "ß" ist nicht sinnvoll, weil dies zu den bekannten Fehlern (durch "Übergeneralisierung) führt. -- Welche Merkform der Adelungschen Regel kann und muß man dem sinnvollerweise gegenüberstellen?
Mein Eindruck ist, daß man bei der Heyseschen s-Schreibungsregel immer das volle s/ss/ß-Problem mit sich herumschleppt, während man dies bei der Adelungschen Regel zumindest partiell separieren kann, d. h. daß man sich bei der Beschreibung der Fälle auf jene beschränken kann, die sich unmittelbar und ausschließlich auf ss oder "ß" beziehen, ohne daß dies zu einem Fehler bezüglich s führt. Eine der obigen Formulierung der Heyseschen Variante entsprechende Faustregel für die Adelungsche s-Schreibung kann, in Anlehnung an die alte Dudenregel R 185, m. E. lauten: "Zwischen Vokalen im Inlaut 'ss', wenn der erste Vokal kurz ist; in allen anderen Fällen 's' oder 'ß'" -- trifft es das? (Eine Separation der "ß"-Fälle halte ich dagegen nicht für möglich, denn zur Beschreibung aller dieser muß man auf ss-Fälle verweisen.)
Bei der Heyseschen Faustregel muß man lediglich wissen, daß ein Diphthong ein Doppellaut ist und welche das sind; insofern ist sie nahezu vollständig selbsterklärend. Bei der Adelungschen kommt es auf das im Inlaut an, was für Nicht-Fachleute eine Schwierigkeit darstellt; ich verstehe es als im Inneren eines einfachen (d. h. nicht zusammengesetzten) Wortes. Denn sonst wäre es ja tautologisch: Wenn etwas zwischen anderen steht, muß es sich im Inneren befinden. Dieses Problem, Zusammensetzungen berücksichtigen zu müssen, tritt bei der Heyseschen Regel nicht auf (zwar mit der Konsequenz von sss-Schreibungen, aber das ist hier nicht relevant; ich will zunächst nur die Klarheit der Regeln an sich betrachten), und insofern scheint sie quasi eleganter zu sein. Und ist das vielleicht der Grund, warum sie so attraktiv wirkt und für einfach gehalten wird, so daß ihr diese Einfachheit zum Vorteil gegenüber der Adelungschen Regel angerechnet wird? -- Aber was macht einen solchen Vorteil wirklich aus?
Der prinzipielle Unterschied zwischen den beiden Ansätzen für die Regelung der s-Schreibung -- Orientierung an der Qualität des vorhergehenden Nichtkonsonanten bei Heyse, Orientierung an der Stellung des [s] im Wort bei Adelung -- wird bei der obigen Fassung der Adelungschen Faustregel nicht ganz deutlich, weil sie das Kriterium des kurzen Vokals enthält. Aber ist dieses Kriterium unbedingt erforderlich?
Eine Konsequenz der Adelungschen Regel ist doch, daß ein danach geschriebenes Wort, welches ein ss aufweist, in der Form "..s- s.. trennbar ist (mit der Ausnahme, daß man gegebenenfalls für ein Apostroph das weggelassene e gedanklich wieder einsetzen muß; vgl. die alten Dudenregeln R 186 und R 18). Das bedeutet, daß das durch ss wiedergegebene [s] eine Silbengelenkfunktion hat, und diese Zuordnung ist umkehrbar eindeutig: Wenn bei einem Wort ein [s] ambisyllabisch ist, wird es als ss geschrieben (Eisenbergsche Korrespondenzregel für ambisyllabisch realisierte Konsonanten, hier angewandt auf [s]). Dieses Kriterium löst sowohl das Problem, sich von Wortzusammensetzungen distanzieren zu müssen, als auch vermeidet es die Beachtung des ersten Vokals; im Hochdeutschen tritt die Ambisyllabierung nur nach einem kurzen Vokal auf.
Langer Rede kurzer Sinn: Es kommt also nur noch darauf an, dafür eine klare, einfache Formulierung zu finden, um mit der Heyseschen Regel konkurrieren zu können. "Zwischen Vokalen 'ss', wenn das [s] zu beiden Silben gehört, die es begrenzt; in allen anderen Fällen 's' oder 'ß'" -- ist das klar und einfach genug? Oder noch einfacher: "'ss' wird nur geschrieben, wenn das [s] als '..s-s..' getrennt werden kann; ansonsten 's' oder 'ß'. (Ein interesanter Aspekt dabei ist, daß diese Faustregel die Schweizer Orthographie richtig wiedergibt, in der -- nach Gallmann -- aus phonologischen Gründen kein "ß" verwendet wird.)
Ich denke, daß die Adelungsche Faustregel in dieser Form mit der Heyseschen konkurrieren kann: Beide gehen von der gleichen Voraussetzung aus, daß es um die Schreibung eines stimmlosen [s] geht (und nur darum; insbesondere wird von beiden Regeln zunächst keine Rücksicht auf die Stammschreibung genommen, so daß die Kompatibilität damit noch zu prüfen ist; mehr dazu weiter unten), sie sind weitestgehend selbsterklärend, in einfachen Worten formuliert und kompakt (nicht zu lang).
Bei beiden Faustregeln bleibt ein Problem offen, nämlich die notwendige Fallunterscheidung für die Schreibungen mit s. Hierbei erweist sich die Separationsmöglichkeit bei der Adelungschen Regel als wichtig: Eine Unsicherheit gibt es bei jener nur zwischen s und "ß", bei der Heyseschen Regel gibt es diese zusätzlich auch bei s und ss -- also immer. Daher ist die Adelungsche Regel m. E. konstruktionsbedingt vorteilhafter als die Heysesche.
Dies ist jedoch kein abschließendes Urteil im Vergleich zwischen den beiden Regeln: Für die Praxis ist noch die Frage nach der Vermittelbarkeit (wie gut sind diese Reglen lehr- und verstehbar?) und der Sicherheit in der Anwendung (wie hoch ist die Fehleranfälligkeit?) zu untersuchen. Daß zusätzlich die Kompatibilität mit dem Stammschreibungsprinzip untersucht werden sollte bzw. muß, um zu einem begründeten und sinnvollen Urteil zu kommen, wage ich zu bezweifeln; mir scheint, daß dies sekundär ist.
Zum einen ist ja das "ß" ein ungewöhnlicher Buchstabe in dem Sinne, daß es sich auf die eine oder andere Weise als (heutzutage verselbständigte) Ligatur anderer Buchstaben deuten läßt, und zwar keineswegs nur aus Lang-s und z; daher kommt es auch nur als Kleinbuchstabe vor. Es kann als eine typographische Variante von ss angesehen und verwendet werden.
Zum anderen ist die Stammschreibung m. E. keine feste Regel, die automatisch greift, sondern ein Schema, mit dem sich viele der Schreibweisen, die sich etabliert haben, systematisch nachvollzogen, erfaßt und damit verstanden werden können. Bei der Schreibung der Wörter nach dem Stammprinzip vorzugehen, ist zwar sinnvoll, aber nicht zwingend notwendig -- insbesondere wenn es andere, unmittelbare, zwingendere Prinzipien gibt, nach denen sich die Schreibung eines Wortes richtet. Dies scheint mir bei der s-Schreibung der Fall zu sein, und daher lohnt es sich m. E. nicht, sich bei der s-Schreibung Gedanken über die Stammschreibung zu machen.
– geändert durch J.-M. Wagner am 12.06.2002, 12.11 –
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Jan-Martin Wagner
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