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St. Galler Tagblatt
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Sigmar Salzburg
24.09.2015 13.01
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Tagblatt Online

PODIUM
Rechtschreibreform – eine ernüchternde Bilanz
[Bild Mario Andreotti]

Zehn Jahre nach der Einführung der neuen Rechtschreibung ist die Bilanz dieses obrigkeitlichen Gewaltaktes an der Sprache ernüchternd. Die mehrere Milliarden teure Rechtschreibreform, von der sich Bildungspolitiker und Lehrer eine Vereinfachung der deutschen Orthographie erhofften, hat in Wirklichkeit nichts vereinfacht. Im Gegenteil: In den Schulen hat die Neuregelung die Fehlerquote nahezu verdoppelt und niemand wird behaupten können, das liege nur an der Gleichgültigkeit der Schüler. Ausgerechnet die Bildungspolitiker haben Lehrern und Schülern gegenüber den Eindruck vermittelt, Rechtschreibung sei nicht wichtig, Zeichensetzung weitgehend dem eigenen Stilempfinden überlassen. Inzwischen werden sie die Geister, die sie riefen, nicht mehr los und müssen feststellen, dass Schüler am Ende ihrer Schulzeit die einfachsten orthographischen Regeln nicht beherrschen.

Sprache verliert Feinheiten

Was bedeutende Sprachwissenschafter von Anfang an befürchteten, ist eingetreten. Die Rechtschreibreform hat ausgerechnet in einer Zeit, in der Gleichmacherei auf allen Ebenen eingesetzt hat, zu einer sinnentstellenden Entdifferenzierung der Sprache geführt. Das gilt besonders für die Gross- und Kleinschreibung und für die Getrennt- und Zusammenschreibung.

Viele der feinen Unterschiede sind hier sprachlich geradezu planiert worden. So wird in der neuen Rechtschreibung zwischen wörtlicher und übertragener Bedeutung nicht mehr unterschieden, wissen wir beispielsweise nicht, wie der folgende Satz «Er tappte im Dunkeln» wirklich gemeint ist. Und so bleibt auch der Satz «Die Leute sind stehen geblieben» insofern unklar, als nicht hervorgeht, ob sie Halt gemacht haben oder weiterhin standen. In der alten Rechtschreibung wurde hier klar unterschieden, indem man im ersten Fall die beiden Verben zusammen, im zweiten getrennt schrieb.

Solch feine sprachliche Unterscheidungen seien im Alltag unnötig; zudem gehe es darum, den Schülern das Schreibenlernen zu erleichtern, heisst es dann beschwichtigend. Doch dürfte es kaum einen erfahrenen Lehrer geben, der behaupten würde, die neuen Regeln hätten das Schreiben vereinfacht.

Und seit wann ist es Aufgabe der Schule, den Kindern vorzugaukeln, dass Lernen ohne Anstrengung zu bewältigen sei? Es handelt sich wohl eher um einen pseudopädagogisch verbrämten Betrug und um Sprachideologie. Denn ursprünglich stand hinter der Reform eine kleine Gruppe von Linguisten, denen es darum ging, vor allem bildungsferne Volksschichten vom Joch der Regeln, wie sie meinten, zu befreien. Aber das Gegenteil ist eingetreten: Die Rechtschreibreform hat das sprachliche Unvermögen vieler Bildungsferner nicht etwa bemäntelt, sondern noch greller vor Augen geführt.

Niemand mehr weiss, was gilt

An den Schulen wird heute eine reformierte Rechtschreibung unterrichtet, die im Alltag kaum jemand anwendet. Weder Zeitungen noch Sachbücher haben zum Beispiel die neue Kommaregelung übernommen. Nur in den Schulbüchern findet sie Anwendung. Auch die Kleinschreibung fester Begriffe (erste Hilfe, schwarzes Brett) wird ausserhalb der Schule kaum befolgt, obwohl die neuen Regeln sie vorschreiben. Andere Neuschreibungen werden praktisch ignoriert: Spagetti und Jogurt sind nirgends zu kaufen.

Zu dieser Kluft zwischen Regelwerk und Schreibwirklichkeit tritt eine Aufsplitterung der Rechtschreibung in unterschiedliche «Hausorthographien». So hat etwa die «Zeit» eine eigene Regelung entworfen, die weder mit der neuen noch mit der alten Rechtschreibung übereinstimmt. Die «Neue Zürcher Zeitung» wendet nur die Hälfte der neuen Regeln an. Kurz und gut: Die Einheit der Rechtschreibung, auf der Orthographischen Konferenz von 1901 mühsam erkämpft, ist einem Schreibchaos gewichen und wird sich auf der Grundlage der Neuregelung nicht wiederherstellen lassen.

tagblatt.ch 17.9.2015

Mario Andreotti (* 9. Juli 1947 in Glarus) ist Hauptlehrer an der Kantonsschule St. Gallen und Lehrbeauftragter für öffentliche Vorlesungen für Sprach- und Literaturwissenschaft an der Universität St. Gallen. (Wikipedia)

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Sigmar Salzburg
05.06.2009 16.54
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Schweiz

Rechtschreibung – Experten fordern Notbremse

ZÜRICH. Gemse oder Gämse? Aufwändig oder aufwendig? Eigentlich sollten die neuen deutschen Schreibweisen in den Schweizer Schulen ab den Sommerferien definitiv gelten. Aber die Schweizer Orthographische Konferenz (SOK) will die Notbremse ziehen.


Die SOK ruft die politisch Verantwortlichen in Bund und Kantonen eindringlich auf, die Rechtschreibereform in den Schulen nicht wie geplant am 1. August 2009 notenwirksam werden zu lassen. „Das amtliche Regelwerk von 2006 und die vorhandenen Lehrmittel sind widersprüchlich und mit Fehlern behaftet“, heisst es in einer SOK-Resolution.

Die Resolution wurde an einer SOK-Tagung in Zürich einstimmig gefasst. An der Tagung nahmen Sprachwissenschafter, Chefredaktoren, Korrektoren, Verleger, Lektoren, Schiftsteller sowie Politiker und Mitglieder des Rats für deutsche Rechtschreibung teil. Zugegen waren auch Gäste aus Deutschland und Österreich.
In der Resolution machen die Teilnehmer ihrer Unzufriedenheit mit dem mittlerweile dritten amtlichen Regelwerk Luft. „Der Rat für deutsche Rechtschreibung packt die anstehenden Verbesserungen nicht zügig genug an.“

Die SOK fordert ein Moratorium für Schule und Verwaltung. Die alten herkömmlichen Schreibweisen müssten wieder anerkannt werden. Auf die Bevorzugung der neuen Schreibweisen sei zu verzichten. Die SOK erklärt sich bereit, bei einer Überarbeitung des Regelwerks 2006 für schweizerische Bedürfnisse mitzuwirken. (sda)

Freitag, 5. Juni 2009, 18.07 Uhr
St.Galler Tagblatt

tagblatt.ch

[Ähnlich Bieler Tagblatt u.a.]

Drei Jahre längere Bedenkzeit für die Schweiz. Bei uns hatte die seinerzeitige KMK-Präsidentin Erdsiek-Rave weitere nötige und mögliche Korrekturen schon 2006 abgewürgt.

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Norbert Lindenthal
20.06.2008 08.06
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Seit zwölf Jahren foppt Deutschland alle, die Deutsch sprechen und schreiben

Hintergrund
St. Galler Tagblatt Freitag, 20. Juni 2008

Das grosse Durcheinander: Was ist richtig, was ist falsch? Die Rechtschreibreformen haben viele Schreibende bloss verunsichert.
Bild: ky/Caro

«Er schmirbt myn Grind mit Anken»

Die Rechtschreibreform hat zu einem Durcheinander geführt – Die Einheit ist weit weg

Deutschland lacht ab und zu über die Deutschschweiz. Beim Fussball steckt man's (manchmal) ein, aber wenn es um die Sprache geht? Wie das wundervolle Lexikon des Schweizerdeutschen, das Idiotikon, berichtet, wurden im 17. Jahrhundert ein Zürcher und ein Basler in Nürnberg gefoppt, die groben Schweizer beteten Psalm 23 so: «Er schmirbt mir myn Grind mit Anken.» Der Nürnberger Witz ist gewiss nicht schlecht. Zwingli freilich übersetzte: «du machst min houbt feisst mit öl», und das ist doch genauso gut wie Luthers «Du salbest mein Heubt mit oele».

«Aus Gründen der Staatsräson»

Seit zwölf Jahren foppt Deutschland alle, die Deutsch sprechen und schreiben, mit einem Unternehmen, das sich Rechtschreibreform nennt. An der Ausarbeitung waren zwar einige Schweizer massgeblich beteiligt, aber dass die sogenannte neue Rechtschreibung ungeprüft eingeführt, nur zögernd verbessert und bis heute in wesentlichen Bereichen im Zustand der Fehlerhaftigkeit belassen wurde, das verdanken wir deutschen Politikern, welchen die Staatsräson, das heisst ihr eigenes Ansehen, über alles geht. So sprach die Präsidentin der Kultusminister: «Die Kultusminister wissen längst, dass die Rechtschreibreform falsch war. Aus Gründen der Staatsräson ist sie nicht zurückgenommen worden.»

Der Rat für Rechtschreibung verbesserte manches, er schaffte etwa das reformierte es tut mir Leid wieder ab. Dann aber fügte er sich der deutschen Innenpolitik und stellte die Arbeit ein. Das Regelwerk, das er vor zwei Jahren vorlegte, ist ein Regelwerk der falschen Varianten. Hatten zum Beispiel die Reformer das alte Wort wohlbekannt vernichtet, indem sie es in seine Teile wohl und bekannt auflösten, so anerkennt der Rat die Zusammensetzung wieder, aber nur als Variante: Der wohl bekannte Schriftsteller soll dasselbe sein wie der wohlbekannte Schriftsteller. Das ist falsch.

Was hat demgegenüber die Arbeitsgruppe der Schweizer Orthographischen Konferenz (SOK) zu bieten? Mit ihren Empfehlungen (siehe http://www.sok.ch) setzt sie die Verbesserungen des Rates um, klärt den Irrtum mit den Varianten auf und führt in einigen Bereichen weitere Verbesserungen durch.

Um zu zeigen, dass diese Empfehlungen notwendig sind, beleuchte ich die Lage der öffentlichen Verwaltung und der Schule. Abgrund, tue dich ruhig auf! Die SOK hält Rettungsseile bereit.

Rechtsunsichere Bundeskanzlei

Unsere Bundeskanzlei folgt dem Rat für Rechtschreibung in den Sumpf der Varianten und Unklarheiten. Gemäss dem Leitfaden zur Rechtschreibung, der soeben neu erschien, schreibt Bern nun vieles, was bis vor kurzem getrennt war, wieder zusammen, vieles aber sowohl getrennt als auch zusammen: kostendeckend aber Kosten sparend oder kostensparend, selbstgenutzt aber selbst bestimmt / selbstbestimmt, asylsuchend aber Arbeit suchend / arbeitsuchend. Folge: Unter Umständen werden zentrale Begriffe unterschiedlich geschrieben, und das führt zu Auslegungsproblemen. Erlaubt man Frau Meier, sich auch Mair, Mayer oder Meyer zu schreiben, weiss man nicht, wer gemeint ist.

Was tun? Die Kanzlei will von Fall zu Fall «kreative» Lösungen finden; «kreativ» setzt sie selber in Anführungszeichen. Sie wird Rücksprache mit dem federführenden Amt und der parlamentarischen Redaktionskommission nehmen. Nun muss ich zitieren: «Notfalls – wenn gar kein Weg gangbar erscheint – muss die korrekte Rechtschreibung hinter der Rechtssicherheit zurückstehen.» Was heisst das? Die Bundeskanzlei hat eine Rechtschreibung gewählt, welche ihren Zweck nicht erfüllt und die Rechtssicherheit gefährdet.

Falsches Prinzip

Beim Sprechen und Schreiben gibt es ein Prinzip, das alle anderen schlägt: «Drücke dich klar und unzweideutig aus!» Wer vielversprechend meint, schreibt nicht viel versprechend, und wer seinen Satz sinnvoll gliedern will, lässt ein Komma nicht einfach weg. Die Sprache entwickelt sich; Zwingli und Luther brauchten sie anders als wir. Aufgabe der Grammatiker und Wörterbuchmacher ist es, das zu erfassen und darzustellen, was zur Zeit gebräuchlich ist. Der Grundfehler der Reformer besteht darin, dass sie das Gebräuchliche und Verständliche ihren angeblichen Vereinfachungen opfern.

Schule im Abseits

Ist im folgenden Satz das doppelte Komma nötig: Olga hat die Idee, schnell ein Bier zu trinken, stets behagt? Der Rat für Rechtschreibung sagt ja, nein sagen Claudia Schmellentin und Thomas Lindauer in ihrem Buch «Die wichtigen Rechtschreibregeln» (2007). Die beiden müssten es besser wissen, sie sind Mitglieder des Rates. Alle Schweizer Lehrmittel werden von ein und derselben Gruppe betreut. Es sind die Professoren Horst Sitta und Peter Gallmann, Reformer der ersten Stunde, und ihre akademischen Schüler. Sie führen die Schule dreifach ins Abseits, erstens, indem sie das weitergeben, was der Rat für Rechtschreibung nicht verbessert hat, zweitens, indem sie nicht weitergeben, was der Rat verbessert hat, drittens mit eigenen Fehlern.

Im Schweizer Schülerduden (2006) gilt immer noch der Grundsatz, möglichst viel getrennt zu schreiben; das alte Wort wiedersehen gibt es nicht. Klassisch ist der Satz, mit dem Schmellentin und Lindauer den Reformfehler es tut mir Leid zurücknehmen: «Ein Sonderfall bildet leid bzw. Leid.» Verbindlich für Lehrkräfte ist das «Handbuch Rechtschreiben» von Gallmann und Sitta. Wer es heute kauft, bekommt die unveränderte erste Auflage (1998), in der Seite um Seite Regeln begründet werden, die es längst nicht mehr gibt. Die Reformer nehmen die Schule nicht ernst. Oft wird gefragt, ob man nicht deswegen reformiert schreiben müsse, weil die Schule es muss. Die Antwort ist nein. Die Schüler brauchen nicht Erwachsene, die aus Solidarität ihre Fehler mitschreiben, sie brauchen verantwortungsbewusste Anleitung.

Untertan und Obrigkeit

Schlagen wir nochmals die Bibel auf. Im Römerbrief heisst es: «Jedermann sei den vorgesetzten Obrigkeiten untertan.» Der Satz ist gefährlich, und mir gefällt ein anderer aus dem Epheserbrief besser: «Ihr Väter, reizet eure Kinder nicht zum Zorn!» In unserem Zusammenhang bedeutet das: «Ihr Amtsträgerinnen und Amtsträger, regelt nur das, wofür ihr zuständig seid!»

Nach zwölf Jahren der Reform ist das Durcheinander grösser als je und die Einheit der Rechtschreibung weit weg. Der Weg zur Einheit führt über die Sprachrichtigkeit. Die SOK weist diesen Weg, und auch die öffentliche Verwaltung und die Schule werden ihn gehen, sofern man sie rücksichtsvoll anleitet.

Die Empfehlungen der SOK verdienen Vertrauen.

Stefan Stirnemann

Stefan Stirnemann ist Gründungsmitglied der Schweizerischen Orthographischen Konferenz (SOK) und Mitglied des Sprach- kreises Deutsch. Er unterrichtet Latein am Gymnasium Friedberg in Gossau.

Rechtschreibreform Nun hat die zunehmende Unsicherheit um die Dauer-Baustelle Rechtschreibreform auch jene Bereiche erfasst, denen sie durch Vereinfachung nützen wollte: der Schule und der öffentlichen Verwaltung. Die permanente «Reform der Reform» überfordert auch die anfangs gutwilligen Lehrkräfte – und gefährdet in Einzelfällen sogar die Rechtssicherheit.

Die SOK und die Schule
Nachfolgend eine Stellungnahme aus dem Dachverband Schweizer Lehrkräfte (LCH). Anton Strittmatter, Mitglied der Geschäftsleitung, schreibt: «Ich finde es gut, wenn die Leitmedien Standards setzen. Denn ihnen ist als tägliches Brot die pragmatische, verständliche Kommunikation für ein breites Volk aufgegeben. Die können sich weder eine Rechtschreibverluderung noch einen dünkelhaft-germanistischen Volksbelehrungsstil leisten. Sonst werden sie einfach nicht mehr gekauft. Ich misstraue in dieser Sache allen Berufs-Korrekten: Den Sprachwissenschaftern im universitären Eitelkeitsturm (die ja bei jeder Reform ein mieses, zerstrittenes Bild abgeben) ebenso wie auch der Sorte Lehrer, welche einzig den eindeutigen Rotstiftgebrauch suchen. Die vernünftige Mehrheit der Lehrerinnen und Lehrer dürfte sich letztlich an der Schreibweise der seriösen Leitmedien orientieren – und kämpft überdies, zumindest auf Volksschulstufe, mit ganz anderen Problemen.»

http://www.sok.ch

Die neue Rechtschreibung im Test
Der Rat für Rechtschreibung rät – raten Sie mit!

1) Bombay setzt im Kampf gegen Menschen jagende Leoparden auf Schweine. So titelte eine deutsche Agentur. Gemeint sind menschenjagende Leoparden, wie man sich zurechtreimen kann.

2) Der St. Galler Stiftsbibliothekar und seine Mitarbeiter sind nach harter Arbeit «verschwitzt, gräulich verstaubt, ausser Atem» (Thomas Hürlimann, «Fräulein Stark»). Der Rat für Rechtschreibung will, dass nicht nur gräulich (ein wenig grau), sondern auch greulich (entsetzlich) mit ä geschrieben wird. Hürlimann meint die Farbe des Staubes, aber das muss man nun erraten.

3) Einige individuelle Interventionen sind wohl bekannt geworden (Saul Friedländer, Historiker). Aber er war sich ihres Ranges wohl bewusst (Reiner Kunze über den Lyriker Huchel und seine Gedichte). Was ist gemeint, wenn wohl bekannt eine Variante zu wohlbekannt ist? Man rate!

4) Das 19. Jahrhundert schrieb gross: Jeder, die Beiden, vor Allem, Nichts. Kennzeichen der modernen Rechtschreibung ist der kleine Buchstabe. Der Rat für Rechtschreibung will, dass wir uns die klobigen Zylinder des 19. Jahrhunderts wieder aufsetzen, allerdings nur einige. Welche? Da muss man raten: am besten, auf das Freundlichste / freundlichste, nicht im Geringsten, nicht im Mindesten / mindesten, im Allgemeinen, bei Weitem / weitem, des Weiteren, vor allem, zum einen, zum Ersten, ein paar Mal / paarmal, jedes Mal, dieser, Letzterer, die beiden, die Ersten. (St.)

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Norbert Lindenthal
10.01.2008 08.30
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Die Rechtschreibreform hat mehr Probleme geschaffen als beseitigt.

St. Galler Tagblatt Dienstag, 8. Januar 2008

Die Rechtschreibreform hat mehr Probleme geschaffen als beseitigt.
Bild: Ralph Ribi
Schreiben für die Lesenden

Die neue Rechtschreibung erschwert das Lesen, meint Peter Müller, Beauftragter für Rechtschreibung der SDA. Er ist Mitglied der Schweizer Orthographischen Konferenz, die in der Deutschschweizer Presse wieder eine sprachrichtige und einheitliche Rechtschreibung etablieren will.

Die verunglückte Rechtschreibreform hat zahlreiche Probleme hinterlassen. Zwei sind für unsere Branche besonders gravierend: die Erschwerung des Lesens und die Vervielfachung der Varianten.

Das ist ein fataler Ansatz in einer Zeit, in der das Lesen und die Zeitungen in der Defensive sind. Gefordert ist vielmehr, dem Leser den Zugang zu den Texten möglichst zu erleichtern. Das kann auf verschiedene Weise geschehen: durch einfach gebaute, kurze Sätze, durch Vermeiden unnötiger Fremdwörter, aber auch durch eine Rechtschreibung, die Bedeutungsunterschiede durch Unterscheidungsschreibung kennzeichnet.

Der neue Rat für deutsche Rechtschreibung sollte in der Folge den von der Zwischenstaatlichen Kommission angerichteten Schaden begrenzen. Die Konferenz der Erziehungsdirektoren EDK entsandte allerdings wiederum die bisherigen Mitglieder der aufgelösten Kommission, alles Hardliner der Reform, in den neuen Rat. Es kam, wie es kommen musste: Parallel zu den neuen formalistischen wurden auch die Schreibweisen der bisherigen semantischen (bedeutungsdifferenzierenden) Rechtschreibung wieder erlaubt, aber ohne die Bedeutung zu differenzieren! Das Resultat, die Regelung 06, ist ein heilloses Durcheinander: wohl bekannt kann nun auch wieder wohlbekannt geschrieben werden, soll aber das gleiche bedeuten.

Verfahrene Situation

In dieser verfahrenen Situation formierte sich 2006 die Schweizer Orthographische Konferenz (SOK), mit dem Ziel, in der Deutschschweizer Presse wieder eine sprachrichtige und einheitliche Rechtschreibung zu etablieren. Eine aus Sprachwissenschaftern und Praktikern zusammengestellte Arbeitsgruppe der SOK erarbeitete Empfehlungen.

Zunächst war die Variantenflut einzudämmen. Dies geschieht ganz einfach durch die Anwendung des Grundsatzes «Bei Varianten die herkömmliche». Die herkömmliche Variante ist sowohl aus Duden wie Wahrig leicht zu eruieren, da die von der Reform vorgenommenen Änderungen farbig gedruckt sind.

Als Varianten bezeichnet die SOK jedoch unterschiedliche Schreibweisen, die das gleiche bedeuten. Wenn mit der unterschiedlichen Schreibweise ein Bedeutungsunterschied ausgedrückt werden kann, sind das keine oder unechte Varianten. Die SOK empfiehlt, in diesen Fällen den Bedeutungsunterschied kenntlich zu machen.

Bei ihrer Arbeit zur Eindämmung der Varianten und Wiederherstellung der Unterscheidungsschreibung hat die SOK Empfehlungen zu weiteren Unzulänglichkeiten der Regelung 06 erarbeitet. Dabei handelt es sich um willkürliche Änderungen, offensichtliche Fehler, Komplizierungen und die Missachtung des Schweizer Usus.

E oder ä?

Die von e auf ä geänderten Schreibweisen (Gämse) sind willkürlich herausgepickt. Mit der gleichen Begründung der «Stammschreibung» hätte man auch belägt (wegen Belag), dänken (wegen Gedanken), ädel (wegen Adel), Spängler (wegen Spange) und Dutzende, wenn nicht Hunderte weiterer Wörter verändern können.

Ähnlich bei den Einzelfallregelungen wie Ass, Tipp und Mopp; verdoppelt man hier den auslautenden Konsonanten, so müsste man dies auch bei Flopp, Tripp, Hitt, fitt und anderen machen.

Die SOK empfiehlt deshalb, diese geänderten Schreibweisen nicht zu beachten.

Gross oder klein?

Bei den Angaben von Tageszeiten empfiehlt die SOK: Die Bezeichnungen der Tageszeiten werden in Verbindung mit heute, gestern, morgen oder, wenn sie neben dem Namen eines Wochentags ohne Artikel stehen, klein geschrieben: heute abend, gestern vormittag, morgen mittag, vorgestern nacht, übermorgen mitternacht; Dienstag morgen, Freitag mittag, Sonntag nacht. Steht der Artikel vor dem Tagesnamen, so wird die Verbindung zusammengeschrieben: ein Sonntagabend, der Dienstagmorgen, der Montagnachmittag, in der Freitagnacht. Geht der Fügung eine mit dem Artikel verschmolzene Präposition (am, zum) oder bis voraus, so sind je nach Betonung beide Schreibweisen richtig: am Mittwochmorgen/Mittwoch morgen, bis Freitagabend/Freitag abend.

Komplizierungen auch bei der Gross-/Kleinschreibung. Die Grossschreibung der Substantive ist eine Errungenschaft des Deutschen. Sie ist eine Lesehilfe, die ad absurdum geführt wird, wenn Unwichtiges gross geschrieben werden muss.

Unnötiger Bindestrich

Die herkömmliche Regelung ist bestechend einfach, es ist unnötig, Ziffer und Buchstabe mit einem Bindestrich zu trennen: 19jährig, 32stel, 2fach, 90er, 90mal. Die Regelung 06 sieht einen schwer lernbaren Mischmasch vor: 19-jährig, 32stel, 2fach/2-fach, 90er, 90-mal.

Die Regelung 06 nimmt bei der Schreibweise von Fremdwörtern ungenügend auf unseren Usus Rücksicht. Als Grundsatz und wo anwendbar gilt der SOK: bei fremder Aussprache fremde Schreibweise.

Foto und Telefon

Bei der ph/f-Schreibung empfiehlt sie die einfache Regel, Foto, Fotograf, Grafik, Telefon und Telegraf und deren Ableitungen mit f zu schreiben, alle andern Wörter mit den Stämmen phot-, phon- und graph- jedoch nicht.

In festen Redewendungen vom Typ im dunkeln tappen ist eine klare Entscheidung für Gross- oder Kleinschreibung in der Tat nicht immer möglich. Die SOK empfiehlt daher, die Schreibweise dem Schreiber zu überlassen und damit auch hier die Regelung 06, die Grossschreibung verlangt, nicht anzuwenden.

Die SOK empfiehlt, bei Verbindungen mit -mal wie in der herkömmlichen Rechtschreibung die Betonung über die Schreibweise entscheiden zu lassen: Du hast mir nicht ein Mal geschrieben! bedeutet etwas anderes als Du hast mir nicht einmal geschrieben!

In weiteren Fällen verzichtet die SOK auf eine Empfehlung: bei der t/z-Schreibung (potentiell/potenziell), bei einzelnen Fremdwörtern (circa/zirka, Disc/Disk) sowie bei Alptraum/Albtraum. Für Alb- spricht die Etymologie, es geht wie Elfe, Alraun, Alberich auf althochdeutsches alb, die Bezeichnung des Nachtmahrs, zurück (Walter Heuer, Deutsch unter der Lupe). Für Alp- spricht die Aussprache (Auslautverhärtung).

Peter Müller ist Direktor Marketing & Informatik der Schweizerischen Depeschenagentur (SDA). Er ist Leiter der Arbeitsgruppe deutsche Rechtschreibung der SDA und Mitglied der Arbeitsgruppe Schweizer Orthographische Konferenz.

Woran sich unser Blatt orientiert
Sprache ist die Grundlage jeder Zeitung. Wir bemühen uns um eine klare Ausdrucksweise, um Verständlichkeit und gute Lesbarkeit. Dabei vermeiden wir möglichst Jargon, Modewörter und auch Fremdwörter.

Schreiben muss aber auch Regeln folgen – die jedoch immer wieder neu gefasst und gestaltet werden. Die Rechtschreibereform der letzten Jahre hat allerdings mehr Unsicherheiten geschaffen als beseitigt.

In dieser Situation hält sich unsere Zeitung an die Empfehlungen der Schweizer Orthographischen Konferenz. (s. o.)

Grundlage für die Arbeit der Redaktion ist zudem ein Vademecum, das von der speziell eingesetzten Arbeitsgruppe Rechtschreibung erarbeitet wurde. Es fasst die allgemeinen Regeln zusammen, listet einheitliche Schreibweisen auf für Eigennamen (zum Beispiel für arabische oder chinesische Personennamen), für Abkürzungen, Fremdwörter und geographische Begriffe, und es hält ressortspezifische Schreibungen und Regeln fest.

Dieses Vademecum versteht die Redaktion als Arbeitsgrundlage, die aber ständig angepasst, erweitert und ergänzt werden muss. Wie rasant sich gewisse Schreibmoden ändern, lässt sich an Namensschreibungen erkennen, die teils eher der Originalität als der Lesefreundlichkeit verpflichtet sind (iPod oder eBay) – hier den Mittelweg zwischen Originalschreibung und Korrektheit bzw. Leserdienlichkeit zu finden, ist nicht immer einfach.

Sprache und Rechtschreibung unterliegen zwar Veränderungen. Oberstes Gebot ist und bleibt aber die Verständlichkeit für die Lesenden. (red.)


Aufwendig statt aufwändig
Die Schweizer Orthographische Konferenz (SOK) empfiehlt:


• Bei Varianten die herkömmliche verwenden:

aufwendig (nicht: aufwändig)
aufs äusserste gespannt sein (nicht: Äusserste)
recht haben (nicht: Recht)
hochachten (nicht: hoch achten)
wie war's, wie hältst du's (nicht: wars, dus)
selbständig (nicht: selbstständig)


• Bedeutungsdifferenzierungen beachten:

wohl durchdacht / wohldurchdacht
viel versprechend / vielversprechend
deutsch-schweizerisch /
deutschschweizerisch


• Die Wechsel von e auf ä und andere Änderungen in Einzelfällen nicht beachten:

Stengel (nicht: Stängel)
Gemse (nicht: Gämse)
Greuel (nicht: Gräuel)
behende (nicht: behände)
schneuzen (nicht: schnäuzen)
einbleuen (nicht: einbläuen)
As (nicht: Ass)
rauh (nicht: rau)
Zäheit (nicht: Zähheit, sondern wie Hoheit)
Tip (nicht: Tipp)
Stop (nicht: Stopp)


• Falsche Herleitungen und die falsche Grossschreibung bei Tageszeiten nicht beachten:

belemmert (nicht: belämmert)
Zierat (nicht: Zierrat)
Quentchen (nicht: Quäntchen)
plazieren (nicht: platzieren)
greulich (nicht: gräulich)
numerieren (nicht: nummerieren)
heute abend (nicht: heute Abend)
Dienstag morgen (nicht: Dienstagmorgen)


• Die von der Regelung verursachten Komplizierungen nicht beachten:

19jährig, der 19jährige, 2fach, 90mal (nicht: 19-jährig, der 19-Jäh- rige, 2-fach, 90-mal)
der erstere, der eine, der andere; (nicht: der Erstere, der Eine, der Andere)
im übrigen, bei weitem, aufs beste (nicht: im Übrigen, bei Weitem, aufs Beste)
Circulus vitiosus, Ultima ratio (nicht: Circulus Vitiosus, Ultima Ratio)


• Bei Fremdwörtern den Schweizer Usus beachten:

Caramel (nicht: Karamell)
Communiqué (nicht: Kommuni- qué)
Couvert (nicht: Kuvert)
Crème (nicht: Creme, Krem)
Menu (nicht: Menü)
Pole Position (nicht: Poleposition)


• In einigen Fällen die Variantenschreibung gelten lassen:

im dunkeln/Dunkeln tappen
im trüben/Trüben fischen
zum besten/Besten geben
beim alten/Alten bleiben
sich im klaren/Klaren sein
seine Schäfchen ins trockene/Trockene bringen


Verbindungen mit -mal (je nach Betonung):

einmal / ein Mal
jedesmal / jedes Mal
das erstemal / das erste Mal
zum erstenmal / zum ersten Mal


• Die SOK verzichtet auf eine Empfehlung bei folgenden Wörtern:

circa/zirka
Disc/Disk
potentiell/potenziell
Albtraum/Alptraum

http://www.sok.ch
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Norbert Lindenthal

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Norbert Lindenthal
22.06.2006 06.10
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St. Galler Tagblatt


St. Galler Tagblatt 22.6.2006

Hintergrund

Vereinfacht? Vervierfacht!

1996 sollte sie einfacher werden, zehn Jahre später ist man davon weiter entfernt denn je. Die Reform der Rechtschreibung ist zur Dauerreform geworden. Heute nun entscheidet die Erziehungsdirektorenkonferenz EDK über die letzten Änderungsvorschläge des 2004 formierten Rates für Rechtschreibung. Deutschland hat sie gutgeheissen – ein Reformkritiker nimmt Stellung / von Stefan Stirnemann

Eigentlich sollte unsere Rechtschreibung 1996 nur vereinfacht werden, stattdessen hat man sie vervierfacht. Seit Juni 2004 und Februar 2006 gibt es eine zweite und dritte Fassung der Neuregelung, und daneben steht nach wie vor die angeblich alte Rechtschreibung, der sich die neue von Jahr zu Jahr mehr annähert.

Über diese Vorgänge könnte man lachen, wenn sie nicht genau das Geld kosteten, das uns im Bildungswesen fehlt. Um zu sparen, hat der St. Galler Erziehungschef, Regierungsrat Stöckling, den Kantonsschulen Heerbrugg und Wattwil verboten, im kommenden Schuljahr das Schwerpunktfach Latein durchzuführen, ein Fach, das nach wie vor der beste Weg zu vielen geisteswissenschaftlichen Studien ist. In allen Fächern – Musik, Mathematik, Sport, Muttersprache – wird das Geld gezählt. Für immer neue Wörterbücher, Lehrmittel und Umschulungskurse dagegen fliesst es.

Im August 1996 wurden wir umgeschult und schrieben «es tut mir Leid», im Juni 2004 wurden wir umgeschult und schrieben «es tut mir Leid/leid»; seit diesem Februar schreiben wir wieder «es tut mir leid». So ist seit 1996 alles in wilder Bewegung, und nur die Verantwortlichen sind unbeweglich und behaupten tapfer, dass es nach Plan gehe, dass es keine Reform der Reform gebe und dass nur kleine Anpassungen nötig seien.

Moratorium oder nicht?
Günther Drosdowski, der als Leiter der Dudenredaktion an der Ausarbeitung der neuen Rechtschreibung beteiligt war, schrieb 1996 verbittert: «Mir erlegten Anweisungen der Kultusministerien und die Verlagsräson auf, dass ich die Reform mittrage, aber es ist nicht meine Reform.» 2006 sagte die brandenburgische Wissenschaftsministerin Wanka, die im letzten Jahr Präsidentin der Kultusministerkonferenz war: «Die Kultusminister wissen längst, dass die Rechtschreibreform falsch war. Aus Gründen der Staatsräson ist sie nicht zurückgenommen worden.» Soll die Schweiz deutscher Verlags- und Staatsräson folgen oder der Sprache und der Vernunft?

Aus unserem Erziehungsdepartement vernahm man letzthin die geistreiche Bemerkung, dass nicht die Kinder Schwierigkeiten mit den neuen Regeln hätten, sondern nur die Erwachsenen. Offensichtlich haben es die Kinder nun einfacher, während die Erwachsenen nicht umlernen wollen.

Wie einfach ist eine Rechtschreibung, in der man nach zehn Jahren nicht einmal eine einfache Prüfung abhalten kann? Seit dem letzten Sommer sind einige Teile der Neuregelung notenwirksam, und zwar in der Fassung vom Juni 2004. Diese Fassung hat bis heute noch keine Darstellung in einem Lehrmittel gefunden. Als sich in dieser unübersichtlichen Lage kurz vor der diesjährigen gymnasialen Aufnahmeprüfung eben die Schwierigkeiten zeigten, welche Kinder und Erwachsene haben, verfügte die Prüfungsbehörde, dass nochmals auch «die alten Orthografie- und Interpunktionsregeln toleriert» würden. Der Entscheid ist richtig und verantwortungsbewusst, aber er führt das Moratorium durch, das Regierungsrat Stöckling nach wie vor ablehnt. Aus Gründen der Rechtsgleichheit müssen nun natürlich auch für die Semesterzeugnisse nochmals die alten Regeln toleriert werden.

Der Rat für Rechtschreibung
Da er mit Zweidrittelmehrheit entscheidet und da die Reformanhänger die Mehrheit haben, konnte er bisher keine überzeugende Lösung vorlegen. Sehr oft mussten sich die sprachbewussten Mitglieder damit begnügen, dass die richtigen Schreibweisen als Varianten zugelassen wurden. Der auf Juli angekündigte neue Duden wird mit 3000 Empfehlungen Schneisen ins Variantendickicht schlagen. Ungünstig war auch der Einfluss der Wörterbuchverlage, welche aus Geschäftsdenken nicht zu viele Änderungen auf einmal wollen.

Frau Krome, die im Rat die Wahrig-Redaktion vertritt, schrieb in einer Stellungnahme: «Zum jetzigen Zeitpunkt sollten nur unbedingt notwendige Einzeländerungen vorgenommen werden, also solche, die in der Öffentlichkeit besonders stark diskutiert wurden.» Einige Schweizer Räte sind Mitarbeiter des Duden-Verlags. Peter Gallmann und Horst Sitta setzten sich seinerzeit in einem Brief an die Erziehungsdirektoren dafür ein, dass der Duden in der Schweiz Referenzwerk bleibt. Schweizer Räte bearbeiten auch viele unserer Lehrmittel. Sie bemühen sich nicht sehr, den jeweils neusten Stand zu bieten. Der Vorsitzende des Rats, alt Staatsminister Hans Zehetmair, missbraucht sein Amt, um dem neusten Wahrig ein rühmendes Vorwort zu geben.

Auswege
«Wohlbekannt» ist nicht dasselbe wie «wohl bekannt». Schon 1996 wies man die Reformer auf Franz Kafka hin. Am Anfang von «In der Strafkolonie» heisst es vom Offizier, der eine Hinrichtungsmaschine betreut: «Er überblickte mit einem bewundernden Blick den ihm doch wohlbekannten Apparat.» Trennt man das Adjektiv, wird der Satz zweideutig. Die Trennung war bis 2004 vorgeschrieben, der Duden empfahl sie noch 2005, im neusten Wahrig gilt «wohlbekannt» als zweitklassige Variante. Wie lange noch müssen wir mit Politikern über die Bedeutung von Wörtern streiten?

Gute Politik steht zu Fehlern. Die gezeigten Schwierigkeiten sind nicht Erscheinungen des Übergangs, sie sind Folgen planlosen Vorgehens. Deutschland muss jetzt bedeutet werden, dass noch keine tragfähige Grundlage gefunden ist. Das kostet nichts, da es keine bindenden Verträge gibt; die neue Rechtschreibung hängt politisch und juristisch in der Luft. Die Schule braucht ein Moratorium. Sie darf nicht gezwungen werden, schon wieder neue Wörter- und Schulbücher zu kaufen. Unabhängige Wissenschafter und Praktiker müssen das amtliche Regelwerk überarbeiten.

In diesen Tagen wurde unter Federführung Filippo Leuteneggers, Nationalrat und CEO der Jean Frey AG (Weltwoche), die Gesellschaft «Schweizer Orthographische Konferenz» gegründet. Sie will die Einheit der Rechtschreibung fördern. Die Erziehungsdirektoren mögen sich von Rechtschreibräten trennen, die an der Ausarbeitung der neuen Rechtschreibung beteiligt waren und an ihrer Vermarktung arbeiten. Vertrauen verdienen Fachleute, wie sie jetzt in der Schweizer Orthographischen Konferenz die Zusammenarbeit aufgenommen haben. Die Erziehungsdirektoren selbst müssen verspieltes Vertrauen wiedergewinnen.

Stefan Stirnemann ist Lehrer am Gymnasium Friedberg (Gossau) und Mitglied der Forschungsgruppe Deutsche Sprache.

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