Müllenhoff und der Usus
Müllenhoff an Scherer, Berlin, 8. 2. 1864
Mit der 'Recht- oder Unrechtschreibung' quäle ich mich noch so hin, werde aber in dieser Woche doch mit dem Entwurf fertig. Die Arbeit interessiert mich doch, ärgerlich sind mir nur die Störungen und Unterbrechungen, die mich immer wieder davon abbringen. Es kommt doch einiges dabei heraus und auch andern, als den Schulmeistern wird damit gedient sein. In dem Entwurf der hanöverschen Conferenz, dem von Herrn von Raumer soviel belobten, steht doch unglaubliches Zeug, wenn man aufs einzelne | sieht, und die andern sind noch dummer und unwissender. Soviel glaube ich wird sich wenigstens ergeben wie weit die Verbesserung allmählich gehen kann und wo sie eintreten kann. Im Grunde ist die Sache ja unheilbar. Ich bin entsetzlich conservativ, aber nur aus dem Grunde um desto dreister einige Punkte anzugreifen, wo man ansetzen muß. Übrigens ist in dem Unsinn mehr Consequenz und System, als man denkt.
(S. 17 f.)
Müllenhoff an Scherer, Berlin, 23. 12. 1875
Ihre Ankündigung traf gerade in eine Zeit, wo ich mich, sehr wider Willen, zufolge einer Aufforderung des | Ministers [Adalbert von Falk] gleichfalls mit der 'orthographischen Frage' zu beschäftigen hatte. Die Sache hat mir Plage gemacht und Zeit gekostet. Nach langer Überlegung hab ich ihnen endlich geschrieben, daß 'eine zweckmäßige Einigung' allerdings erwartet werden könne, wenn die 'Conferenz' richtig zusammengesetzt würde, so daß die 'Praktiker' darin nicht mehr als ein Viertel oder höchstens ein Drittel der Stimmen erhielten, und daß dann die Auswahl der 'Theoretiker' oder sogenannten Fachleute mit aller Unparteilichkeit und völliger Sach- und Personalkenntnis geschähe. Zu einer 'zweckmäßigen Einigung' sei dem in seinen Consequenzen leicht gefährlichen 'phonetischen Prinzip' gegenüber eine schärfere Betonung sowohl des historischen Prinzips als auch des gegenwärtigen Usus durchaus nötig. Jeder vernünftige müsse es als seine Gewissenspflicht erkennen, den Zusammenhang, der in unsrer Schreibweise noch mit der ältesten Vergangenheit und dem ursprünglichen Wesen der Sprache bestehe, der Nation rein und unverkümmert zu erhalten, als ein Mittel der Selbsterkenntnis und damit der Selbsterhaltung. Die Pflicht der Treue gegen uns selbst und die ganze Vergangenheit der Nation verlange jeder Neuerung zu widerstehen, die jenen Zusammenhang irgendwie bedrohe, wie z. B. selbst die Raumerschen Vorschläge (in den auch Ihnen ohne Zweifel vorliegenden Schriften 'zur Begründung' S. 15 f.) zur Einschränkung des dehnenden h in einzelnen Punkten. Dieselbe Pflicht gebiete auch für die Anerkennung und Aufrechterhaltung des historischen Zusammenhangs zu sorgen, wo die schwankende Schreibung und Aussprache es noch erlaube, und nur wer seine Pflicht nicht kenne, könne wie die Berliner Lehrer 1871 sich für die Beibehaltung und Fortpflanzung leicht beseitigter Irrthümer entscheiden. Von historischer Siete sei dem phonetischen Prinzip gegenüber auf die Anerkennung folgender Sätze zu bestehen :
1) Jede historisch, d. h. in der Herkunft und Geschichte des Wortes wohl begründete Schreibung ist unantastbar, auch wo sie für unsere Aussprache keinen Wert mehr hat.
2) Wo die Schreibung schwankt und die Aussprache die eine wie die andre Schreibweise gestattet, da ist die historisch begründete die allein richtige und giltige. (Also z. B. läugnen, herschen, Herschaft usw., Berliner, Frankfurter usw.) Und
3) wo Schreibung und Aussprache in verschiedenen Landschaften schwanken, da ist dieselbe Entscheidung zu treffen. |
(Namentlich Nr. 2 ist mir prinzipiell von der größten Wichtigkeit.)
Der Usus dagegen, der bestehende, herkömmliche Gebrauch sei unbedingt, gegen das historische als das phonetische Prinzip, überall aufrecht zu halten, wo Neuerungen und Verbesserungsversuche sich als unpractisch erweisen und nur zu neuen Ungleichheiten, Unbequemlichkeiten, nutzlosen Unterscheidungen und dergleichen führten. Von der Art seien die Raumerschen Vorschläge zur Einschränkung des Dehnungs-h (-- praktisch ist nur die Einschränkung des th, namentlich die Beseitigung überall im Auslaut --) und die (zur Begründung S. 18 f.) verlangte Unterscheidung des ß und ss [1. s lang] im Auslaut, ohne die wir in deutscher Schrift bisher ausgekommen seien und auch ferner auskommen könnten.
Bei einer richtigen Zusammensetzung der Conferenz sei eine Anerkennung dieser Sätze und damit eine 'zweckmäßige Einigung' zu hoffen.
Ich schreibe Ihnen dies, damit Sie es einmal überlegen und für die mündliche Discussion vorbereitet sind.
(S. 576--78)
Briefwechsel zwischen Karl Müllenhoff und Wilhelm Scherer, hrsg. v. Albert Leitzmann, Berlin u. Leipzig 1937 [1a: Yc 7673/3-5]
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