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Groß- und Kleinschreibung
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Theodor Ickler
21.05.2001 07.23
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Groß oder klein? Getrennt oder zusammen? Zu einigen Arbeiten des Schweizer Rechtschreibreformers Peter Gallmann

von Theodor Ickler

Peter Gallmann war Mitglied des Internationalen Arbeitskreises, der die Rechtschreibreform ausgearbeitet hat, und gehört auch der Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung an. Er ist Oberassistent von Horst Sitta (einem weiteren Mitglied von Arbeitskreis und Kommission) an der Universität Zürich. Weitere Angaben sowie seine einschlägigen Aufsätze findet man unter http://www.unizh.ch.
Gallmann ist der theoretische Kopf der Schweizer Reformer, während Sitta zwar in der Schweiz durch seine Mitwirkung in schulpolitischen Gremien sehr einflußreich ist, inhaltlich aber nichts Nennenswertes zur Rechtschreibreform beigetragen hat. Die Ämterverquickung brachte es mit sich, daß Sitta vor Jahren die Rechtschreibreform zu begutachten hatte, für die er selbst mitverantwortlich war (Näheres in meinem Schildbürgerbuch). Sowohl Sitta als auch Gallmann arbeiten für den Dudenverlag; dem Vernehmen nach soll Sitta auch dazu beigetragen haben, daß der Duden in der Schweiz amtlich gültig bleibt, d. h. seine privilegierte Stellung behält, obwohl die „Entmachtung“ des Duden sonst stets als Nebenzweck der Neuregelung angegeben wird. Wie Sitta die einträgliche Durchsetzung der Reform betreibt, geht sehr schön aus einer Vorbemerkung seines Beitrags zum Sammelwerk „Rechtschreibreform – Pro und Kontra“ (hg. von Eroms/Munske, Berlin 1997) hervor:
„Ich beteilige mich nicht ohne Zögern an einem Buch, das den Titel trägt: Die Rechtschreibreform – Pro und Kontra. Die Rechtschreibreform ist von den politisch zuständigen Stellen beschlossen; man möge nicht so tun, als könne es noch um pro und kontra gehen. Gehen kann es allenfalls um die Frage, wie die beschlossene Neuregelung realisiert werden kann und wie diese Realisierung wissenschaftlich zu begleiten ist.“ (S. 219)
Nachdem er die Sache unter Dach und Fach hat, möchte er jede Diskussion darüber als illegitim hinstellen. Er bestreitet auch, daß die Kommission Reparaturen durchführen dürfe. Das sei durch ihren Auftrag nicht gedeckt (ebd. 222). Gallmann ist in dieser Hinsicht offener. In der Rechtschreibkommission und schon im Internationalen Arbeitskreis galt und gilt er stets als rechthaberischer Sturkopf und Prinzipienreiter, was allerdings bei einem Wissenschaftler nicht unbedingt negativ zu verstehen ist. Problematisch ist nur, daß Wissenschaftler ihre Ansichten immer wieder zu ändern pflegen und die Wirkung solcher Umschwünge nicht auf den Elfenbeinturm beschränkt bleibt, sondern mit Milliardenkosten und unendlichem Ärger verbunden ist.
Zwischen den Mitgliedern der Rechtschreibkommission bestehen bekanntlich viele Spannungen, besonders aber zwischen den Schweizern und dem Rostocker Reformer Dieter Nerius. Polemische Fußnoten finden sich auch in Gallmanns Aufsätzen; ich gehe darauf nicht näher ein.
Ich diskutiere im folgenden zwei Aufsätze, in denen sich Gallmann mit Groß- und Kleinschreibung sowie Getrennt- und Zusammenschreibung befaßt.

1. „Konzepte der Nominalität“ In: Augst et al. (Hg.): Zur Neuregelung der deutschen Orthographie. Tübingen 1997, S. 209-241.

Gallmann untersucht die bisherigen und die reformierten Regeln zur Groß- und Kleinschreibung; dabei kommen auch Probleme der Getrennt- und Zusammenschreibung zur Sprache, da vor allem im Bereich der Verbzusatzkonstruktionen beides zusammentrifft. Ausgangspunkt ist wie in der gesamten Reformliteratur die Ansicht, daß Großschreibung (wenn man von der Anfangs- und der Höflichkeitsgroßschreibung absieht) an die Wortart Substantiv gebunden ist. G. spricht von „Nominalität“. Da es mehrere Kriterien der Nominalität gibt, die sich nur teilweise überlappen und damit gegenseitig bekräftigen, kommt es zu mehr oder weniger typischen Substantiven. Die Neuregelung verschiebt die Grenzen hier ein wenig, ohne an der sachlich gegebenen Gliederung in zentrale und periphere Bereiche etwas ändern zu können. Am Ende spricht G. die Erwartung aus, daß die Neuregelung leichter erlernbar und anwendbar sei; erprobt wurde sie offenbar nicht, und die Erfahrung hat seither gezeigt, daß die Erwartung sich nicht erfüllt.

Die Kriterien oder Konzepte von Nominalität sind folgende:

1. das morphosyntaktische Konzept: Nomina sind Kerne von Nominalphrasen

G. hebt hervor, daß die Wortartzuordnung nicht dem Lexem (Wörterbuchwort, Paradigma), sondern der Wortform gilt. Normalerweise gehört die Wortform zur selben Wortart wie das Lexem. Alle Formen von „Turm“ bilden das Paradigma und damit das Lexem „Turm“ und gehören wie dieses zur Wortart Substantiv. G. meint allerdings, daß dies nicht immer so sei, und führt an: „Der ständig über das Essen fluchende Patient aß schon wieder nicht“ – wo „fluchende“ als morphosyntaktisches Partizip bzw. Adjektiv anzusehen sei, während es gleichzeitig als Lexem zum Verb gehöre. Dabei übersieht G. jedoch, daß zwischen beiden Ebenen die Ebene der Wortbildung liegt, hier die deverbale nominale Stammbildung.
Bei „Genaueres“ handelt es sich um Konversion, ebenfalls ein Wortbildungsprozeß. In einem späteren Exkurs über Nominalisierung behauptet G., „Genaueres“ sei „flexivisch“ nominalisiert (im Unterschied zu „Genauigkeit“, wo derivationelle Nominalisierung vorliegt). Das ist nicht nachvollziehbar, „denn Genaueres“ wird ja nicht anders flektiert als das Adjektiv. – Die Zuordnung des Lexems – einer Abstraktion – zu einer bestimmten Wortart ist überhaupt problematisch.

2. das lexematisch-paradigmatische Konzept: „Ein morphosyntaktisches Wort, das einem nominalen Lexem zugewiesen werden kann, hat nominalen Charakter.“

Undefiniert bleibt in allen Arbeiten Gallmanns, was unter diesem „Zuweisen“ zu verstehen ist. In der Praxis sieht es einfach so aus, daß G. nachsieht, ob ein gleichlautendes und semantisch hinreichend ähnliches Wort anderweitig vorhanden ist; dann identifiziert er die fragliche Form damit. So begründet er die Großschreibung von „Abend“ in „heute Abend“. Dasselbe Konzept will er auch auf Wortteile ausweiten, wobei er besonders an Teile durchgekuppelter Zusammensetzungen denkt, „die graphisch eine gewisse Eigenständigkeit haben.“ (Dazu weiter S. 222)
Um mit „heute Abend“ fertig zu werden, behandelt G. hier das Konzept der „Juxtaposition“. Phrasenkerne die an andere Phrasenkerne „adjungiert“ sind, wären demnach:
30 a) der Aufschwung Ost, ein Whiskey Soda, die Universität Freiburg
b) Forelle blau, Hänschen klein, auf Platz sieben
31 a) das Prinzip Hoffnung, das Risiko Herzinfarkt, die Stadt Rom
b) die Farbe Rot, die Zahl Dreizehn
c) die Präposition "über“
(Die Beispiele sind noch heterogener, als G. meint. Ich verzichte hier auf eine Diskussion. S. aber zu Gallmann 1999)
heute Abend: determinativ
heute Mittwoch: explikativ (Schweizer Eigenart?, so auch in NZZ-Dossier vom 15.5.2000)
In G. 1991 hatte G. gezeigt, daß „abend“ in „heute abend“ nicht Kern einer NP oder DP sein kann.
„Hingegen läßt sich sehr wohl das lexematisch-paradigmatische Konzept von Nominalität heranziehen: Es gibt nur ein nominales Lexem „Abend“, nicht aber ein eigenständiges adverbiales Lexem „abend“.“ (221)
Das ist jedoch eine Petitio principii, denn es geht ja gerade um die Frage, ob mit Desubstantivierung zu rechnen ist; dabei spielt es keine Rolle, ob das fragliche Lexem adverbial oder was auch immer ist. Wenn die Grammatik mit ihren Kategorien nicht imstande ist, solche Segmente angemessen zu erfassen, dann ist das ein anderes Problem. Bei „abends“ usw. findet G., daß zu Recht an der Kleinschreibung festgehalten wurde, denn „diese Formen konstituieren eigenständige adverbiale Lexeme, die in allen passenden Kontexten (Kern eines temporalen Adverbiales) auftreten können“. Das ist ebenfalls ein begging the question; irgendwann muß die Desubstantivierung ja eingetreten sein, und warum wird die Form nicht dem Lexem „Abend“ „zugewiesen“?
Nach den Durchkupplungen kommt G. auf die Verbzusätze (VZ): es seien keine eigenständigen Phrasen, keine prototypischen Wortteile (wegen Trennbarkeit). Das ist auch meine Meinung, aber auch Erich Drach, den G. nie erwähnt, hat es vor siebzig Jahren klargestellt.
VZ würden neuerdings oft als Inkorporationen beschrieben, d. h. als Bewegungen eines Phrasenkerns zum Kern des regierenden Verbs: „durch den Raum schreiten > den Raum durchschreiten“. G. weist zu Recht auf die meist deutlichen semantischen Unterschiede hin.
Schlange stehen, Pleite machen
neu auch: Kopf stehen, Maß halten, Rad fahren, Pleite gehen (!)
„standhalten, teilnehmen“ sind jetzt aus der Sicht dieses Konzepts Ausnahmen. (224)
„Denominalisierungen“
Ende Monat, Richtung Innenstadt
neu auch: Freund sein, Leid tun
„Nominalisierungen“
Gegenkonzept zum ersten: Wenn Zuweisung zu nichtnominalem Lexem möglich, dann nicht nominal. Müßte ergeben: etwas flüssiges.

3. das wortsyntaktische Konzept

Der Kern einer komplexen nominalen Wortform ist ebenfalls nominal.
Alt[Nstadt]
das In-den-April-Schicken

„Anglizismen“

Bluejeans, Hotdog
oder
Hot Dog

(G. erklärt nicht, warum das Adjektiv ebenfalls groß geschrieben wird. Vgl. „Ultima ratio“)


4. das phrasensemantische Konzept

Subjekt oder Objekt: Alkohol verursacht Kopfweh
Wenn man Blau und Rot vermischt
Jung und Alt einladen

explikative Attribute:

die Farbe Rot

Adverbialien (Gegenkonzept: Der Kern eines Adverbiales ist ein Adverb – aber nur, wenn er keinem nominalen Lexem zugewiesen werden kann)

im Grünen wohnen
beim Turnen

Phraseologisierung will G. nicht als eigenständiges Prinzip anerkennen, das besondere Schreibung rechtfertigt: „ins Schwarze treffen, im dunkeln tappen“. Allerdings stellt er sich damit aus rein theoretischen Erwägungen gegen eine tatsächliche Entwicklung. Vgl. zu „im Allgemeinen“ unter 5.

5. das syntaktisch-paradigmatische Konzept

In gleicher Form als Subjekt oder Objekt verwendbar:

Schlange stehen vgl. Die Schlange wurde immer länger.
Wir treffen uns heute Abend vgl. Der Abend war sehr unterhaltsam (? ist das überhaupt dasselbe?)

Artikelprobe (nur im selben syntaktischen Kontext)

im Allgemeinen (232)

6. das wortsemantische Konzept

Gemeint ist die „Gegenständlichkeit“.


Abschließend erörtert G. die kumulative Wirkung der Konzepte. Er kommt zu dem Ergebnis:
Nur Großschreibregeln sind gerechtfertigt, Kleinschreibregeln sind vorhanden, wirken aber als „Störfaktor“.

Gallmann führt seine Überlegungen in einem zweiten Aufsatz fort, der sich hauptsächlich mit dem Problem der Verbzusatz-Konstruktion beschäftigt.

2. „Wortbegriff und Nomen-Verb-Verbindungen“ (Zs. f. Sprachwissenschaft 18, 2, 1999, S. 269-304)

Gallmann versucht in diesem Aufsatz einerseits, gewisse Punkte der Rechtschreibreform zu rechtfertigen, andererseits bringt er auch – wie in früheren Arbeiten und sogar schon im gemeinsam mit Sitta verfaßten „Handbuch Rechtschreiben“ von 1996 – Bedenken gegen die Reform zum Ausdruck. Es geht hier vornehmlich um die Getrenntschreibung der im Titel genannten Verbindungen, doch kommt naturgemäß auch die Großschreibung zur Sprache.
Eingangs formuliert Gallmann das Problem der Getrennt- und Zusammenschreibung so, daß sie unmittelbar auf die Unterscheidung von Wort und Wortteil bezogen bleibt, wie in der Literatur zur Neuregelung. Die Angemessenheit dieses Kriteriums kann man grundsätzlich bezweifeln. Daß im Deutschen auch Wortgruppen zusammengeschrieben werden, erscheint aus dieser Sicht als Störfaktor; das muß man aber nicht so sehen.
In der ersten Fußnote führt Gallmann die wichtigsten Veränderungen auf, die einfach die Grenze zwischen Getrennt- und Zusammenschreibung etwas verschieben, ohne Grundsätzliches zu verändern (wie G. richtig bemerkt): „Acht geben, Angst machen, Diät leben, Eis laufen, Rad fahren, Halt machen, Haus halten, Hof halten, Kegel schieben, Kopf stehen, Maß halten, Not tun, Pleite gehen; Leid tun“. Am Ende des Aufsatzes stellt Gallmann anheim, für diese Gruppe (oder einen Teil davon?) auch über 2005 hinaus die bisherige Zusammenschreibung gelten zu lassen. Zu „Leid tun“ sagt er in der letzten Fußnote:
„Zu erwägen ist eine Korrektur bei der Fügung „Leid tun“, da hier wohl nicht das Nomen „Leid“, sondern eher das standardsprachlich defektive Adjektiv „leid“ vorliegt (...). Am besten schreibt man zusammen (in Abweichung sowohl von der 1991er- als auch von der 1996er-Regelung): „leidtun, es tut mir leid, es hat mir leidgetan“.“ (302)
(Es ist wiederum bezeichnend für Gallmanns Beitrag, daß er den hergebrachten Schreibbrauch kaum oder gar nicht respektiert. So hat er auch ernsthaft erwogen, die barocke Schreibweise „Freundinn“ wiedereinzuführen, damit „Ausnahmen“ (wie er sie versteht) beseitigt werden. Um eines theoretischen Einfalls will ist er jederzeit bereit, das Hergebrachte über Bord zu werfen, ohne an die „Kosten“ zu denken, die jede Neuerung mit sich bringt.)
Es ist schon oft darauf hingewiesen worden, daß „Leid tun“ nicht die einzige anstößige Neuschreibung innerhalb der Gruppe ist. So spricht gegen „Pleite gehen“, daß mit „gehen“ keine Substantive, sondern Adjektive (und Partizipien) verbunden werden: „kaputt“, „verloren“ usw. („Er ging verschollen“ lese ich gerade im ersten Bertelsmannmagazin „Transatlantik“. Kinder sagen oft „tot gehen“.) Entsprechende Bedenken richten sich gegen das nicht erwähnte neuschreibliche „Bankrott gehen“. Auch „Diät leben“ liest sich seltsam; die bisherige Auffassung als (adverbial gebrauchtes) defektives Adjektiv ist plausibler. Die Umdeutung von „not“ zu einem Substantiv in „Not tun“ befremdet ebenfalls, da die Not kaum als etwas aufgefaßt wird, was „getan“ wird.
„die Farbe Blau“ und „Forelle blau“ werden von Gallmann als „adnominale Kopfadjunkte“ eingeordnet und für sehr ähnlich erklärt. In meinen Augen sind es grundverschiedene Konstruktionen. „Forelle blau“ ist ein textsortenspezifisch rubrizierender Ausdruck, gleichsam eine gelesene Tabelle. Bei „die Farbe Blau“ wird „Blau“ klassifiziert durch einen gleichsam metasprachlich vorangestellten Klassifikator.
Gallmann versucht nochmals, wie bereits in seinem Beitrag zu Augst et al. von 1997, die neue Großschreibung in „heute Abend“ zu rechtfertigen. Von der richtigen Einsicht ausgehend, daß eine Wortartbestimmung hier mit den herkömmlichen Kategorien nicht recht gelingen will, geht er zu der Behauptung über, man müsse daher zu lexikalisch-paradigmatischen Mitteln Zuflucht nehmen, was darauf hinausläuft, wegen des bloßen Gleichklangs mit dem Substantiv „Abend“ Substantivität anzunehmen. Wenn er weiterhin ausführt, die Nichterweiterbarkeit von „Abend“ beruhe auf der Nichtprojektivität, so ist das rein tautologisch, denn die Nichtprojektivität besagt ja nur, daß „Abend“ hier keinen Phrasenkern bildet. „Wer für Wiedereinführung der Kleinschreibung optiert, muss die Nichtnominalität also anders begründen, etwa nachzuweisen versuchen, dass der lexikalisch-paradigmatische Bezug zum nominalen Lexem „Abend“ auszuschließen ist.“ (273) Wer wird einen solchen Bezug ausschließen wollen! Aber erstens beweist er nichts, und zweitens verteilt Gallmann die Beweislast in unzulässiger Weise: Die Kleinschreibung ist ja die seit langem gültige Schreibweise, und Gallmann selbst ist es, der die Großschreibung und damit eine Änderung will; damit trägt er die Beweislast für die Notwendigkeit dieser Änderung. Wo kommen wir hin, wenn die Beibehaltung der üblichen Orthographie begründet werden muß! Wenn er fortfährt: „Mit ist keine einleuchtende Argumentation dieser Art bekannt“, – so darf man ihn vielleicht an seine eigene Argumentation von 1991 erinnern, wo er die Nichtsubstantivität nachgewiesen hat:
„Es handelt sich nicht um eine reguläre Flexionsform von „Abend“, da sie keinen Kasus aufweist; nominale Lexeme haben sonst nur kasusbestimmte Flexionsformen. Duden IV (1984:348) betrachtet das Wort als Adverb. Ist es gleichwohl zum Lexem „Abend“ zu stellen?“ (1991:270)
Damals war er also keineswegs so sicher, sondern erwog die substantivische Deutung nur als Möglichkeit.
Verbzusätze haben mit den genannten „Adjunkten“ gemein, daß es schwer oder unmöglich ist, ihnen eine Wortart (aus dem herkömmlichen Repertoire) zuzuweisen.
Bei Verbzusätzen wie „maß-" in „maßhalten“ argumentiert Gallmann analog wie bei „abend/Abend“: „Da X nicht projiziert, also ein Kopfadjunkt ist, muss seine Wortart lexikalisch-paradigmatisch bestimmt werden.“ Das heißt, einfacher ausgedrückt: Man muß im Wörterbuch suchen, welches gleichlautende Wort semantisch hinreichend ähnlich und zugleich seiner Wortart nach einfacher zu bestimmen ist. Er kommt auf „das Maß" und folgert, auch in „maßhalten“ handele es sich um dieses Substantiv, folglich müsse groß geschrieben werden. Diese etwas naiv anmutende Denkfigur beherrscht auch Gallmanns Beitrag in Augst et al. und tritt auch dort in so gelehrter Verkleidung auf, daß man gar nicht erst zu fragen wagt, warum überhaupt den noch wenig erforschten Verbzusätzen eine der herkömmlichen Wortarten zugeschrieben werden „muss“. Der vage Begriff der „Zuordnung“ zu einem Lexem tritt auch schon in Gallmanns Beitrag von 1991 auf und kontrastiert seltsam mit der sonstigen um Präzision im Sinne formaler Grammatikmodelle bemühten Ausdrucksweise.
Der Beispielsatz „Durch die Wand hindurch sickert Wasser“ (277) enthält nicht das Partikelverb „hindurchsickern“, sondern das einfache „sickern“; das Adverb gehört zur Phrase „durch die Wand hindurch“. Dieselbe Fehldeutung war schon im „Handbuch“ zu kritisieren (vgl. meinen „Kritischen Kommentar“). Richtig ist dennoch die Einsicht, daß es Verbzusatzphrasen gibt, sie lassen sich jedoch durch bessere Beispiele belegen: „Kannst du mich mit zur Gießerei nehmen?“ usw. (Hier ist zweifelsfrei „mitnehmen“ gemeint und nicht „nehmen“.)
Unter den „abstrakten Inkorporationen“ führt G. das sog. „Splitting“ an und gibt folgendes Beispiel:
[Krawatten] trägt er [nur rote t]
Das t bedeutet eine „Spur“ (trace), die das nach vorn gerückte Substantiv angeblich hinterlassen hat. Die Analyse von Splitting und „Floating“ wurde eine Zeitlang in der generativen Grammatik gepflegt, bis man erkannte, daß sie nicht richtig sein kann. In dem Satz „Zigaretten gab es kaum noch welche“ kann „Zigaretten“ nicht an der Stelle stehen, von der es angeblich weggerückt worden sein soll: "*Es gab kaum noch welche Zigaretten“. Man muß vielmehr annehmen, daß der vorangestellte Ausdruck eine betonte Thematisierung ausdrückt und danach ein pronominaler Ausdruck verwendet wird, kein Determinator oder Quantor. Daß man eine solche Umformung manchmal vornehmen kann, ist Zufall.
Auch die „Extraktion“ (sonst auch „Fernattribut“ genannt) ist nicht durch zwingende Beispiele belegt:
[Für Süßes] zeigt er [eine große Vorliebe t]
Man kann nämlich dem gesamten Komplex „eine große Vorliebe“ zeigen die entsprechende Valenz zuschreiben („für etwas“). Immerhin gibt es eine solche Gliederungsverschiebung zwischen Attribut und Ergänzung.
Auch die Analyse des nicht ganz unproblematischen
Fisch frisst unsere Katze nur frischen Hering
ist nicht recht einleuchtend: „Die Nomen-Verb-Verbindung „Fisch fressen“ selektiert hier das direkte Objekt „frischen Hering“; dabei ist „frischer Hering“ eine Spezifizierung von „Fisch“. (Man beachte, dass „Fisch“ in der Topik-Position steht, also als phrasal angesehen werden muss.)" (S. 289)
Die Topik-Position ist aber wesentliche Voraussetzung des ganzen, mit der herkömmlichen Satzgrammatik kaum analysierbaren Gebildes. Man kann eben nicht sagen: „Unsere Katze frißt Fisch nur frischen Hering“. Folglich „selektiert“ die Nomen-Verb-Verbindung auch nicht das Objekt „frischen Hering“.
G. zitiert das authentische Beispiel
Achtachser sind nur die Wagen 101-107 vorhanden
Dieser Satz ist mit Gallmanns Satzgrammatik nicht konstruierbar. Es gibt keine Position, von der der Ausdruck „Achtachser“ wegbewegt worden sein könnte, keine Attributextraktion und keine Nomen-Verb-Verbindung mit veränderter Valenz. Paraphrasieren könnte man (wie in allen solchen Beispielen): „Was Achtachser betrifft, sind nur ... " Das ist allerdings keine grammatische Analyse.
Einige Überlegungen zur Inkorporation sind in meinen Augen dadurch beinträchtigt, daß G. einen zu rigiden Maßstab an die Korrektheit gewisser Konstruktionen anlegt. So hält er für nicht normgerecht:
„Zeitung hat Andrea noch nicht gelesen.“
Korrekt sei vielmehr:
„Zeitung gelesen hat Andrea noch nicht.“
Das entspricht aber nicht dem tatsächlichen Gebrauch.
Die neue Großschreibung von „jdm. Freund sein“ hält er offenbar für gut begründet, wie seine etwas verwunderte Fußnote andeutet: „Die Fügung „Freund sein“ wurde in der Rechtschreibung von 1901 im Gegensatz zur Fügung „Herr werden“ kleingeschrieben.“ (288)
In Beispielen wie „Auf diesen Vorfall nehme ich [keinen direkten Bezug]" (289) spricht G. mit einem gewissen Recht von einer oszillierenden Zuordnung zwischen Phrase und Kopfadjunkt, was sich auch an schwankender Negation („kein“ oder „nicht“) zeige. Man könnte noch hinzufügen, daß die attributive Auffassung fragwürdig ist, wenn dann dem Verb etwas zu fehlen scheint:
„Keinen direkten Bezug auf diesen Vorfall nahm ich.“
Will man hier nicht mit doppelter Vorfeldfüllung rechnen, muß eine einzige attributiv erweiterte Ergänzung angenommen werden: „Was nahm ich? Keinen direkten Bezug auf diesen Vorfall“ – das ist etwas befremdlich.
Vabanque hält Gallmann wie die anderen Reformer offenbar für ein Spiel wie Skat oder Roulette, weshalb er die neue Großschreibung („Vabanque spielen“) nicht kritisch kommentiert, sondern als Inkorporation eines Objekts – als Rückbildung aus dem Kompositum „Vabanquespiel“ – sogar noch rechtfertigt (298).

Literatur:
Gallmann, Peter (1991): „Wort, Lexem und Lemma“. In: Augst, Gerhard u. Burkhard Schaeder (Hg.): Rechtschreibwörterbücher in der Diskussion. Frankfurt u. a., S. 261-280.
Ickler, Theodor: Kritischer Kommentar zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung. 2. Aufl. Erlangen, Jena 1999.

– geändert durch Theodor Ickler am 22.05.2001, 17:41 –
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Th. Ickler

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